Eine blaßblaue Frauenschrift von Franz Werfel

  • Diese Erzählung habe ich bereits vor einigen Jahren gelesen.
    Meine Ausgabe war ein Fischer-TB, das ich aber bereits weitergegeben habe und mir dafür ein HC von Werfel mit weiteren Erzählungen angeschafft.
    Auf jeden Fall gbit es aktuell mehrere Ausgaen und es ist in der neuen SZ-Bibliothek enthalten.


    Inhalt: Österreich kurz vor dem Anschluss an Hitler-Deutschland. Leonidas, Sohn eines Gymnasialprofessors blickt mit Fünfzig stolz auf sein bisheriges Leben zurück. Er hat es geschafft! Dank eines Fracks, den er durch den Selbstmord eines Kommilitonen erhält, seiner exzellenten Walzer-Linksdrehung und seiner Anpassungsfähigkeit hat er in die besten Kreise eingeheiratet und gehört nun als Ministerialbeamter zu den Mächtigen, die im Hintergrund die Fäden ziehen.
    Da erhält er einen Brief , geschrieben in einer blaßblauen Frauenschrift. Eine frühe Liebe zu einem jüdischen Mädchen, die er schon in den tiefsten Winkel seines Gedächtnisses gesperrt meint, tritt urplötzlich wieder in sein Leben. Und als der den Brief nach langem Zögern öffnet, liest, sieht er plötzlich all das von ihm Geschaffene, Erreichte in großer Gefahr.


    Meine Meinung:
    Diese kleine Erzählung ist im wahrsten Sinne eine Perle der deutschsprachigen Literatur. In einem charmanten harmlosen Plauderton kommt sie daher, diese Erzählung. Oberflächlich ein Einblick in die wirre Gedankenwelt und Taten eines arrivierten Mannes, den seine Vergangenheit einholt. Doch hintergründig für mich ein Lehrstück über Karrieremenschen, denen nur ihre eigene Behaglichkeit und ihr "Gesicht" in der Öffentlichkeit wichtig ist, das auch heute noch seine Gültigkeit besitzt.
    Obwohl ein Stück der sogenannten "Klassiker", hat diese Erzählung alles, was gute Unterhaltungsliteratur ausmacht: Witz, Spannung, Emotionen, gut lesbare Sprache, mit einem Anreiz zum Nachdenken. Unbedenklich empfehlenswert für alle, die Spaß am Lesen haben und natürlich gibt es dafür die Höchstwertung

    "Sie lesen?"
    "Seit der Grundschule, aber nur, wenn's keiner sieht."


    Geoffrey Wigham in "London Calling" von Finn Tomson

  • Das klingt wirklich toll, ich habe vor einiger Zeit die Geschwister von Neapel gelesen und war wirklich sehr angetan.
    Ein Stück wirklich lesenswerte Literatur! :-]


    Vielen Dank Dyke, ich werde mir dieses auch auf jeden Fall zulegen..


    Winkegrüße von Elbereth :wave

    “In my opinion, we don't devote nearly enough scientific research to finding a cure for jerks.”

    ― Bill Watterson

  • Diese Erzählung ist einfach wundervoll - ich habe durch die Rezi richtig Lust bekommen, sie mal wieder zu lesen.
    Erinnert ihr euch vielleicht an die Verfilmung mit:


    # Friedrich von Thun: Sektionschef Leonidas Tachezy
    # Gabriel Barylli: der jugendliche Leonidas
    # Krystyna Janda: Amélie Tachezy
    # Friederike Kammer: Vera Wormser


    Der Film ist ein seltenes Beispiel für eine gelungene Literaturadaption.
    :wave

  • Kurzbeschreibung
    Leonidas, aus kleinen Verhältnissen zum Sektionschef im Wiener Unterrichtsministerium aufgestiegen - nicht zuletzt durch die Ehe mit der reichsten Erbin der Stadt -, erhält im Herbst 1936 einen Brief von Vera Wormser. Die Tochter eines jüdischen Arztes, mit der er vor 18 Jahren, bald nach seiner Heirat, den ‘einzigen echten Liebesrausch im Leben’ erfahren hat, bittet ihn, einem Jungen zu helfen, der im nationalsozialistischen Deutschland nicht länger das Gymnasium besuchen darf.


    Ich weiß nicht, was der Autor mit dem Buch ausdrücken möchte. Liest man die Kurzbeschreibung, könnte man denke, es ginge um Nationalsozialismus. Geht es aber nicht, der Junge an sich tritt in dem Buch gar nicht auf.
    Der Protagonist ist ein Emporkömmling (nicht durch eigene Kraft, sondern das Geld seiner Frau), der zurückdenkt an eine Liebe, ihm aber letztendlich ist ihm die Sicherheit des Geldes wichtiger.


    Darin soll einen Sinn finden der will, ich habe keine Lust, mit der Lupe danach zu suchen.


    Broschiert: 154 Seiten
    Verlag: Fischer (Tb.), Frankfurt; Auflage: 17., Aufl. (Januar 1990)
    Sprache: Deutsch
    ISBN-10: 3596293081
    ISBN-13: 978-3596293087
    Größe und/oder Gewicht: 18,9 x 11,9 x 1,2 cm

  • Eine blaßblaue Frauenschrift - Franz Werfel


    Diese Novelle erschien erstmals 1941, in Buenos Aires. Der Autor, 1890 in Prag geboren und aufgewachsen, literarisch später überdies von Leipzig und Wien geprägt, war eben in den USA angekommen. Zwei Jahreszahlen, vier Städtenamen und der Name eines Kontinents verweisen hier auf ein typisches Schicksal eines Menschen aus der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts und stehen zugleich in einer direkten Beziehung zum Inhalt der Novelle.
    Einer schreibt über systematischen Antisemitismus und seine Folgen. Es ist keine beliebige Beschreibung, sie ist an aktuelle politische Ereignisse geknüpft. Der Autor kennt sie, im Detail, er ist ein Opfer eben der Entwicklung, die er schildert.


    Werfel erzählt leise. Sein Protagonist, Leonidas, hat es geschafft. Eigentlich nur aus Zufall, weil er Glück hatte, so sieht es jedenfalls Leonidas. Der Sohn eines armen Lehrers ist heute Abteilungsleiter (Sektionschef) im Kultusministerium. Seine Frau ist die schwerreiche Erbin eines Bankhauses. Eben, wir befinden uns im Jahr 1936, ist Leonidas 50 Jahre alt geworden und kann sich kaum retten vor Glückwunschschreiben.


    Einer der Briefe aber wirft ihn aus der Bahn. Schon ein Blick auf den Umschlag genügt, um ihm den Boden unter den Füßen wegzuziehen. In den Schriftzügen und der blaßblauen Tinte erkennt er die Absenderin. Es ist eine Frau, mit der er 18 Jahre zuvor nicht nur ein Verhältnis hatte, sondern der er darüberhinaus die Ehe versprochen hatte, obwohl er zu diesem Zeitpunkt schon verheiratet war. Es gab keinen Skandal damals, Leonidas lebt in Wien, die Affäre fand in Deutschland statt. Die junge Frau, Vera, eine Philosophiestudentin, war stillschweigend aus seinem Leben verschwunden.
    Fast jedenfalls. Drei Jahre nach der Affäre hatte er schon einmal einen Brief von ihr erhalten. Damals allerdings hat er ihn ungelesen vernichtet. Eigentlich sollte er das wieder tun. Oder diesmal nicht?


    Mit dieser schwierigen Frage beginnt Leonidas’ Gewissens - und Seelenforschung, aus der der größte Teil der Geschichte besteht. Wir hören von seinem unaufhaltsamen Aufstieg, von dem ganzen Glück, das er hatte, angefangen vom Frack, den ihm ein Kommilitone nach seinem Selbstmord hinterließ bis hin zur Millionenerbin, die ihm über den Weg lief und ihn heiraten wollte. Dazwischen Jasagen, Lächeln, Buckeln, Mitschwimmen. Still und bescheiden sein, aber zugreifen im rechten Moment. Den rechten Moment erkennen können, in dem das Zugreifen den größten Vorteil bringt, scheint Leonidas’ eigentliches Talent zu sein. Es wird nur noch übertroffen von seiner Begabung zur Beruhigung des eigenen Gewissens.
    Ein Gewissen hat er nämlich, aber er hat auch alle Ausreden parat, die man braucht, damit es nicht zu sehr zwickt. Ein bißchen zwicken ist gut, man ist ja Mensch. Aber spätestens abends beim Einschlafen muß es wieder aufgehört haben.


    Mit dem Brief in blaßblauer Tinte aber ist das Gewissen endgültig aufgestört. Es bereitet Leonidas eine Qual nach der anderen. Er öffnet den Brief. Seine ehemalige Geliebte bittet in höchst sachlichen Worten um Protektion für einen jungen Mann, der in Deutschland nicht mehr zur Schule gehen kann. Alte Schuld und jahrelange Versagensängste lassen Leonidas den Briefinhalt nach höchst theatralischen Maßstäben interpretieren. Nach zwei Sätzen schon ist er davon überzeugt, daß es sich bei dem jungen Mann nur um seinen Sohn handeln kann. Er ist so verstört, daß er sich tatsächlich dafür einsetzen will, daß der junge Mann in Wien leben kann, obwohl er Jude ist. Mehr noch, er spricht sich kurz darauf in einer Konferenz mit dem Minister für einen jüdischen Professor aus. Damit hat er seine Karriere aufs Spiel gesetzt.
    Eine Stunde vor dem Mittagessen ist Leonidas ein Held.


    Doch der Tag schreitet fort. Ein Streit mit Amelie, seiner mehr als zehn Jahre jüngeren Frau, befreit Leonidas von der Notwendigkeit einer Beichte. Ein Gespräch mit seiner ehemaligen Geliebten, befreit ihn von dem Gedanken, daß der junge Mann sein Sohn sei. Also braucht er nicht viel für ihn zu tun, am besten tut er gar nichts. Als der Abend kommt, weiß Leonidas auch schon, wie er die Geschichte mit dem Minister wieder hinbiegen kann.
    Was hatte er nur an diesem Tag, daß er sich so merkwürdig verhalten hat? Das Wetter war’s. Leonidas hat sich nichts vorzuwerfen.


    Das Ganze ist eine sehr spannende Innensicht auf den Charakter eines ehrgeizigen Anpassers. Es ist sorgfältig aufgebaut und sorgfältig formuliert. Man darf sich keinen Satz entgehen lassen, gleich, wie widerwärtig seine Kernaussage auch ist. Die geistige Einstellung und die Verhaltensweise höherer Beamter in einem reaktionären obrigkeitshörigen Apparat ist ebenso das Thema wie der Machtmißbrauch kleiner Geister bis ins Privatleben hinein. Interessant, wenn auch nicht ganz neu, ist die Sicht auf Beamte als Götter, die Schicksale machen und sie dann ablegen. Das Motiv zieht sich durch die ganz Erzählung, wird an Kollegen von Leonidas variiert und schließlich sogar an der Figur des Kultusministers. Das Bankhaus von Amelies Familie wird dabei nicht ausgelassen, auch wenn dahingehende Bemerkungen eher beiläufig fallen. Der Nationalsozialismus ist präsent als Zukunftsvision. Er wird seinen Einzug halten, Leonidas’ junger Kollege ist sein Vertreter.


    Im Mittelpunkt steht immer Leonidas mit seinen Selbstvorwürfen und Rechtfertigungen. Er bleibt unsympathisch. Am unsympathischsten ist er, wenn er einsieht, daß er etwas falsch gemacht hat. dann nämlich suhlt er sich geradezu in seiner ‚Schuld’. Allerdings nur, um fünf Minuten später, von allen Vorwürfen befreit, in hehrer charakterlicher Schönheit wieder dazustehen. Das ist konsequent und überzeugend geschildert.


    Gelungen und originell ist auch die Szene mit Amelies wildem Auftritt, mit ihren Vorwürfen und der anschließenden Beichte. Amelies Blick auf Leonidas stellt ihn völlig bloß, sie enthüllt seinen Charakter schonungslos. Daß sie alles für ihre Wahnstellungen hält, weil sie sich zu ihrer Eifersucht bekennen kann, gehört wohl zu den tragischsten Momenten der Geschichte. Im Moment der Ent-Täuschung täuscht sie sich erneut. Obwohl Leonidas Vera übel mitgespielt hat, ist seine Ehefrau die eigentlich tragische Gestalt der Novelle. das Bild der Ehe der beiden, das sich aus Amelies Auftritt ergibt, ist erschreckend.


    Ein faszinierendes Charakterbild ist auch Vera. Sie wird lebendig durch die Erinnerungen Leonidas’. Er ist jedoch voller Vorwürfe, schließlich ist sie schuld an seiner jetzigen Misere. In der Darstellung aber gelingt Werfel die große Kunst, daß sich Leonidas’ negativer Blick auf Vera beim Lesen in einen positiven Blick auf diese Frau umwandelt. Was Leonidas als falsch bemängelt, ist richtig. Das Wenige, das ihm gefällt, ist für Leserinnen und Leser dementsprechend eher ein Zeichen von Schwäche.


    Vera ist aber nicht nur ein zweites Frauenbild, sondern auch das Bild der jüdischen Intellektuellen, der Israeliten, wie Leonidas sich ausrückt. Ihnen gilt die Abneigung des Lehrersohns, der sich zu den ewig Zukurzgekommenen zählt. Hier zeigt Werfel einen spezifischen Ausschnitt des Antisemitismus. Da er als Zeitzeuge spricht, ist seine Darstellung besonders interessant und wichtig, auch wenn sie in literarisierter Form daherkommt.


    Das Ganze ist eine herausragende Erzählung, dennoch habe ich drei Einwände vorzubringen.
    Zum einen kann ich die Wendung in Leonidas' Gespräch mit Vera nicht gutheißen, bei dem sich am Ende herausstellt, daß sie tatsächlich ein Kind von ihm hatte. Das bringt die Geschichte in zu seicht-sentimentales Gewässer. Hier wurde romantischen Erwartungen nachgegeben.


    Zum zweiten stört die Mischung aus personaler und auktorialer Erzählweise. Leonidas' Reflexionen werden hin und wieder von außen zusätzlich kommentiert. Das lockert das Gewebe auf und bringt einen moralisierend-belehrenden Ton mit sich. Die LeserInnen sollen nicht selbst verstehen und dann entschieden dürfen, die ‚richtige’ Lösung und die ‚richtige’ Erklärung wird gleich mitgeliefert. Hier werden LeserInnen gegängelt.


    Zum dritten ist der Schluß schwach. Ja, eine Novelle muß moralisch sein, das erfordert die Form. Die Wendung, die Werfel wählt, hebt sie aber ins christlich-moralische. Damit raubt er ihr einige Dimensionen, er macht sie eindeutig. Dadurch ist sie aus der Literatur herausgehoben - Literatur ist nie eindeutig - und gefährlich in die Nähe von Gebrauchsliteratur gerückt. Entsprechend klischeehaft geraten die Schlußzeilen.


    Damit muß man rechnen, wenn man Werfel liest, ich tue es dementsprechend selten. Die Lektüre dieser späten Novelle lohnt sich aber auf jeden Fall.



    :wave


    magali

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

  • Ich kann mich nicht erinnern, das ich diese Novelle je gelesen hätte. Wollte ich immer nur.
    Jetzt bin ich ja gespannt, ob ich etwas für mich herausholen kann oder ob es mir wie Nomadenseelchen geht. Den Sinn eines Buches mit der Lupe suchen mag ich auch nicht.

  • Manchmal ist es einfach die falsche Zeit für ein Buch.
    Oder man hat die falschen Erwartungen.


    Eine Lupe braucht man gerade bei Werfel eigentlich nicht, bloß ein bißchen Ruhe und Aufmerksamkeit.




    :wave


    magali

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

  • Ich glaub, ich hab von Werfel noch gar nichts gelesen, welche Schande.
    Das muss ich demnächst ändern.
    Zeit und Ruhe hätte ich im Krankenstand ja auch ausreichend.

  • Na, dann geh und krame es mal vor. Am besten vergißt Du alle Erwartungen und liest einfach drauf los.


    Und gute Besserung, natürlich!



    :wave


    magali

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

  • Ich habe "Die blaßblaue Frauenschrift" gestern Abend beendet. Leider muss ich sagen, dass ich nicht ganz so begeistert bin davon. Den Film habe ich vor einem Jahr etwa gesehen und finde ihn nach wie vor fantastisch. Und da mir die Buchvorlagen fast immer besser gefallen, als ihre Verfilmungen, war ich davon ausgegangen, dass ich die Erzählung wohl mindestens so gut finden würde. Sie gefällt mir schon, keine Frage, aber eben nicht so gut wie der Film, was bei mir wirklich sehr selten vorkommt. Das mag wohl auch an der - meiner Meinung nach - idealen Besetzung liegen.
    Was aber sowohl im Buch als auch im Film sehr gut dargestellt wird, ist Leonidas grenzenlose Überheblichkeit. Wobei er ja nie behauptet, er wäre durch Fleiß und Intelligenz so weit gekommen. Er sieht sich selbst als Götterliebling, vom Glück geradezu verfolgt. Mit dem Frack eines "Israeliten", den er nach dessen Freitod geerbt hat und mit seinem Tanztalent, ist er auf jedem Ball willkommener Gast. Und als ihn dort die reiche Amelie Paradini entdeckt und für sich gewinnt, ist sein zukünftiger Werdegang bereits geebnet.
    Zu dumm nur, dass er sich in den ersten Jahren ihrer Ehe dazu verleiten lässt, eine Affäre mit Vera Wormser, seinem früheren, heimlicher Jugendschwarm, einzugehen, deren Bruder er Jahre zuvor Nachhilfe gegeben hat. Nie hat er Amelie etwas davon erzählt.
    Als er dann kurz nach seinem 50sten Geburtstag einen Brief von Vera erhält, in welchem sie ihn darum bittet, für einen jungen Mann, der als Jude in Deutschland nicht weiter zur Schule gehen darf, einen Unterrichtsplatz zu sichern. Leonidas gerät in Bedrängnis, ist er doch davon überzeugt, der junge Mann wäre Veras und sein gemeinsamer Sohn. Insgeheim hat er schließlich immer etwas in dieser Art vermutet.
    Er steigert sich immer mehr in diesen Gedanken hinein, schmiedet bereits Pläne, ein neues Leben zu beginnen, gemeinsam mit Vera. Auf einmal ist sein Antisemitismus wie weggeblasen.
    Als sich jedoch herausstellt, dass der junge Mann der Sohn der besten Freundin Veras ist, ändern sich seine Ansichten von einen Moment auf den anderen wieder. Nun ist er wieder der alte Leonidas, der Günstling aller. Seine Befürchtungen und Sorgen sind vergessen. Vera ist ja nur eine "Israelitin", deren Stolz er ohnehin nicht ertragen kann.
    Am Ende des Textes steht: "Während er unter der drückenden Kuppel dieser stets erregeten Musik schläft, weiß Leonidas mit unaussprechlicher Klarheit, daß heute ein Angebot zur Rettung an ihn ergangen ist, dunkel, halblaut, unbestimmt, wie alle Angebote dieser Art. Er weiß, dass er daran gescheitert ist. Er weiß, daß ein neues Angebot nicht wieder erfolgen wird."


    Die Art, mit welcher Leonidas Charakter dargestellt wird, finde ich sehr spannend. Und auch, wie ein bloßer Gedanke, bar jeder Grundlage, eine derartige Veränderung in einem Menschen auslösen kann.


    Ich kann das Buch auf jeden Fall empfehlen, wenn ich es auch fast für nötig halte, auch den Film zu kennen ;-)

  • magali
    Ich habe diese Novelle vor einigen Monaten aus Pflichtbewußtsein gekauft und heute zufällig aus dem Bücherregal gezogen. Ohne Deine drei Einwände hätte ich es nicht benennen können, was diesem Text fehlt, um ein hochkarätiger Klassiker sein zu können. Die Sache mit der "zufälligen" Erwähnung des Todes des gemeinsamen Kindes ist für mich der eigenartigste Punkt in der gesamten Novelle.


    Es war mein erster Werfel-Text, und eigentlich eine nette, sehr leicht lesbare Sonntagslektüre.


    Bilde ich mir das nur ein, oder gibt es sie doch - die Literaturverfilmung, in der Anja Kruse in der Rolle der Vera Wormser zu sehen ist ? (Ich werde gleich mal hinterhergoogeln...)

  • Und noch ein Werk aus meiner Fast-Gratis-Kindle-Gesamtausgabe...


    Auch diese Geschichte hat mich fasziniert. Werfels unaufgeregter Erzählton ist an und für sich schon ein Erlebnis. Auch wenn er manchmal abschweift und Dinge ausschmückt, während man als Leserin schon ungeduldig den Fortgang der Handlung ersehnt.


    Mich fasziniert das Werk auch deshalb, weil ich finde, dass ausnahmslos alle Charaktere schwach, egoistisch, überheblich und unsympathisch sind. Normalerweise kann ich mit solchen Romanen wenig anfangen. Werfel schafft es aber, dass ich trotzdem für alle diese negativen Personen Interesse und Mitgefühl entwickelte.


    Sehr subtil hat Werfel den beginnenden Nationalsozialismus und den Judenhass eingebaut.

    Kinder lieben zunächst ihre Eltern blind, später fangen sie an, diese zu beurteilen, manchmal verzeihen sie ihnen sogar. Oscar Wilde