Anne Enright, Das Familientreffen (The Gathering)

  • Anlässlich des Freitodes ihres Bruders Liam blickt Veronica Hegarty auf die gemeinsame Kindheit zurück. Aufgewachsen in einer vielköpfigen Familie (wenn ich mich recht entsinne 12 Geschwister, von denen aber nun nur noch neun leben), so zahlreich, dass sich die Mutter die Namen ihrer ganzen Kinder nicht merken kann, erzählt Veronica von einer ganz besonderen Schuld. Denn Liam, so wenigstens ihre Vermutung, ist ins Wasser gegangen, weil er von einem engen Freund der Großmutter im Alter von 15 Jahren systematisch missbraucht wurde. An diesem Punkt begann der unaufhaltsame Abstieg ihres Bruders.


    Eine weitere Missbrauchsgeschichte? Irgendwie ja. Gewinner des Booker-Preises 2007, das mich aber nicht so recht überzeugen konnte - hoffentlich eine Ausnahme, die die Regel bestätigt, denn gewöhnlich kann ich mich sogar auf die Shortlist dieses Preises ziemlich gut verlassen.
    Interessant an dem Text ist sicher seine konsequente Sexualisierung. Kein Kapitel vergeht, in dem es nicht wenigstens auch um Sex und/oder Begierde geht. Und der Sex, der beschrieben wird - nicht nur der Missbrauch, der ohnehin nur als alptraumhafte, verwaschene Erinnerung einer Achtjährigen wiedergegeben wird -, ist alles andere als schön. Sexualität wird konsequent entromantisiert, von Liebe ist zwar die Rede, doch so recht (be)greifen kann man sie bzw. ihren Platz im menschlichen Miteinander im gesamten Text nicht. Anne Enright - das ist ihr zugute zu halten - schafft hier eine originelle Darstellung des Themas: zugleich abstoßend und allpräsent und nicht wirklich unter der Kontrolle der an ihr Beteiligten, hat Sexualität etwas Unausweichliches und im Wortsinne Geschäftsmäßiges.


    Das reicht aber meiner Ansicht nach nicht, um die 260 Seiten diffus vorgetragener Familiengeschichte zu tragen, in der nichts wirklich klar wird: Ist Liam sozusagen an den alten Liebhaber seiner Großmutter "verkauft" worden, nachdem diese nicht mehr jung und schön genug war, um noch mit dem eigenen Körper die Mietschuld begleichen zu können, die zu jedem Monatsbeginn aufs Neue Sorgen bereitete? Einiges spricht dafür, dass die Angelegenheit so profan war, und dass die achtjährige Veronica nicht die einzige war, die von diesem abstoßenden Arrangement wusste. Wahrscheinlich war die gesamte Familie eingeweiht.


    Das Buch erzeugt so zwar eine widerwärtige Faszination an diesem banalen Handel mit Körpern im muffigen katholischen Irland, doch es geht nicht über die Schilderung des Prozesses der Bewusttwerdung von Veronica hinaus. Diese ist sich nicht sicher, ob Liam der einzige war, der missbraucht wurde, oder ob nicht auch andere Geschwister - unter anderem sie selbst - diesen Dienst leisten mussten.


    Ich kenne mich im Thema zu wenig aus, um zu etscheiden, wie realistisch die Darstellung ist. Ich halte es jedoch für möglich, dass es in vielen Missbrauchsfällen, nie zum Eklat oder zur Aussprache kommt, sondern dass die Beteiligten einfach mit ihrer Schuld und den Trümmern ihrer Existenz weiterleben; dass oft nicht einmal ein Selbstmord stark genug ist, um einen Prozess der Aufarbeitung einzuleiten. Nur: Genügt diese vielleicht realistische Darstellung als Grundlage eines Romans?

  • Klappentext:


    Der Hegarty-Clan versammelt sich in Dublin, um Liam, das schwarze Schaf der Familie, zu Grabe zu tragen - doch nur Veronica wagt es, nach den Umständen zu fragen, die ihren Lieblingsbruder in den Tod getrieben haben. Und plötzlich scharen sich die Geister der Vergangenheit um sie ...


    Über die Autorin:


    Anne Enright, geboren 1962 in Dublin, lebt heute im irischen Bray, County Wicklow. Die Autorin zählt zu den bedeutendsten englischsprachigen Schriftstellern der Gegenwart. Doch erst mit ihrem jüngsten Roman gelang ihr der internationale Durchbruch: Das Familientreffen ist in über 30 Sprachen überetzt und erhielt eine Vielzahl von Auszeichnungen, u.a. 2007 die wichtigste literarische Ehrung Großbritanniens, den Booker-Prize.
    "Ein starkes, unbequemes und zuweilen sogar wütendes Buch ...
    Ein schonungsloser Blick auf eine trauernde Familie in harter, beeindruckender Sprache", begründete die Booker-Jury ihre Entscheidung. (Quelle: DVA)


    Meine Meinung:


    Die Mitglieder der Booker-Jury müssen ein anderes Buch gelesen haben, als ich. An keiner Stelle habe ich dieses Buch, bzw. dessen Erzählerin als wütend empfunden ... Mir schien der Ton, in dem die Ich-Erzählerin Veronica ihre Familiengeschichte aufrollt, eher distanziert, kalt und unnahbar.
    Der Selbstmord ihres Lieblingsbruders Liams veranlasst Veronica zu einer Rückschau auf die gemeinsame Kindheit, auf ein Heranwachsen in einer kinderreichen Familie, mit einer Mutter, die nicht in der Lage war, die Namen all ihrer Kinder zu behalten. Großen Raum in Veronicas Erinnerungen nimmt auch die Großmutter Ada ein, bei der die Kinder jenen Sommer verbrachten, den Veronica nun rückblickend als schicksalhaft betrachtet, denn damals widerfuhr Liam etwas Unaussprechliches, und mit diesem Ereignis setzten die Veränderungen ein, die ihren Bruder immer unzugänglicher machten, immer mehr veränderten, bis er sich schließlich mit Hosentaschen voller Steine ins Meer stürzte.
    Das titelgebende Ereignis, Das Familientreffen, nimmt lediglich das letzte Drittel des Romans ein. Bis dahin wird der Leser mit den mehr oder weniger zusammenhängenden Erinnerungsfetzen und Assoziationen der Ich-Erzählerin konfrontiert, die sich immer wieder mit Gegenwärtigem vermischen. Und mehr als einmal wird deutlich, wie unzuverlässig das Gedächtnis ist und wie groß die Gefahr, Vergangenem durch das Erinnern ein anderes Gesicht zu geben.
    Mir war es zu keinem Zeitpunkt möglich, Verständnis oder Empathie für die Figuren zu entwickeln. Ich befürchte auch, überhaupt nicht verstanden zu haben, was mir da eigentlich erzählt werden sollte ...
    Durch den assoziativen Erzählstil ist es schwer, innerhalb des Romans kurz zu verweilen, sich auf Figuren und Ereignisse einzulassen, alles huscht in Windeseile vorbei, ehe man es so richtig zu fassen kriegt ...
    Zudem wurde ich mit der Ich-Erzählerin, bzw. deren Verhalten nicht warm. Veronica verbringt z.B. eine Nacht in ihrem Wagen, Gesellschaft leistet ihr lediglich eine Flasche Wein, und es wird deutlich, dass sie es nicht ertragen könnte, jetzt neben ihrem Mann zu liegen. Weshalb das so ist, hat sich mir aber nicht erschlossen ...
    Ich glaube, genau das war das Hauptproblem mit diesem Roman:
    Vieles war für mich einfach nicht nachvollziehbar, die Distanz zu den Figuren, ihren Handlungen und ihrer Motivation zu groß.

  • Ich hab bisher noch nichts motivierendes zu diesem Buch gehört, ich hoff ich pick mir da nicht selektiv die passenden Kommentare raus.
    Ein Bookerpreis ist ja immer ein Grund, das Buch genauer im Blick zu behalten, aber hier hab ich nun gar keine Lust mehr und werde es für mich nicht weiter beachten...
    Dafür aber: bin ja gespannt, wer dieses Jahr das Rennen macht beim Booker...

  • Ich fand das Cover letztlich so grandios aber weder Klappentext noch kurzes Reinlesen konnte mich überzeugen.
    Danke Sternchen, hab ich wohl nichts verpaßt.

  • das geht mir anders: das Cover find ich schon schön, könnte auf eine tiefgehende Lektüre schließen lassen, Nachdenklichkeit, was für die Seele. Auch die Kurzbeschreibung/Klappentext könnte mir Lust machen, aber eben nicht die Kommentare derer, die es schon gelesen haben.
    Könnte allerdings auch bedeuten, daß man es auf einen Versuch ankommen lassen müßte, die ersten Seiten z.B. und erst dann endgültig...

  • grundsätzlich lasse ich mich nicht von negativen rezis beeinflussen. ich möchte mir, sofern mein interesse an einem buch hinreichend genug ist, unbedingt meine eigene meinung bilden!


    und mit "familientreffen" geht es mir ganz besonders so.
    ich habe es gekauft und werde es bald lesen.



    von meinem eindruck werd ich berichten!
    und ich würde mich sehr freuen, wenn es auch einige positive rezis demnächst zu lesen gäbe.



    lg, niki

  • Eine düstere und traurige Familiengeschichte, distanziert erzählt - zu keinem der Protagonisten kann der Leser eine besondere Beziehung aufbauen.


    Ich könnte mir vorstellen, dass die Distanziertheit beabsichtigt ist, weil Kindesmissbrauch ein Tabu-Thema ist und es in der Hegarty-Familie ein düsteres Geheimnis ist.


    Das Buch wirft Fragen auf, die einen auch hinterher noch beschäftigen.


    Aber vielleicht interpretiere ich es falsch :gruebel


    Die Frage, ob Lamb Nugent nun wirklich die große Liebe war, stellt sich mir auch - jedenfalls findet sich kein Beweis in dem Buch.


    Was hat die Großmutter gewußt und wieso ist die Mutter so konturlos geblieben? Warum ist sie so "schwach", hat sich nicht für ihre Kinder eingesetzt, weiß noch nicht mal die Namen ihrer Kinder?
    Dass die Familienmitglieder nicht miteinander reden können, über ihr Problem sprechen können, ist tragisch.


    Es lohnt sich sicher, das Buch ein zweites Mal zu lesen.

    Jeder trägt die Vergangenheit in sich eingeschlossen wie die Seiten eines Buches, das er auswendig kennt und von dem seine Freunde nur den Titel lesen können.
    Virginia Woolf

    Dieser Beitrag wurde bereits 1 Mal editiert, zuletzt von Conor ()

  • Hallo Conor,


    sei mir nicht böse, aber ich habe das Gefühl, daß du hier ein bißchen zuviel über den Inhalt verrätst.
    Ich habe jetzt nicht alles genau durchgelesen, da ich das Buch nicht kenne, es aber gern noch lesen möchte und deshalb unvoreingenommen daran gehen möchte.
    Deshalb kann es auch sein, daß ich mich irre.
    Falls das nicht der Fall ist, würdest du dann bitte einen Teil deines Beitrages spoilern?


    :wave
    Charlotte

  • Ich habe das Buch gelesen und fand es richtig gut.
    Am Anfang etwas sperrig, aber als mich reingelesen hatte konnte ich nicht mehr aufhören.
    Ein sehr zorniges Buch das zum Nachdenken anregt.

    Herzlichst, FrauWilli
    ___________________________________________________
    Ich habe mich entschieden glücklich zu sein, das ist besser für die Gesundheit. - Voltaire

  • Charlotte :
    entschuldige - das war natürlich nicht meine Absicht.
    Ich spoilere direkt mal.


    :wave

    Jeder trägt die Vergangenheit in sich eingeschlossen wie die Seiten eines Buches, das er auswendig kennt und von dem seine Freunde nur den Titel lesen können.
    Virginia Woolf

  • Auf den ersten Blick wirkt das Thema gründlich abgenudelt: Ein Mensch hat Probleme, bringt sich gar um und, tata, Kindesmißbrauch steckt dahinter!
    Umso beeindruckender, wie das Thema in diesem Buch umgesetzt wird: es geht nicht darum, was genau eigentlich passiert ist, damals vor zwanzig Jahren (und so richtig weiß man das am Ende des Buches auch nicht).
    Vielmehr geht es darum, wie eine erwachsene Frau mit einer solchen Vergangenheit und dem Tod ihres Bruders umgeht. Wie sie schwankt zwischen der Unzuverlässigkeit ihrer eigenen Erinnerungen, der fatalistischen Erkenntnis, dass das Empfinden von Kindern damals einfach keine Rolle spielte und der Wut auf den Täter. Und vor allem, wie sie sich die Vergangenheit, von der sie nichts wissen kann, zurechtbastelt, um den Geschehnissen wenigstens einen Sinn zu geben.
    Das Irland, das in diesem Buch geschildert wird, ist zwar lange nicht mehr das Armenhaus Europas, man arbeitet „irgendwas mit IT“ und spekuliert mit Häusern. Dennoch wirkt die Gesellschaft altmodisch, gefangen in jahrhundertealtem katholischen Mief und doppelzüngiger Moral, und erst langsam beginnt sie, die Tabus der Vergangenheit ans Licht zu zerren.
    Dass das Personal dieses Romans durchweg seltsam ist, hat mich nicht weiter gestört, schließlich wollte ich auch in niemandes Haut stecken.


    Trotz des finsteren Atmosphäre, dem schwierigen Thema und der manchmal wirklich etwas nervtötenden Schwanzlastigkeit ist "Das Familientreffen" für mich ein durchaus gelungener Roman.


    Menschen sind für mich wie offene Bücher, auch wenn mir offene Bücher bei Weitem lieber sind. (Colin Bateman)

  • Hallo,
    ich habe das Buch als Hörbuch (onleihe) gehört und muss sagen: es hat mir gar nicht gefallen.
    Die Geschichte war sehr durcheinander und wie mit dem Thema Kindesmissbrauch umgegangen wird hat mir auch null zugesagt. Immerhin kommt die Erzählerin (Schwester des definitiv missbrauchten Jungen) am Ende zu der Auffassung das der Selbstmord des Bruders nichts mit dem damaligen Missbrauch zu tun hat........ OHNE WORTE, sag ich dazu nur. Nööö, natürlich nicht.
    Wie so oft (leider eben auch real) alle haben es scheinbar gewusst, keine Sau hat was gemacht, weder früher noch später.


    Das Endfazit machte mich sauer und im allgemeinen war mir die Geschichte viel zu durcheinander erzählt. man kommt leicht durcheinander wer jetzt wer, wann, wie alt gerade etc. durcheinander - aber das ist vielleicht anders wenn man es gedruckt vorliegen hat und liest statt "nur" hört.... keine Ahnung.

    "We are ka-tet...We are one from many. We have shared our water as we have shared our lives and our quest. If one should fall, that one will not be lost, for we are one and will not forget, even in death."Roland Deschain of Gilead (DT-Saga/King)