Wollen Leser authentische historische Romane?

  • Hallo,


    im Rezensionsthread zu Ines Thorns "Höllenknecht" ist eine Diskussion entstanden, die ich so spannend finde, dass ich sie gern weiterführen möchte.
    (Es hat wohl ein ähnliches Thema schon einmal gegeben, wenn es mehr als ähnlich war, bitte ich, diesen Thread dort anzuhängen.)


    Es geht um die Frage: Kann es den authentischen historischen Roman überhaupt geben? Wird er von den Lesern überhaupt gewünscht?


    Ich wiederhole einige der Äußerungen aus dem Thread:


    Zitat

    Die Alltagssorgen der damaligen Frauen (und Männer) sind zum Teil den unseren so fremd, dass es schwierig sein würde, meine Leser dafür zu begeistern. Eine spätmittelalterliche Frau hatte Angst, im Kindbett zu sterben, sie war sehr gläubig und abergläubig, sie sprach anders, dachte anders, hatte andere Prioritäten.


    Zitat

    Unbestritten ist, dass sich das Alltagsleben so stark unterscheidet, dass wohl vieles für heutige Leser fremd ist. Gerade diese Fremdheit ist wohl aber auch ein Reiz historischer Romane.


    Zitat

    Etwas ketzerisch könnte man sich sonst fragen, wozu überhaupt historische Romane schreiben? Wäre es dann nicht glaubwürdiger und stimmiger einen Roman zu schreiben, der in der Gegenwart handelt?


    Zitat

    Ich glaube, die Mehrheit der Leser sieht das etwas anders.
    Ich hoere ueber meine eigenen Figuren sehr oft von enttaeuschten Lesern: "Nee, der XY war mir zu religioes - staendig dieses Gebete." Oder: "So wie YZ kann man sich doch nicht verhalten - mein Ex-Freund war auch mal in der Lage, aber der hat das ganz anders gemacht..." oder: "Ja, mag ja sein, dass das damals so war, aber ich kann mir solche verqueren Leute nicht vorstellen."
    Ich hoere dieses und aehnliches auch oft ueber Buecher, die ich grossartig finde, weil ihnen eben das von euch geforderte gelingt.


    Neben der Bedeutung des Glaubens, die als stoerend empfunden wird, kommt besonders haeufig Kritik an "unmenschlichem" Verhalten, z.B. an Eltern, die die Zuechtigung von Kindern fuer unabdingbar halten, Maennern, die Frauen nicht als gleichberechtigt empfinden, die lieber Soehne wollen als Toechter wollen und auch nicht der Ansicht sind, Treuegeluebde muessten von Maennern gehalten werden wie von Frauen, Adligen, die nicht auf die Idee kommen, ihre Bediensteten haetten dieselben Rechte wie sie etc.
    Wenn ich aber eine Figur (und zwar nicht nur "die Boesen") mit diesen Denkmustern nicht ausstatten darf, ohne dass die Figur - und ich! - die Sympathien der allermeisten Leser verlieren, kann ich sie nicht in eine Umgebung aus Jahrhundert 13 oder 16 einbetten. Das geht einfach nicht.


    Zitat

    Ich vermute, dass es in einem Literaturforum wie hier zahlreiche Leser meiner Art gibt, die eine historisch wahrheitsgetreue Darstellung vorziehen. Ich selbst bin überzeugter Nicht-Christ und Agnostiker, trotzdem lese ich gern Romane, in denen die Figuren äußerst religiös sind, da ich gerade dieses "Anderssein" des mittelalterlichen Menschen faszinierend finde und zwischen dem mittelalterlichen und meinem Weltbild differenzieren kann.


    Ich bin gespannt auf eure Meinungen!

  • "Historische Romane" ist schon von vorneherein ein falsches Etikett. "Historische Romane" im Sinn des Wortes "historisch" sind Bücher aus vergangenen Jahrhunderten, die also vor gefühlten Ewigkeiten geschrieben worden sind. Das, was heutzutage unter diesem Begriff verkauft wird, sind i.d.R. bestenfalls "historisierende Romane". Meistens sind es aber, wie auch die Autorin hier ausgeführt hat, nur zeitgenössische Geschichten vor irgendwie historischem Hintergrund. Von Fall zu Fall wird mal mehr und mal weniger der Versuch unternommen, soziale, kulturelle und weltanschauliche Authentizität zu gewährleisten. Unsere Iris gehört m.M.n. zu den Autoren, die das sehr intensiv versuchen. Aber die meisten "historischen Romane" sind einfach nur aktuelle Geschichten vor vermeintlich altem Hintergrund. Der zuweilen auch ziemlich oberflächlich gezeichnet wird. "Authentisch" ist nach meinem Dafürhalten fast nichts davon, wenn man es auf die Gesamtmenge umlegt. Höchstens jene paar Fakten, die eingewoben werden, nach mehr oder minder intensiver Recherche.


    Und das ist auch okay. Historische Romane sind eigentlich Fantasy, da sie Überlieferungen und alte Geschichten neu verorten. Diese Neuverortung betrifft vor allem das Verhalten der agierenden Figuren. Man sollte aber nicht glauben, etwas (über die eingestreuten Fakten hinaus) über jene Zeit zu erfahren, in der das Buch anscheinend spielt.

  • Ich würde den Kern der Diskussion etwas anders sehen. Die eigentliche Ausgangsfrage aus meiner Sicht war, ob Leser in historischen Romanen lieber Figuren wollen, die nach den Intentionen des Autors Figuren ihrer Zeit zu imitieren versuchen, oder ist es den Lesern lieber, wenn sie Figuren haben, die sich wie heutige Figuren verhalten und sich dafür leichter an ihnen festhalten können, sie besser verstehen können und die dadurch auch eher als Symphatieträger geeignet sind.


    Ich suche gezielt nach Romanen, die den ersten Weg verfolgen. Ich will dadurch - bei allen von Tom geschilderten Filtern - einen Einblick in eine andere Zeit erhalten. Wenn auch gelesen im Wissen, dass es sich dabei in erster Linie auch um eine Interpretation der Zeit durch den Autor handelt. Gerade das ist für mich ein spannender und faszinierender Aspekt an historischen Romanen, der für mich auch ein wesentliches Qualitätsmerkmal ist.


    In meinen Augen geht auch die Rechnung Figur bewusst modern gestalten, Zeit aber möglichst nach den Rechercheergebnissen getreu zeichnen nicht auf. Das sind für mich Felder, die sich gegenseitig bedingen. Gesellschaftliche Entwicklungen und politische kann man nicht zweiteilen und getrennt betrachten.


    Edit:
    @ Katerina:
    Ich hab vorhin noch versucht die alte Diskussion zu finden, leider streikt aber die Suche bei den gewählten Suchworten regelmäßig und der genaue Threadtitel fallt mir nicht mehr ein.

  • Ganz grossartige Frage!


    Auch wenn ich im Genre der historischen Romane eher selten verweile, habe ich mir bei dem ein oder anderen Buch genau diese Gedanken auch schon gemacht!


    Dass dort oft eine junge, wenig angepasste Frau mit enormem Selbstbewusstsein im Mittelpunkt der Ereignisse steht, kam mir so oft vor wie der Widerspruch schlechthin zu der beschriebenen Zeit.


    Die Frage ist also, was wollen die Leser? Ich denke, dass Bemühungen der Autoren zu authentischen historischen Rollenbildern einen Einbruch in diesem Genre bedeuten würden. Alle Personen meines Bekanntenkreises - fast nur Frauen übrigens - die diese Bücher sehr gerne lesen, ziehen daraus auch etwas für ihr Rollenbild heute. Das wäre nicht möglich, wäre das Rollenbild der Magd von 1782 ein realistischeres. Damit würde das Interesse dieser Leserinnen deutlich abnehmen. Gut für den literarischen Anspruch der Autoren, schlecht für die Absatzzahlen!


    GRÜSSE
    savanna

  • Zitat

    Ich würde den Kern der Diskussion etwas anders sehen. Die eigentliche Ausgangsfrage aus meiner Sicht war, ob Leser in historischen Romanen lieber Figuren wollen, die nach den Intentionen des Autors Figuren ihrer Zeit zu imitieren versuchen, oder ist es den Lesern lieber, wenn sie Figuren haben, die sich wie heutige Figuren verhalten und sich dafür leichter an ihnen festhalten können, sie besser verstehen können und die dadurch auch eher als Symphatieträger geeignet sind. Ich suche gezielt nach Romanen, die den ersten Weg verfolgen.


    Genau solche Romane suche ich auch.


    Zu diesem Punkt (kopiert aus der Diskussion im anderen Thread):

    Zitat

    - Originale Quellen nicht überall zur Verfügung stehen, und wenn, dann für uns Heutige nur schwer zu lesen und zu beurteilen sind. Hier ein Beispiel aus einer Gerichtsakte von 1635, Betreff Schmuckdiebstahl zu Frankfurt: "Bey welcher Liefferung (gemeint ist die Auslieferung des Diebes von Höchst nach Frankfurt) dann eine sehr grosse Menge Volcks, so mit hinausgegangen, gewessen und sonsten auch in der Statt auff der Gassen, da er durchgeführt worden, auffgewartet und diesen grossen Haupt- und Erzdieb sehen wollen, dergleichen zuvor niemals mehr besehen und gehört worden." Quelle: Frankfurter Strafenbuch


    Solche Originalquellen begeistern mich persönlich sehr und sind auch gar nicht so schwer zu lesen, wie man auf Anhieb meint. Wie ich bei den Romanen von Sabine Weigand, die ich zu meinen Lieblingsautorinnen zähle, festgestellt habe, liest man sich schnell in das altertümliche Deutsch solcher Quellen ein und genießt dann eine wirklich "authentische Atmosphäre".

  • Zitat

    Original von Katerina
    im Rezensionsthread zu Ines Thorns "Höllenknecht" ist eine Diskussion entstanden, die ich so spannend finde, dass ich sie gern weiterführen möchte.
    (Es hat wohl ein ähnliches Thema schon einmal gegeben, wenn es mehr als ähnlich war, bitte ich, diesen Thread dort anzuhängen.)


    Hallo Katerina,
    super, du bist mir nur zuvor gekommen. Ich wollte auch Teile des Gespräches aus dem Thread ziehen und in einem neuen Thead als eigenständiges Thema behandeln.

    Zitat

    Ich bin gespannt auf eure Meinungen!


    Ich auch :wave

  • Hm, ich finde das Thema sehr interessant. Und das, obwohl ich historische Romane (so nenn ich die jetzt mal trotz Toms berechtigten Einwand, weil man hier ja schon versteht, was gemeint ist) eigentlich nicht lese.


    Ich ging nämlich eigentlich immer davon aus, dass in solchen Romanen auch die Geschichte im Vordergrund steht (bzw. nicht ganz in den Hintergrund gedrängt wird) - dass also eine Frau im historischen Roman auch so agiert wie sie vermutlichen zur damaligen Zeit agieren würde. Dass evtl. Kriege, Schlachten oder politische Geschehnisse aus der Zeit auch eine Rolle spielen. Und nicht davon, dass oft einfach nur eine Frau, die heute genauso existieren könnte, zurückversetzt in altes Jahrhundert wird, aber genauso wie heute handelt :gruebel


    Anscheinend muss ich mein Bild von historischen Romanen überdenken. Jetzt reizen die mich noch weniger. Bis vor kurzem hab ich ja noch überlegt, auch mal sowas zu lesen. Einfach weil ich das Agieren einer Person vor einem ganz anderen historischen und politischen Hintergrund doch spannend gefunden hätte. Aber jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher...

    With love in your eyes and a flame in your heart you're gonna find yourself some resolution.


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  • Zitat

    Original von Tom
    "Historische Romane" ist schon von vorneherein ein falsches Etikett. "Historische Romane" im Sinn des Wortes "historisch" sind Bücher aus vergangenen Jahrhunderten, die also vor gefühlten Ewigkeiten geschrieben worden sind. Das, was heutzutage unter diesem Begriff verkauft wird, sind i.d.R. bestenfalls "historisierende Romane". Meistens sind es aber, wie auch die Autorin hier ausgeführt hat, nur zeitgenössische Geschichten vor irgendwie historischem Hintergrund. Von Fall zu Fall wird mal mehr und mal weniger der Versuch unternommen, soziale, kulturelle und weltanschauliche Authentizität zu gewährleisten. Unsere Iris gehört m.M.n. zu den Autoren, die das sehr intensiv versuchen.


    Da ich heran gezogen wurde, melde ich mich mal kurz zu Wort. :grin


    Was Tom schreibt, kann ich nur bestätigen, und so habe ich es auch mal in einem Nachwort formuliert:

    Zitat

    Ein Schriftsteller kann und will nicht Vergangenheit rekonstruieren. Im Idealfall ist ein historischer Roman eine Übersetzung dessen, was man von der damaligen Welt begriffen hat, in eine Darstellung, die für heutige Leser nachvollziehbar ist. Abweichungen von der historischen Realität sind unvermeidlich. Manche sind durchaus der Unaufmerksamkeit des Schriftstellers geschuldet. Andererseits gibt auch der aktuellste Forschungsstand bei aller Faktentreue nur Meinungen wieder, zu denen die Gruppe der mit diesem Thema und diesen Personen beschäftigten Wissenschaftler gekommen ist.


    Diese Erkenntnis ist für mich nie ein Freibrief gewesen, die Geschichte als Kiste voll Plastilin anzusehen, aus der ich mir für meine Story rauspicke, was mir gerade gefällt und sich prima kneten lässt, um ein buntes Bild von prallem Leben zu basteln -- sondern eine Aufforderung zu besonderer Gründlichkeit und ständigem Hinterfragen sowohl der Positionen in der Forschung als auch meiner eigenen. Die Historie ist für mich kein Korsett, in das ich meine Geschichte zwänge, sie ist Grundlage, Raster und umfasst all die zahllosen Punkte, zwischen denen das Netz der Geschichte gesponnen wird.


    Aber diesen Anspruch kann man beileibe nicht von jeder Autorin und jedem Autor verlangen! Das ist eine grundsätzliche und individuelle Entscheidung, die man nicht einmal von Rezensionen und Leserstimmen abhängig machen darf, sondern nur vom eigenen Wollen!


    Ines' Entscheidung, vor einem sauber recherchierten Hintergrund Figuren agieren zu lassen, deren Denken und Handeln heutige Leserinnen und Leser spannend unterhält, ohne sie übermäßig mit Fremdartigem zu strapazieren, ist völlig legitim! Es ist schon ein Segen, wenn ein Autor so weit geht wie sie und auf diese Weise bei möglichst vielen Leserinnen und Lesern Interesse für die beschriebene Zeit weckt und darüber hinaus den einen oder anderen Denkanstoß gibt.



    Wolke : Ach du liebe Zeit, der gute alte His in seinem Element! :lache

  • Zitat

    Original von Gummibärchen
    Anscheinend muss ich mein Bild von historischen Romanen überdenken. Jetzt reizen die mich noch weniger. Bis vor kurzem hab ich ja noch überlegt, auch mal sowas zu lesen. Einfach weil ich das Agieren einer Person vor einem ganz anderen historischen und politischen Hintergrund doch spannend gefunden hätte. Aber jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher...


    Es ist ja nicht so, dass es die von dir (und von mir) bevorzugten historischen Romane (ich bleibe bei diesem Genrebegriff, da er sich durchgesetzt hat) nicht gäbe. Das Problem ist nur, dass Autoren, die versuchen, Denken und Handeln ihrer in eine bestimmte Zeit verpflanzten Figuren begreifbar machen zu wollen, damit nicht unbedingt auf Begeisterung bei den Lesern und Verlagen stoßen.

  • Zitat

    Original von Katerina
    Es ist ja nicht so, dass es die von dir (und von mir) bevorzugten historischen Romane (ich bleibe bei diesem Genrebegriff, da er sich durchgesetzt hat) nicht gäbe. Das Problem ist nur, dass Autoren, die versuchen, Denken und Handeln ihrer in eine bestimmte Zeit verpflanzten Figuren begreifbar machen zu wollen, damit nicht unbedingt auf Begeisterung bei den Lesern und Verlagen stoßen.


    Ich bin mir gerade nicht sicher, welche der zwei Arten du mit dem letzten Satz meinst :gruebel (Stoßen jetzt diejenigen, die die Figur an heutige Zeit "anpassen" nicht an Begeisterung oder eher die, die sie so agieren lassen, wie es früher wohl gewesen wäre?)
    Ich glaub, ich muss mal die Posts noch mal durchlesen bzw. mal nachdenken. Werd ich wohl später machen :wave

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  • Zitat

    Original von Gummibärchen
    Ich bin mir gerade nicht sicher, welche der zwei Arten du mit dem letzten Satz meinst :gruebel (Stoßen jetzt diejenigen, die die Figur an heutige Zeit "anpassen" nicht an Begeisterung oder eher die, die sie so agieren lassen, wie es früher wohl gewesen wäre?)


    Ich meinte damit die Autoren, die versuchen, ihre Figuren (möglichst) so agieren und denken zu lassen, wie es der Zeit entspricht, in der der Autor sie angesiedelt hat.
    Wie Ines und Charlie z.B. anführten, sie fromm und abergläubisch sein zu lassen, sie Angst vor dem Tod dem Kindbett haben zu lassen, sie glauben zu lassen, dass männliche Untreue weniger schlimm als weibliche Untreue sei und dass man Kindern schadet, wenn man sie ohne Schläge erzieht.


    Ich fand einen Punkt noch besonders spannend, den Charlie im genannten Rezithread anführte: die "Bösen" dürfen, wie schlicht auch immer gestrickt, als Kinder ihrer Zeit handeln und denken. Bei Helden haben viele Leser damit Probleme.

  • Ich hab nun keine Ahnung, wie die exakte Abgrenzung dieses Genres geht. Ich beobachte aber zwei verschiedene Tendenzen: die eine läßt sich poiniert und leicht verkürzend dadurch charakterisieren, dass eine Phantasiegeschichte in eine Epoche der Vergangenheit verpflanzt wird - oft dient diese Verlagerung in die Vergangenheit mehr dazu, einer billigen Story noch etwas exotische Würze zu verpassen.


    Die andere Tendenz ist die, dass historische Begebenheiten oder Persönlichkeiten in Romanform beschrieben und heutigen Lesern nahegebracht werden - und zwar so, dass man am Ende auch weitgehend sicher sein kann, die gesicherten Erkenntnisse, die es gibt, auch zu erfahren. Sicher wird dies auch mit der notwendigen gestalterischen Freiheit erzählt und Phantasie beigemischt, aber es wird - darauf will ich raus - auch nichts verfälscht. Das Paradebeispiel für die Aufbereitung solcher Stoffe liefert Thomas Mann in der Josephstetralogie - historischeÜberlieferung auf dem Stand der Wissenschaft seiner Zeit bestens recherchiert und dann in künstlerisch bester Qualität dargeboten. Umberto Ecos Romane zählen für mich auch zu dieser Tendenz: er nutzt seine profunde Kenntniss dazu, ein möglichst authentisches Bild sowohl der Zeit als auch der geistigen Entwicklung zu zeichnen.
    Die zweite Tendenz lese ich sehr gern!!

  • Eine sehr spannende Diskussion, wie ich finde. Und gewissermaßen kann ich die verschiedenen Positionen nachvollziehen.


    Als Leserin muß ich aber sagen: mein Grund keine historischen oder historisierten Romane zu lesen ist der, dass ich es nicht mag, wenn vor einem historischen Setting Figuren sind, die denken und handeln, wie im hier und jetzt. Wenn eine Frau des Mittelalters emanzipatorische Thesen des 20. Jahrhunderts propagiert - um es mal überspitzt zu schreiben - fühle ich mich verschaukelt.
    Da frage ich mich, wozu da das historische Setting mehr gut ist, als nur als exotische Kulisse.
    Konsequent finde ich dann ja wenigstens noch, wenn man die neuzeitlich denkenden Figuren als Zeitreisende verkauft.


    Das ist meine persönliche Meinung und mein Geschmack in Bezug auf das Lesen. Ich ziehe dann die Jetztzeit als Kulisse vor, wenn die Figuren schon unserer Zeit entspringen.
    Wobei es mir selbst hier schon auffällt, wenn eine Autorin New York als Kulisse wählt und selbst nie einen Fuß in diese Stadt gesetzt hat. Das wirkt einfach nicht authentisch für mich als New York Besucherin. Das gleiche Phänomen für mich.

    :lesend
    If you can read, you can empathize, luxuriate, take a chance, have a laugh, hit the road, witness history, become enlightened, turn the page, and do it all again
    Oprah Winfrey

  • Dennoch würde ich als Antwort der Allgemeinheit auf die Ausgangsfrage dieses Threads ("Wollen Leser authentische historische Romane?") auf Basis der offenbaren Verkaufszahlen mit einem klaren "Nein" antworten. Iny Lorentz haben zig Millionen Bücher verkauft und führen diesen Markt - bezogen auf deutschsprachige Autoren - meiner Meinung nach klar an. Ihre Bücher sind aber eindeutig zeitgenössische Geschichten vor historischem Hintergrund. Was die beiden tun, machen die meisten erfolgreichen Autoren dieser Art von Literatur auch, von Ken Follett bis Rebecca Gablé. Die Gedankenwelt und das Sozialverhalten, häufig aber auch die Sprache ihrer Figuren sind adaptiert, um für Jetztzeitleser mehr Identifikation zu bieten. Und genau das wollen die auch. Wie gesagt. Fantasy. Ohne es (ab)werten zu wollen.

  • Zitat

    Original von Iris
    [Ines' Entscheidung, vor einem sauber recherchierten Hintergrund Figuren agieren zu lassen, deren Denken und Handeln heutige Leserinnen und Leser spannend unterhält, ohne sie übermäßig mit Fremdartigem zu strapazieren, ist völlig legitim! Es ist schon ein Segen, wenn ein Autor so weit geht wie sie und auf diese Weise bei möglichst vielen Leserinnen und Lesern Interesse für die beschriebene Zeit weckt und darüber hinaus den einen oder anderen Denkanstoß gibt.


    Ich moechte nur mal darauf hinweisen duerfen, dass ich mich hier ein bisschen aus dem Zusammenhang gerissen und fehl am Platz fuehle. Ich hatte - im Rezensionsthread zu Ines' "Hoellenknecht" - lediglich sagen wollen, was Iris oben praegnanter zusammenfasst, dass ich naemlich Ines' Haltung verstaendlich und nachvollziehbar finde.
    Nicht eine Diskussion dieser Art lostreten, in der "die einen" (Romane) gegen "die anderen" (oder gar "die bemuehten" und "die miesen") gehalten werden.
    (Und "fromm" und "aberglaeubisch" hab ich wirklich nicht geschrieben, das ist auch WIRKLICH nicht meine Art, ueber die, die vor uns gelebt haben, zu denken, das bitte ich, mir zu glauben.)


    Fuer mich als Leser hatte der historische Roman immer auch noch eine andere Funktion, naemlich die einer Uebersetzung/Uebertragung von Ereignissen/Erscheinungen/Aspekten der eigenen Zeit in eine andere, weil man aus verschiedenen Gruenden (vornehmlich aus Mangel an Distanz) in der eigenen nicht erzaehlen kann (oder will. Oder auch mal darf).
    Als Autor suche ich nach Geschichten in der Geschichte, die ich wiedererkenne, die sich mir aufdraengen, weil sich mir der Vergleich, die Parallele, das uebertragbare Element aufdraengt. Beim Erzaehlen, bei der Vorbereitung des Erzaehlens halten mich diese beiden Fragen (und die Spannung zwischen ihnen) am staerksten bei der Stange, treiben mich um: Was ist gleich/aehnlich/vergleichbar? Und: Was ist anders?
    Das gilt fuer die Figurengestaltung wie fuer andere Bereiche.


    Ich bin wie Iris der Ansicht, dass jeder Autor fuer sich entscheiden muss, was ihn umtreibt, was ihn an das Genre bindet, was er davon will (und solche Entscheidung kann lange dauern) und was er damit kann.
    Mehr Leser (als ich, als andere) machen aber womoeglich die Autoren gluecklich, die sich die Frage: Wo kann ich meinen Leser abholen und bis wohin kann ich den mitnehmen?, vor allen anderen stellen.


    Viele Gruesse von Charlie

  • Zitat

    Original von Tom
    Dennoch würde ich als Antwort der Allgemeinheit auf die Ausgangsfrage dieses Threads ("Wollen Leser authentische historische Romane?") auf Basis der offenbaren Verkaufszahlen mit einem klaren "Nein" antworten.


    Ich kann das ja irgendwie nachvollziehen. Dennoch würde ich mir eher wünschen, dass historische Romane auch wirklich historisch sind. Es würde vielleicht nicht soo leicht fallen, sie zu lesen (eben weil man vieles nicht nachvollziehen kann), aber vielleicht hätte man so wenigstens einen "authentischeren" Blick auf die damalige Zeit.


    Katerina : Ok, dann hab ich das schon richtig verstanden. Ja, das fänd ich an sich auch besser. Aber wie Tom sagt - wahrscheinlich würde es die Allgemeinheit nicht lesen wollen. Ich kann mir schon vorstellen, dass ich (obwohl ich es besser fände) dann irgendwann haareraufend da sitze und mir denke "Oh Frau, mach was" - da muss man dann innehalten und sich bewusst werden, dass einiges früher vielleicht nicht so einfach war.

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  • Das von von taciturus und Herrn Palomar hochgelobte Buch "Die Etruskerin" (link zum Rezifred) hat mir den Beweis erbracht, dass ich zwar eine gut recherchierte Geschichte lesen möchte, die nicht nur vor geschichtlichem Hintergrund spielt sondern in ihn eingebunden ist, aber dass ich wenn ich ein Buch lese auch eine Geschichte lesen möchte.


    Ich will mich nämlich von meiner durchaus mit sehr viel Lesen verbundenen anstrengenden Arbeit erholen und nicht anstrengend durch ein Belehrungsbuch durchkämpfen. Daher gibt es eine große Bandbreite der von mir gelesenen historischen Romane. Da gibt es die historischen Krimis wie den von mir hochgeschätzten Richter Di oder Bruder Cadfael als abgeschlossene Reihen (Autoren :grab) oder als aktuelles vielversprechendes Lesevergnügen Susanne Eder, da muß neben dem glaubwürdigen Hintergrund eben auch Spannung dasein, aber auch mal Iny Lorenz (Eric Maron) "Die Fürstin", weil es aus der Zeit eigentlich wenig gibt (gab).(edit ergänzt: oder Katerina Timm, weil es aus der Ecke der Geographie so wenig gibt)


    Auch kann man Charlotte Thomas kaum mit Titus Müller vergleichen, auch wenn sie in das gleiche Genre ein "geschubladet" werden. Historische Romane im Wortsinn, wie die seinerzeit zeitgenössischen Romane eines Karl May lesen sich für uns wie historische Romane und sind es ja auch, weil sie auch nicht die historische Realität abbilden. Selbst wenn die Not der Weber in ihren Hütten glaubwürdig rüberkommt, den märchenhaften Aufstieg mit Happyend in den armen der Geliebten (Adeligen), der war auch damals Fiktion. Andererseits sagen uns historische Romane, die als Science- fiction daherkommen, die Bücher eines Jules Verne , viel über die eigene Zeit in der Schilderung des jeweiligen Ambientes. Auch ein historischer Roman im Tomschen Sinne wie "Richard der Dritte" von Willi Schüttelbier erfüllt ja keine andere Funktion als die zeitlose Darstellung menschlichen Verhaltens am historischen Beispiel- wäre das nicht so, würde diesen Autor heute niemand mehr kennen oder gar lesen und aufführen.


    Soll heißen, ein guter historischer Roman ist ein Buch für mich dann, wenn nicht in moderne Kleider gewandete Schauspieler vor alten Kulissen rumhampeln, sondern in Bekleidung der Handlungszeit in den Kulissen agieren und dabei eine gute- zeitlose Geschichte vom Menschen erzählen- immer im Bewußtsein, dass ihre Handlungen und Beweggründe von einem Menschen meiner Zeit erdacht wurden.

    Nemo tenetur :gruebel


    Ware Vreundschavt ißt, wen mahn di Schreipfelerdes andereen übersiet :grin


    :lesend  :lesend

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  • Hallo, janda!


    Zitat

    Original von janda
    Als Leserin muß ich aber sagen: mein Grund keine historischen oder historisierten Romane zu lesen ist der, dass ich es nicht mag, wenn vor einem historischen Setting Figuren sind, die denken und handeln, wie im hier und jetzt. Wenn eine Frau des Mittelalters emanzipatorische Thesen des 20. Jahrhunderts propagiert - um es mal überspitzt zu schreiben - fühle ich mich verschaukelt.
    Da frage ich mich, wozu da das historische Setting mehr gut ist, als nur als exotische Kulisse.
    Konsequent finde ich dann ja wenigstens noch, wenn man die neuzeitlich denkenden Figuren als Zeitreisende verkauft.


    Das ist meine persönliche Meinung und mein Geschmack in Bezug auf das Lesen. Ich ziehe dann die Jetztzeit als Kulisse vor, wenn die Figuren schon unserer Zeit entspringen.


    Glaubst du ensthaft, liebe Janda, dass ALLE historischen Romane nach diesem einen Muster gestrickt sind?


    So gerät ein "Genre in seiner Gesamtheit in Misskredit.