Wölfe - Hilary Mantel

  • Ich habe die englische Ausgabe dieses Romans mit 652 kleinbedruckten Seiten im Rahmen einer Leserunde beendet und bin begeistert. Trotzdem habe ich noch nie so lange (15 Tage!) für ein Buch, das mich begeistert, gebraucht.
    Das liegt an der ungeheuren Informationsfülle und dem Detailreichtum des Buchs. Die Autorin hat akribisch recherchiert. Manche Darstellungen wirken zunächst etwas unglaubwürdig, dabei sollte man eigentlich wissen, dass das britische Königshaus mit seiner Realität und Historie jede soap opera in den Schatten stellt. :grin Wenn man in anderen Quellen (Sekundärliteratur, Internet) parallel liest, was selbst für Tudor-Auskenner sehr sinnvoll ist, zeigt sich, wie gründlich die Autorin recherchiert und Einzelheiten dargestellt hat. Nicht nur das Parallellesen kostet Zeit, auch der anspruchsvolle Erzählstil mit dem Wechsel zwischen fortlaufender Handlung und Rückblicken (Erinnerungen) sorgt dafür, dass man eher langsam vorankommt. Es treten nicht nur unglaublich viele Figuren (allesamt historische Persönlichkeiten) auf, sondern mehr als zehn von ihnen heißen Thomas, auch in Bezug auf Marys und Janes herrscht kein Mangel.
    Neben der manchmal wirklich anstrengenden Detailliertheit lockert der oft humorvolle Erzählton die Lektüre auf. Die Charakterpräsentation der Figuren ist interessant, man merkt genau, welche Persönlichkeiten der Autorin sympathisch sind und welche sie nicht mag. Für mich war Cromwell als Hauptfigur, durch deren Augen der Leser die Ereignisse verfolgt, von besonderem Reiz, da es sich hier um eine noch unverbrauchte Perspektive handelt. Romane über Henry VIII und Anne Boleyn gibt es bereits wie Sand am Meer, Cromwell ist mir bisher nur als Nebenfigur in anderen Tudor-Romanen begegnet.
    Ich gebe für diesen Roman eine uneingeschränkte Leseempfehlung für Leser mit einem Faible für anspruchsvolle historische Romane, die bereit sind, sich einer "geistigen Herausforderung" zu stellen. Den Booker Prize hat "Wolf Hall" verdient gewonnen. Ich ziehe lediglich einen Punkt von der Höchstwertung ab, weil mir die Abschweifungen/Reminiszenzen manchmal etwas zu viel des Guten waren, sodass ich trotz guter Kenntnisse der im Roman behandelten Epoche den Überblick zu verlieren drohte.

  • Lange bin ich um dieses Buch herum geschlichen. Mindestens 4 Jahre, wie ich hier im Thread nachlesen konnte. Und dann hat es auch nach dem Kauf eine ordentliche Weile gesubbt. Ich habe mich echt nicht herangetraut. Wie dumm von mir.


    Mir hat "Wölfe" großen Spaß gemacht. Ich mochte den feinen Humor und die Art, wie Cromwell dargestellt wird. Er kommt sympathisch rüber, als Familienmensch, blitzgescheit und mit einer raschen und klaren Auffassungsgabe, schlagfertig und witzig. So kannte ich ihn noch nicht. Auch das Wiedersehen mit den Tudors hat mir große Freude bereitet. In jedem Buch kann man ja ihre Handlungen und Charaktere anders interpretiert wiederfinden. Hier gibt es mal wieder eine eigene Deutung der Dinge.


    Susannah hat sehr schön formuliert:

    Zitat

    Doch der stärkste, beeindruckenste und gleichzeitig komplexeste Punkt ist die Sprache des Romans. Sie kommt im schlicht daher, mit einfachen Sätzen, nicht um Verschachtelungen bemüht. Doch sie fordert einen aufmerksamen Leser, der keine Wörter oder Sätze überliest. Es bedarf einiger Seiten, um sich an den Schreibstil zu gewöhnen, doch diese Zeit sollte man dem Buch geben, denn es ist es wert. Ein Stilmittel, dessen sich Frau Mantel bedient, ist die Bezeichnung Cromwells als "er". Wann immer "er" etwas tut oder sagt, ist von Cromwell die Rede - und was auf den ersten Blick nur als Stilblüte daherkommt, trifft in Wirklich den Nagel auf den Kopf. Denn schließlich war es Cromwell selbst, der von allen immer als "die Person" bezeichnet wurde - eine Person ohne Persönlichkeit, ein Mensch, dem man keinen Namen gibt. Er.


    Besser könnte ich es nicht ausdrücken.


    Die Sprache und der Schreibstil Mantels sind etwas eigen und vielleicht auch schwierig. Ich habe nicht sehr lange gebraucht, um hineinzufinden. Ihr Cromwell kommt so schnell und so weit nach oben weil er einfach dazu fähig ist. Er ist der recht Mann zur rechten Zeit, er erkennt komlexe Verwicklungen sofort und weiß einen Ausweg. Heinrich braucht in seiner Zeit des Umbruchs so jemanden. Und Cromwell ist da. So einfach ist das manchmal. Gelegentlich musste ich zurückblättern, um einen Dialog noch mal zu lesen, nachdem ich einige Seiten weiter durch Cromwell erfahren hatte, um was es dabei wirklich ging und was die gesprochenen Worte tatsächlich aussagen sollten. Das ist wirklich gut gemacht von Hilary Mantel. Ich mochte ihren Cromwell.


    Ein wenig Vorkenntnis halte ich beim Lesen nicht für verkehrt, aber man hat ja google und wikipedia, wo man sich rasch schlau machen kann. Gerade die Geschehnisse auf dem Kontinent oder in der Vergangenheit werden nicht weiter erläutert. Es ist gewiss nicht zwingend notwendig, da alles genau zu wissen, aber bei manchen Dingen, auf die ich im Buch stieß, bin ich doch froh gewesen, darüber schon mal gelesen zu haben. Ich denke, die ein oder andere Anspielung hätte ich sonst evtl nicht verstanden (und habe gewiss auch viele nicht verstanden aus Unkenntnis der Dinge). Für mich war es einfach auch ein Wiedersehen mit alten Bekannten und deswegen eine doppelte Lesefreude.


    Zufällig bin ich durch ganz andere Umstände auf einen Blogbeitrag über Richard Rich gestossen, der ebenfalls im Buch eine kleine Rolle spielt.


    Jetzt muss schnellstmöglich "Falken" her, damit es weitergehen kann.

  • Mir geht es wie Darcy, ich bin auch 4 Jahre um das Buch rumgeschlichen. Normalerweise tendiere ich bei solchen Büchern zur englischen Version, aber da viele die Sprache als kompliziert bezeichnet haben hab ich mir jetzt doch die deutsche auf den Reader geladen und bin sehr gespannt....



    Wolf Hall wurde übrigens verfilmt und kommt Ende Januar bei BBC2 ins britische TV!

  • Enigma, ich habe es mit diesem Buch schon vor längerer Zeit wirklich versucht und auch die Hälfte geschafft, dann aber vorerst aufgegeben.
    Der Schreibstil ist mir einfach zu eigenwillig, ich konnte in diesem Roman einfach nicht "versinken", dabei interessiert mich das Thema sehr und auch die Sichtweite wäre interessant, aber das alles nützt in dem Fall leider nichts.
    Schade, denn es gibt ja seit geraumer Zeit einen zweiten Band und ein dritter Band wird wohl noch folgen, aber das wird wohl nichts für mich :nono
    Trotzdem hat diese Autorin zahlreiche Fans ?(
    LG Hedwig :lesend

  • Zitat

    Original von Darcy
    BBC Two hat eine Miniserie aus dem Buch gemacht. Man kann die Folgen auf der Website anschauen ->


    Hallo,
    wie hast du denn die Ländersperrung umgangen?
    Ute

  • Ländersperrung? Ich habe die erste Folge ohne Probleme gucken können. Ich habe aber auch diverse add-ons für Firefox. Vielleicht habe ich irgend sowas un der Art mal installiert. Da müsste ich mal tiefer forschen.


  • Im Moment kann ich dieser Rezension nur zustimmen. Sobald ich mit Lesen fertig bin, werde ich versuchen, eine Rezension dazu zu schreiben. Jedenfalls ist es ein Buch, dessen Lesen mir tatsächlich Spaß macht und dass ich wirklich nicht in einem Rutsch bewältigen will, dazu ist das Buch einfach viel zu interessant.

    --------------------------------
    Die gefährlichsten Unwahrheiten sind Wahrheiten, mäßig entstellt. (Georg Christoph Lichtenberg)

  • Für das Lesen von "Wölfe" habe ich für meine Verhältnisse recht lange gebraucht, fast mehr als 2 Monate. Wenn das bei mir der Fall ist, gibt es gewöhnlich zwei Gründe: ich erlebe das Buch als langweilig und will nicht weiterlesen oder mir macht das Lesen viel Spaß, aber es gibt eben viel beim Lesen zu erleben. Was eben bei Wölfe der Fall war.


    Dabei ist die Geschichte, die hier erzählt wird, auf den ersten Blick recht simpel - eine Aufsteigergeschichte zu einer Zeit, wo eigentlich der Stand und die Herkunft gewöhnlich das Leben eines Menschen bestimmten.


    Allerdings hat es auch in diesen Zeiten immer wieder Aufsteiger/innen gegeben, auch wenn diese letztendlich meistens nicht wirklich positiv gesehen wurden. (Aber ist das heute so viel anders?) Möglichkeiten boten eine kirchliche Laufbahn (wie eben z. B. bei einem Kardinal Wolsey) oder die Armee (Kondottiere bzw. Söldnerführer wie z. B. die "Bauernfamilie" Attendolo-Sforza, von denen es letztlich einer bis zum Herzog von Mailand brachte).


    Die Rosenkriege und die Tudors dürften zurzeit das beliebteste Thema am historischen Buchmarkt sein, zumindest in Deutschland. Ständig erscheinen neue Bücher, sowohl anglo-amerikanische Übersetzungen wie die vielen Bücher einer Philippa Gregory oder Werke deutschsprachiger Autoren/innen wie z. B. von Rebecca Gable. Ich vermute, dass viele Leser/innen aus dem deutschen Sprachraum heute über diesen Abschnitt der britischen Geschichte inzwischen viel besser informiert sind, als über die Geschichte ihres eigenen Landes.


    Allerdings hat es zu Henry VIII. auch in früheren Jahrhunderten bereits immer wieder Theaterstücke und später auch Bücher gegeben, wobei gerade Anne Boleyn und Elizabeth I. (und manchmal auch Catherine Howard, Katharina von Aragon oder Catherine Parr) oder auch Personen aus seinem Umfeld wie Thomas More besonders beliebt sind.


    Von Thomas Cromwell, die Hauptfigur in "Wölfe" lässt sich das nicht behaupten. In den Büchern über die Tudors / Tudorzeit, die ich in den 1980er und 1990er Jahren gelesen habe, war er bestenfalls eine Neben- oder Randfigur, wenn er überhaupt vorkam, und dann hatte er stets eine Negativrolle - der böse Kerl aus der Unterschicht, der für Henry sozusagen die Drecksarbeit macht, wobei Henry VIII. in manchen Darstellungen auf seine Kosten sogar noch entlastet wird.
    Wenn sein Tod in dieser Romane mal vorkommt, dann wird das entweder nur erwähnt oder als das verdiente Ende eines "Schurken" dargestellt, das Leser/in diesem gönnt.


    Hilary Mantle schreibt in ihrem Nachwort zu "Falken", der Fortsetzung von "Wölfe", dass es bis heute zu seiner Person nicht einmal eine Biographie gibt.


    So betrachtet, ist die Idee, die Geschichte von "ihm" (aus seiner Perspektive) erzählen zu lassen, eindeutig originell und bietet auch eine neue Sicht auf ohnehin schon recht oft erzählten Geschehnisse um den Sturz des Kardinals Wolseys (das war bereits Thema eines Dramas von Shakespeare), den Aufstieg und Fall der Anne Boleyn (die es sogar zur Opernheldin geschafft hat) oder der Aufstieg der Familie Seymour.


    Mantle macht nun aus Thomas Cromwell keinen strahlenden oder verkannten Helden. Ihr Cromwell ist ein früherer Söldner, nun erfolgreicher Anwalt, guter Beobachter, einer, der es lernt, andere zu manipulieren, kein Heiliger, aber ein Mann mit Fähigkeiten, einer, der seine Talente einzusetzen weiß und der seine Chancen nutzt, einer, der das Leben kennt und keine Illusionen hat, der es nicht gerade leicht hat, wie z. B. seine persönlichen Verluste (in der eigenen Familie) zeigen, die er ertragen muss. Dennoch, im Vergleich zu den meisten anderen Figuren gesteht Mantel ihm Integrität zu. (Gut erkennbar z. B. in seiner Beziehung zu Kardinal Wolsey.) Mantels Cromwell ist eine wirklich vielschichtige Romanfigur, und was ich besonders gelungen finde - dennoch ist er bei Mantel trotz allem ein "Durchschnittsmensch", der wesentliche Unterschied zu anderen historischen Figuren, die es im 21. Jahrhundert bisher zum Helden oder zur Heldin eines historischen Romans gebracht haben.


    Inwieweit entspricht Mantels Thomas Cromwell dem historischen Thomas Cromwell?
    Mantel liefert kein Literatur- oder Quellenverzeichnis. Im Nachwort allerdings gibt sie zumindest eine ihrer Quellen an, einen Zeitzeugenbericht über den Sturz des Kardinals Wolseys, auf den sie auch etwas näher eingeht. Offensichtlich hat sie Wert auf Primärquellen gelegt, die von ihr keineswegs unkritisch übernommen werden. Wichtiger aber ist, dass sie offensichtlich nicht nur viel und auch kritisch recherchiert, sondern ihre Recherche-Ergebnisse auch verwendet hat.
    Doch selbst wenn ihr Cromwell keineswegs dem historischen Thomas Cromwell entsprechen sollte, als interessante Romanfigur kann er in jedem Fall bestehen.


    Bei einem Buch ist es immer auch wichtig, hervorzuheben, was es von anderen Büchern unterscheidet, vielleicht sogar so einmalig macht:
    Bei Mantle sind es interessante, originelle und gelungene Charakteren (das gilt selbst für Nebenfiguren), Cromwell bildet hier nur sozusagen die Spitze.
    Die Dialoge nehmen viel Raum ein, verraten viel über die Figuren, Auseinandersetzungen und Konflikte werden meistens über sie ausgetragen, weniger durch direkt Gewalt (die allerdings vorkommt). "Wölfe" ist ein Roman, der eigentlich weitgehend ohne Action auskommt. (Für einen historischen Roman des 21. Jh.s ungewöhnlich.)


    Fazit: "Wölfe" und die Fortsetzung "Falken" gehören eindeutig zu den besten Romanen, die ich in den letzten Jahren gelesen habe, sogar zu den besten Romanen, die ich jemals gelesen habe.


    -------------------------


    Allerdings befürchte ich, dass es die Bücher "Wölfe" oder "Falken" nur deshalb auf den deutschsprachigen Buchmarkt geschafft haben, weil sie Übersetzungen aus dem Anglo-Amerikanischen sind und in Großbritannien zudem (und zu Recht) Preise gewonnen haben. Wäre Hilary Mantle eine Deutsche, hätte es dann ein Verlag gewagt, diese Bücher zu publizieren?

    --------------------------------
    Die gefährlichsten Unwahrheiten sind Wahrheiten, mäßig entstellt. (Georg Christoph Lichtenberg)

    Dieser Beitrag wurde bereits 3 Mal editiert, zuletzt von Teresa ()

  • Habe irgendwie keinen Thread zum dritten Band gefunden, "Spiegel und Licht".


    Die BBC hat angekündigt, dass die Dreharbeiten zum dritten Teil bald anfangen sollen.


    Regisseur ist Peter Kosminsky, das Drehbuch schreibt Peter Straughan. Thomas Cromwell wird wieder von Mark Rylance gespielt, Damian Lewis als Heinrich VIII. und Jonathan Pryce als Kardinal Wolsey. Jane Seymour wird von Kate Philipps gespielt und Litlit Lesser als Prinzessin Mary.


    Bin gespannt auf die Umsetzung. :-)


    https://www.bbc.co.uk/mediacen…nd-the-light-announcement


    ASIN/ISBN: 3832197249

    "It is our choices, Harry, that show what we truly are, far more than our abilities." Albus Dumbledore
    ("Vielmehr als unsere Fähigkeiten sind es unsere Entscheidungen, die zeigen, wer wir wirklich sind.")