Brutale Fiktion vs. Brutale Realität - ein Diskussionsanstoss

  • Liebe Eulen,


    Vorweg diese kurze Story:


    Gestern ist mir etwas sehr Unheimliches passiert!
    Ich arbeite gerade an meinem zweiten Thriller "Leichenfänger", der im März bei Ullstein Maritim erscheinen soll. Er spielt auf dem Segelschulschiff Gorch Fock...
    Ich habe da eine Szene geschrieben, in der jemand aus der Takelage stürzt und stirbt.
    In den Schreibpausen klicke ich gerne auch mal auf die Spiegel-Online-Seite. Was lese ich da? Die Nachricht von einer Offiziersanwärterin, die aus der Takelage der Gorch Fock stürzt und stirbt!
    Scheiße! Das hat mich erstmal fertig gemacht, und ich habe schnell an einer anderen, "harmloseren" Stelle des Buches weitergearbeitet.
    Wie leichtfertig man doch beim Schreiben (oder Lesen?) mit Brutalem, Unmenschlichem, Tödlichem hantiert, wird einem erst bewusst, wenn einen die Realität links außen überholt!


    Und damit bin ich bei meiner Frage, die zugegeben recht philosophisch/rhetorisch ist:


    - Warum, denkt ihr, lesen (oder schreiben) wir als gebildete, vielleicht sogar philanthropisch veranlagte Menschen eigentlich Bücher mit bisweilen blutigem, brutalem oder schlicht auch menschenverachtendem Inhalt?


    - Ist es ein Ventil? Oder macht gelesene Gewalt uns stumpfer?


    - Was passiert mit Euch/in Euch, wenn das "Ich kann das ganz gut trennen!" - Prinzip nicht mehr greift? Wenn die Realität die Fiktion einholt?


    - Wo ist Eure "Schmerzgrenze"? Ist es, wie bei Eskalina, der kleine Hund, der in Jensens "Wir Ertrunkenen" zu Tode gequält wird, oder wie bei mir, die Erwähnung verstümmelter Kinder im Klappentext von Fitzeks "Augensammler", der mich davon abhalten wird, jemals dieses Buch auch nur aufzuschlagen. (Obwohl ich in meinen eigenen Büchern, vor allem auch den Drehbüchern ja auch nicht gerade zimperlich bin!)


    Zugegeben, ein weites Feld, und nicht gerade ein weiches!
    Ich bin gespannt auf Eure Antworten!


  • Ohje, das kann ich mir richtig vorstellen dass es einem da kalt den Rücken runter läuft. Das ist ja schon richtig gruselig. Vor allem das "zeitgleiche" Geschehen. Da fragt man sich wirklich, wie man "Zufall" für sich selbst definiert, nicht wahr? (Nicht dass hier jetzt der Eindruck entsteht ich glaube an Übernatürliches etc., aber manche Dinge... aber gut, Off-Topic *g*)



    Zitat


    Und damit bin ich bei meiner Frage, die zugegeben recht philosophisch/rhetorisch ist:


    - Warum, denkt ihr, lesen (oder schreiben) wir als gebildete, vielleicht sogar philanthropisch veranlagte Menschen eigentlich Bücher mit bisweilen blutigem, brutalem oder schlicht auch menschenverachtendem Inhalt?- Ist es ein Ventil? Oder macht gelesene Gewalt uns stumpfer?



    Da kann ich nur für mich als Leser antworten:
    Es unterhält mich. Schlicht und einfach. Und je mehr stumpfsinnige Gewalt ich lese, umso schwerer wird es beim nächsten Buch mit mitzureissen.
    Abgeschnitte Arme? Kenn ich schon.
    Abgebissene Zehen? Kenn ich schon.
    Grausam gefolterte Menschen? Kenn ich schon.


    Zitat

    - Wo ist Eure "Schmerzgrenze"? Ist es, wie bei Eskalina, der kleine Hund, der in Jensens "Wir Ertrunkenen" zu Tode gequält wird, oder wie bei mir, die Erwähnung verstümmelter Kinder im Klappentext von Fitzeks "Augensammler", der mich davon abhalten wird, jemals dieses Buch auch nur aufzuschlagen. (Obwohl ich in meinen eigenen Büchern, vor allem auch den Drehbüchern ja auch nicht gerade zimperlich bin!)


    Gequälte Kinder? Könnte ich glaube ich problemlos lesen. Aber das mit dem Hund... Glückwunsch, da IST eine Schmerzgrenze. Jetzt fragt mich nicht, warum ich bei Menschen alles ertrage und bei Tieren Schluss ist. Keine Ahnung. Ich weiss es nicht genau.


    Liegt vielleicht daran, dass ich viele Original PETA Aufnahmen gesehen habe. Mag sein dass da der Unterschied besteht, die Aufnahmen waren real, es sind echte Tiere gestorben.



    Sicher sterben in der Realität auch Menschen, aber davon wurde ich (zum Glück) noch nicht Zeuge.


    (Alles reine Mutmaßungen)



    (Ist klar was ich sagen will? Hilfe ich kann mich immer so schlecht ausdrücken :help)



    LG FrauMaus

  • Das Thema hatte ich vor zwei Jahren, als keine 50m Luftlinie von uns im Park ein ermordetes Mädchen gefunden wurde, das auch noch so alt wie meine eigene kleine Tochter war. Danach war hier Ausnahmezustand. Wenn ich mit meinem Mädel an der Hand unterwegs war, wurde ich von Omas angesprochen, ja gut auf das Kind aufzupassen. Mir war unwohl, Kaya die zehn Meter zu ihren Freundinnen alleine gehen zu lassen und ich habe über ein Jahr gebraucht, bis ich mich wieder in diesen Park traute.
    Seitdem sind vermisste und/oder ermordete Kinder in Büchern für mich absolutes No-Go, da kriecht mir sofort wieder die Angst von damals den Rücken hoch.


    Seltsam finde ich allerdings, das der gequälte Hund in "Wir Ertrunkenen" ein Problem ist, die vom Lehrer gequälten Kinder dagegen nicht. Allerdings habe ich das im Forum hier schon öfters (ich glaube, dieses Wort gibt's gar nicht :gruebel) gelesen, dass übelste Blutschocker kein Problem sind, solange kein Hund dran glauben muss. Was selbst mich als bekennende Misanthropin wundert.


    Woher das Bedürfnis nach möglichst blutigen Schockern kommt, weiß ich allerdings auch nicht, die weitestgehende Abwesenheit von Tod und Gewalt in unserem Alltag ist als Erklärung wohl zu kurz gegriffen. Wenn ich mir zum Beispiel die alten isländischen Märchen angucke, geht's da auch ganz schön zur Sache, blutige Geschichten scheinen also schon lange ein Menschheitsbedürfnis zu sein

    Menschen sind für mich wie offene Bücher, auch wenn mir offene Bücher bei Weitem lieber sind. (Colin Bateman)

  • Liebe DraperDoyle,
    noch so ein Zufall - aber nur "en miniature": Meine Tochter heißt auch Kaya!
    Was die Haltung zur Tierquälerei betrifft:
    Vermutlich ist das moderne Haustier zu einer Art Fetisch geworden, etwas, das man in Anspielung auf Harry Potter vielleicht als Heiligtum bezeichnen könnte, ein Schrein, in den Herrchen und Frauchen den menschlichen, verletzlichen Teil ihrer Seele schließen? (Hmm... Klingt zugegeben etwas schwurbelig :pille)

  • Wenn ich merke, dass ein Buch brutal ist, breche ich es ab. Ich hatte letzten Winter das Buch eines Schotten gelesen, in dem kleine Jungen ermordet und kastriert worden sind - das finde ich extrem geschmacklos. Auch will ich im Detail nicht mit Beschreibungen von leichen konfrontiert werden.


    Ich sehe auch grundsätzlich keine gewalttätigen Filme, wie z.B. Saw, weil ich denke, es gibt genug kranke Hirne dort draussen. Mich unterhät sowas nicht, es stößt mich ab.

  • Ein Buch sollte die Schilderung "brutaler Realitäten" nicht ausblenden, weil das Leben nun einmal brutal und grausam sein kann.


    Schriebe man ein Buch über den Krieg und ließe die kriegstypischen Beschreibungen außen vor, so würde diese Buch nichts taugen. Manche Darstellungen müssen halt realistisch beschrieben werden oder wie will man sonst die Schrecken eines Krieges darstellen?


    Indem man die Augen vor der Wirklichkeit verschliesst, wird diese Wirklichkeit halt nicht besser. Es ist nun einmal nicht alles schön und Friede, Freude Eierkuchen - ganz im Gegenteil. Und Bücher sollten schon - wenn sie sich denn mit Normalthemen befassen - die Realität widerspiegeln.

    Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst. (Evelyn Beatrice Hall)


    Allenfalls bin ich höflich - freundlich bin ich nicht.


    Eigentlich mag ich gar keine Menschen.

  • Zitat

    Original von woelfchen
    Ich sehe auch grundsätzlich keine gewalttätigen Filme, wie z.B. Saw, weil ich denke, es gibt genug kranke Hirne dort draussen. Mich unterhät sowas nicht, es stößt mich ab.


    Seh ich genauso!
    Ich lese sowas auch nicht bzw schaue mir sowas nichts an.
    Dazu hab ich ein zu zartes Gemüt. :grin

  • Vielleicht bin ich ja naiv, aber ich weiß nicht, was die Horden metzelnder und folternder Serienmörder, die mich aus dem Thrillerregal im örtlichen Buchhandel anspringen, mit der Wirklichkeit zu tun haben sollen. :gruebel


    Jan, da hast du wirklich einen schönen Namen für deine Tochter ausgesucht :grin
    Die Haustierschrein-Theorie klingt tatsächlich etwas verschwurbelt, aber bestand dann früher die Menschen keine Notwendigkeit, den verletzlichen Teil der Seele wegzuschließen, hatten sie gar keine verletzliche Seele? Oder erfüllte diese Aufgabe früher die Religion?

    Menschen sind für mich wie offene Bücher, auch wenn mir offene Bücher bei Weitem lieber sind. (Colin Bateman)

  • Bei mir ist bei Pädophilie Schluss- in Gedanken, angedeutet, ausgeführt- wie auch immer. Ich habe vor Jahren mal ein Buch deswegen abgebrochen, nämlich "So finster die Nacht" von Lindqvist (wobei mir gerade einfällt, daß ich "Das Löwenmädchen" von Hansen beendet habe, allerdings mit einem ganz dicken Kloß im Hals).


    Wirklich blutrünstige Thriller lese ich keine- habe ich auch nie. Ich hatte mal eine Steven King-Phase, so mit 13/14, aber das zählt ja nicht wirklich.
    Ich mag mehr Geschichten, die mit der Atmosphäre arbeiten.


    Ob es mir mehr ausmacht, wenn ein Tier oder ein Mensch gequält wird? Kann ich nicht sagen, ist je nachdem wahrscheinlich beides ein Ausschlußkriterium.



    Ich bin Sozialarbeiterin- ich kenne die Realität, dann muß ich nicht auch noch in Büchern darüber lesen. Ich will gegenüber von Grausamkeiten nicht so abstumpfen, daß ich sie mir zum Vergnügen auch noch in meiner Freuzeit antue- wobei ich niemanden verurteile, der gerne Thriller liest.


    Voltaire :
    Sicherlich sollen auch insbesondere Romane, welche Realthemen behandeln, nichts beschönigen oder weglassen. Häufig sollen sie den Leser ja auch aufrütteln oder ihm die Augen öffnen.
    Ich brauche jedoch als Ausgleich zu meiner Arbeit ein kleines bißchen "Realitätsflucht", deshalb lese ich, ich nenne sie mal: Bücher mit Anspruch, nur dann, wenn ich Urlaub habe und damit sowieso etwas Abstand von der Realität habe.


    Und ich sehe in solchen Büchern auch einen Unterschied zu rein fiktiven Thrillern, die die Grausamkeit zur Unterhaltung einsetzen- wohlgemerkt nicht unbedingt ein qualitativer Unterschied, aber vielleicht was die Intention des Autors betrifft.

    Ich weiß nicht, was das sein mag, das ewige Leben.
    Aber dieses hier, das diesseitige, ist ein schlechter Scherz. (Voltaire)

  • [quote]Original von Voltaire
    Ein Buch sollte die Schilderung "brutaler Realitäten" nicht ausblenden, weil das Leben nun einmal brutal und grausam sein kann.


    Ahhh, mein lieber Voltaire, da könnte schon mal einer der Hasen im Pfeffer liegen: Könnte es nicht sein, dass gerade literarisch oder filmisch aufgearbeitete, also zum "Konsum" vorbereitete Grausamkeit einen Riegel vor die Wahrnehmung "echter" Grausamkeiten schiebt?
    Ein Buch kann ich unterbrechen oder weglegen, einen Film wegzappen oder in der fraglichen Szene kurz mal in der Popcorntüte rumfummeln...


    Außerdem folgt die og. Konsumgüter-Grausamkeit den Gesetzen des Marktes: Sie muss sich ständig neu erfinden und sich toppen, wenn sie noch wahrgenommen werden will.
    M.E. entfernen sich allzu viele dieser von Dir geforderten realistischen Beschreibungen ins Surreale. Weniger der Authentizität verpflichtet, als der Quote oder den Verkaufszahlen!


    Bei meinen Recherchen für ein Drehbuch habe ich mal mit einem erfahrenen LKA-Beamten gesprochen. Der sagte: "Wissen Sie, wenn ich immer diese ganzen Schusswaffen in den Fernseh-Krimis sehe, wird mir ganz anders... Das hat nichts mit der Realität zu tun. Ich habe in 30 Jahren Polizeiarbeit keinen einzigen Schuss im Dienst abgefeuert." Schlag mal eine Fernsehzeitung auf. Du siehst keine TV-Ermittlerfigur, die nicht mit einer Waffe in der Hand posiert.


    Und noch ein Gedanke: Brutalität entsteht, wie auch Schönheit, im Auge des Betrachters...
    Daher die Frage nach der subjektiven Schmerzgrenze...

  • Es ist ja generell festzustellen, dass der Trend zu immer grausameren, abstruseren und inszenierten Morden geht (was jetzt Krimis betrifft). Aber als genau das kommt es eben bei mir auch an: ein Trend - ich weiß, der Autor erzählt hier nur Fiktives und deshalb muss es mich nicht berühren.
    Daher ist die Frage bei mir eher ein WIE als ein WAS. Wenn es bei mir so ankommt, als könnte genau das passiert sein (oder auch mir passieren), ob geplant oder weil ein dummer Zufall (da sind wir wieder beim Thema)mitspielt, dann berührt mich das viel eher als grausame Beschreibungen - und dabei ist es ganz nebensächlich, ob das Opfer ein Tier, Kind, Alter, Kranker oder sonstwas ist. Das sind dann auch die Bücher die mir eher in Erinnerung bleiben.

    Liebe Grüße :wave


    Waldmeisterin


    Every day I give my family two choices for dinner: take it or leave it!


    Nulla unda tam profunda quam vis amoris furibunda

  • Die Nachricht hab ich gestern auch gelesen und mußte auch erst mal an Dein Buch denken.
    Allerdings an das andere - die Farbe - weil dort eben auch ein Segellschulschiff vorkam und für mich die Gorch Fock eben DAS Segelschulschiff ist, das ich beim lesen des Buches auch vor Augen hatte.


    Macht die Gewalt abgestumpft? Hmm.
    Ich weiß nicht.
    Ich kann heute wesentlich blutigere Bücher lesen, als vor Jahren - mag sein, daß da ein gewisser Gewöhnungseffekt eine Rolle spielt.
    Aber es kommt bei mir auch auf das Buch an.
    Es gibt Bücher, bei denen ich nicht weiterlesen mag, wenn sie zu brutal sind und die Brutalität so etwas wie eine Hauptrolle spielt.
    Wenn ich das Gefühl bekomme, dem Autoren geht es nur um Steigerung von Brutalität und des Ausdruck dessen.
    Dann wieder gibt es Bücher, bei denen es mich weniger stört, da sie für mich einfach in die Handlung gehören. Beispielsweise die ganzen Pathologenbücher.


    Bei Büchern die reale Gewalt schildern, kann ich diese auch weniger ab. Wie beispielsweise die in ganzen biographischen Büchern über die NS Zeit, die ich oft lese.
    Also - ich kann sie zwar ab, weil ich weiß, daß es tatsächlich so war, aber es geht mir wesentlich näher, als bei fiktiven Geschichten



    Schlimmer finde ich die reale Brutalität.
    Ich kann es wesentlich weniger ab bei einem realen Vorkommnis, als in einem fiktiven Buch.


    Praktisch - der echte Sturz von der Gorch Fock macht mich viel mehr betroffen, als es der in einem Buch könnte.


    Sozusagen hat die Buchgewalt mich also noch nicht abgestumpft für die Wirklichkeit.



    Und das Phänomen bei Hunden wundert mich eher, da das bei mir nie vorkommen würde.
    Ich finds immer noch schlimmer, wenn Kindern oder Menschen etwas passiert auch in Büchern.
    Das mag daran liegen, daß ich da eher Menschen als Tierfeund bin.

  • Hallo Jan,


    ein spannendes Thema, das Du mit Deinem Beitrag aufgegriffen hast und mich als Leserin bei meinem aktuellen Buch ebenfalls betrifft.
    In meiner Rezension werde ich mehr dazu schreiben.


    Die Vorfälle auf der Gorch Fock von gestern und in der Vergangenheit (es ist schließlich nicht der erste Unglücksfall auf dem Segelschulschiff) verfolge ich schon lange und lösen auch bei mir eine gewisse Betroffenheit aus.


    Was Brutalität in Büchern betrifft, bin ich nicht gerade zimperlich; mehr Zuschaffen machen mir eine unzählige Andeutungen und eien gewisse Subtilität, die den Rest der Fantasie des Lesers überlässt. Wenn sich diese stilistische Vorgehensweise ins Unermessliche steigert, kann das bei mir zum Abbruch des Buches führen. Ich mag nicht ausschließen, dass das auch grundsätzlich damit zusammenhängt, der menschlichen Natur allerlei zuzutrauen und mir deshalb im Geiste den worst case der witeren Handlung vorstelle.


    Zitat

    Original von Voltaire: Schriebe man ein Buch über den Krieg und ließe die kriegstypischen Beschreibungen außen vor, so würde diese Buch nichts taugen. Manche Darstellungen müssen halt realistisch beschrieben werden oder wie will man sonst die Schrecken eines Krieges darstellen? Indem man die Augen vor der Wirklichkeit verschliesst, wird diese Wirklichkeit halt nicht besser. Es ist nun einmal nicht alles schön und Friede, Freude Eierkuchen - ganz im Gegenteil. Und Bücher sollten schon - wenn sie sich denn mit Normalthemen befassen - die Realität widerspiegeln.


    Sicherlich hast Du Recht. Die Realität kommt nicht ohne Brutalität aus.
    Aber: Wenn ein Autor sich in Gewaltszenen weidet und der Inhalt dahinter zurücktritt, dann darf und muss es dem Leser erlaubt sein, ein Buch unbeendet zuzuschlagen.

  • Hallo Jan,
    mit diesem Thema beschäftige ich mich schon lange und immer wieder, wäre aber nie auf die Idee gekommen, es hier zur Diskussion zu stellen. Man kann auch sicher nicht in einem Beitrag alle Gedanken dazu ausdrücken. Aber vll wird es ja eine ausführlichere, intensive Diskussion.

    Zitat

    Original von JanvonderBank
    (...) Ich habe da eine Szene geschrieben, in der jemand aus der Takelage stürzt und stirbt.
    In den Schreibpausen klicke ich gerne auch mal auf die Spiegel-Online-Seite. Was lese ich da? Die Nachricht von einer Offiziersanwärterin, die aus der Takelage der Gorch Fock stürzt und stirbt!
    Und damit bin ich bei meiner Frage, die zugegeben recht philosophisch/rhetorisch ist:


    - Warum, denkt ihr, lesen (oder schreiben) wir als gebildete, vielleicht sogar philanthropisch veranlagte Menschen eigentlich Bücher mit bisweilen blutigem, brutalem oder schlicht auch menschenverachtendem Inhalt?


    Die Frage kann vielleicht tatsächlich nur von Philosophen oder Psychologen schlüssig beantwortet werde. Vielleicht ist die Fähigkeit blutige, brutale, menschenverachtende Inhalte ohne geistige und/oder seelische Schäden aufzunehmen zutiefst im menschlichen Wesen verankert? Warum sonst überstehen Kinder schadlos die sog. Kindermärchen? Die sind ja auch teilweise an menschenverachtender Brutalität nicht zu überbieten.


    Zitat

    - Ist es ein Ventil?


    Wofür könnte es eins sein? Wird die reale Brutalität erträglicher, wenn ich mich auch noch beim Lesen damit konfrontiere? Beim Schreiben wird's ja fast noch schlimmer, weil ich dann auch noch in meiner eigenen Phantasie Unerträgliches entstehen lasse.

    Zitat

    Oder macht gelesene Gewalt uns stumpfer?


    Das mag sicher auch der Fall sein -vielleicht sogar viel häufiger, als man es sich vorstellen kann (und als man es sich wünscht). Und so etwas macht mir Angst. Deshalb hoffe ich einfach mal (naiv?), dass das nur eine Minderheit betrifft.


    Zitat

    - Was passiert mit Euch/in Euch, wenn das "Ich kann das ganz gut trennen!" - Prinzip nicht mehr greift? Wenn die Realität die Fiktion einholt?


    Ganz banal gesagt: Dann ist (bei mir) "Feierabend". Deshalb kann ich mir schon mal ganz gut einen Tatort, aber niemals XY ungelöst ansehen. Aus diesem Grund kann ich keine Bücher mit ausführlichen Folterszenen lesen.
    Ganz unerträglich wird es, wenn es um physische und psychische Gewalt gegen Kinder geht, wie z.B. in Die Spur der Kinder von Hanna Winter. Völlig unbegreiflich ist für mich auch ein Romanende, bei dem ein Auftragskiller in ein normales Leben davon kommt, weil er Frau bzw. Geliebte und seinen eigenen Sohn sooo liebt, während er jahrelang zugesehen hat, wie andere Kinder entführt und getötet wurden, um ihre Organe zu transplantieren. (Der Tod wartet nicht von Stefanie Baumm)


    Zitat

    - Wo ist Eure "Schmerzgrenze"? Ist es, wie bei Eskalina, der kleine Hund, der in Jensens "Wir Ertrunkenen" zu Tode gequält wird, oder wie bei mir, die Erwähnung verstümmelter Kinder im Klappentext von Fitzeks "Augensammler", der mich davon abhalten wird, jemals dieses Buch auch nur aufzuschlagen. (Obwohl ich in meinen eigenen Büchern, vor allem auch den Drehbüchern ja auch nicht gerade zimperlich bin!)


    Meine Schmerzgrenze ist bei jeglicher Gewalt gegen Mensch und Tier sehr schnell erreicht. Die Vorstellung zu welchem Sadismus Menschen überhaupt fähig sein können und nur der Versuch, mir die Qualen und unerträglichen Ängste von Betroffenen/Opfern vorzustellen, führt bei mir sehr schnell zu unbeschreiblicher Wut auf Menschen, die sich das Recht nehmen, Anderen (womöglich emotional Abhängigen und/oder Hilflosen) so etwas anzutun.


    Zitat

    Zugegeben, ein weites Feld, und nicht gerade ein weiches!
    Ich bin gespannt auf Eure Antworten!


    ...und ich auf deine.... :-)
    z.B. auf die Frage: wie empfindest du dich selbst, wenn deine Phantasie für Drehbücher rauhe bis brutale Szenen erfindest?
    :wave

    lg butterfly49

    "Sapere aude" "Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen."
    (Quintus Horatio Flaccus)

    Dieser Beitrag wurde bereits 3 Mal editiert, zuletzt von butterfly49 ()

  • Zitat

    Original von grottenolm
    Bei mir ist bei Pädophilie Schluss- in Gedanken, angedeutet, ausgeführt- wie auch immer.
    Voltaire :
    Sicherlich sollen auch insbesondere Romane, welche Realthemen behandeln, nichts beschönigen oder weglassen. Häufig sollen sie den Leser ja auch aufrütteln oder ihm die Augen öffnen.
    Und ich sehe in solchen Büchern auch einen Unterschied zu rein fiktiven Thrillern, die die Grausamkeit zur Unterhaltung einsetzen- wohlgemerkt nicht unbedingt ein qualitativer Unterschied, aber vielleicht was die Intention des Autors betrifft.


    :write :write :write

    lg butterfly49

    "Sapere aude" "Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen."
    (Quintus Horatio Flaccus)

  • Zitat

    Original von butterfly49


    Wofür könnte es eins sein? Wird die reale Brutalität erträglicher, wenn ich mich damit auch noch beim Lesen damit konfrontiere? Beim Schreiben wird's ja fast noch schlimmer, weil ich dann auch noch in meiner eigenen Phantasie Unerträgliches entstehen lasse.


    Hmm, genau den Punkt seh ich anders.
    Konfrontation ist das Wort.
    Konfrontaiton ist in einem Satz - vermeidender, als Vermeidung als solches.


    Gerade durch das Konfrontieren , in dem Fall mit dem herausschreiben, besteht eine höhere Wahrscheinlichkeit ein Thema wirklich zu verarbeiten als mit dem verdrängen desselben.


    Auf den ersten Blick wirkt es zwar nicht so, aber auf Dauer läßt einen das Thema bei Konfrontatino schneller los, als man es mit Vermeidung erreichen würde.
    Vermeiden als solches ist ja lediglich Verdrängen - also es bleibt irgendwo im Unbewußten hängen, auch wenn es nicht immer greifbar ist. Und dabei besteht die Gefahr, daß es in den ungünstigsten Momenten wieder zum Vorschein kommt und man dann nichts an der Hand hat, damit dann umzugehen.

  • Good point, Johanna...


    Aber was ist, wenn ich (unfreiwillig) mit etwas konfrontiert werde, was ich so noch gar nicht kenne, oder was es zumindest in meiner Lebensrealität nicht gibt. Oder nur deshalb, weil ich darüber lesen muss?!


    Ist das dann eine Zwangskonfrontation?


    @ Butterfly
    wie empfindest ich mich selbst, wenn meine Phantasie für Drehbücher rauhe bis brutale Szenen erfindet?
    Ja, das ist ganz komisch... :gruebel Wenn ich selber "Herr des Bildes" bin, steht scheinbar das Handwerkliche, die akkurate Formulierung oder der gelungene dramaturgische Effekt im Fokus zu stehen.


    Vielleicht ist das auch eine Erklärung: Wie weit prescht man als Schreiberling mit Gewaltdarstellungen vor, um sein Publikum "zu packen"? (man will es ja besonders gut machen.) Und andersherum: Wann ist es "dem" Publikum zuviel? Oder zu wenig?


    Generell versuche ich "sinnlose" Gewalt zu vermeiden. Der Spiegel hat damals über meinen Kiel-Tatort "Schichtwechsel" (der auffe Werft) geschrieben "Erstaunlich gewaltfrei!"... Ich war total stolz, weil ich tatsächlich drauf geachtet habe, dass Borowski und Co im ganzen Film nicht einmal mit der Knarre rumhantieren müssen. (Leichen gab's natürlich trotzdem zwei ;.)

  • Zitat

    Original von JanvonderBank
    Good point, Johanna...


    Aber was ist, wenn ich (unfreiwillig) mit etwas konfrontiert werde, was ich so noch gar nicht kenne, oder was es zumindest in meiner Lebensrealität nicht gibt. Oder nur deshalb, weil ich darüber lesen muss?!


    Ist das dann eine Zwangskonfrontation?


    Hmm, so gesehen könnte es eine Art traumatisches Erleben sein.
    Aber nicht zwangsläufig.
    Kommt drauf an, wie gut es sich in das bisher vohandene "Wissen & Erleben" integrieren läßt.
    Ob es sich mit anderen Dingen vergleichen läßt, die man schon mal erlebt hat.


    Dann muß man sehen, ob es sich so damit verarbeiten läßt oder eben zu etwas wie eine Art traumatische Erfahrung führt.


    Die dann widerum auch mit einer Art Konfrontation "behandelt" werden kann, allerdings dann keine Zwangs - sondern gezielter Konfrontation unter Kontrolle.



    Ok, ich hör auch wieder auf, ich merk schon, bei Psycho Themen muß ich immer abschweifen und ins Detail gehen - ist bei mir so ein innerer Zwang :grin

  • Zitat

    Warum, denkt ihr, lesen (oder schreiben) wir als gebildete, vielleicht sogar philanthropisch veranlagte Menschen eigentlich Bücher mit bisweilen blutigem, brutalem oder schlicht auch menschenverachtendem Inhalt?


    Warum gehen alle in die Klötzer, wenn auf der Autobahn-Gegenfahrbahn ein haariger Unfall passiert ist? Um zu helfen? Mitnichten. Sie sind sensationsgeil und weiden sich am Schicksal der anderen, verspüren einen lustvollen Grusel. Das ist offenbar ein zutiefst "menschliches" Verhalten, diese Lust an Nackenschlägen, die andere treffen - je doller, umso besser. Solange man nicht selbst betroffen ist, gibt das ein diffuses Gefühl von Sicherheit. Der Fall Natascha Kampusch erregte so viel Aufsehen, weil es Vergleichbares in jüngster Zeit nicht gegeben hatte. Ein ähnlicher Fall kurz darauf hätte nicht mal mehr zehn Prozent der Medien- und Publikumsresonanz generiert. Öffentlich gibt man sich betroffen und heuchelt Anteilnahme, aber eigentlich findet man das irgendwie geil. Und je schlimmer, verheerender, grausiger die Vorfälle sind, umso stärker wird dieser Kitzel. Exakt diesen Kitzel verschaffen - in einer Form von Ersatzbefriedigung - Thriller, Horrorromane und ähnliches. Das ist nicht abwertend gemeint. Es liegt in der Natur der Sache. Wir ahnen in solchen Momenten, wie hauchdünn die Zivilisationshülle ist, die uns umgibt, und freuen uns daran, dass sie - vorläufig - noch hält.


    Die meisten - fast alle? - Menschen sind extrem egozentrisch (dieses Adjektiv gilt ohnehin nur für Menschen). Wenn's so richtig ans Eingemachte geht, sind ihnen fast alle anderen Menschen herzlich egal. Das ist nunmal so.

  • Zitat

    Original von Tom


    Warum gehen alle in die Klötzer, wenn auf der Autobahn-Gegenfahrbahn ein Und je schlimmer, verheerender, grausiger die Vorfälle sind, umso stärker wird dieser Kitzel. Exakt diesen Kitzel verschaffen - in einer Form von Ersatzbefriedigung - Thriller, Horrorromane und ähnliches. Das ist nicht abwertend gemeint. Es liegt in der Natur der Sache. Wir ahnen in solchen Momenten, wie hauchdünn die Zivilisationshülle ist, die uns umgibt, und freuen uns daran, dass sie - vorläufig - noch hält.


    Als Biologin frage ich mich bei diesem Argument immer, wo der evolutionsbiologische Vorteil liegen soll, seinen Mitmenschen, die nicht zur eigenen sozialen Gruppe gehören, ein möglichst fieses Schicksal zu wünschen?


    Vielmehr scheint eine gewisse Grausamkeit eher eine Begleiterscheinung der Zivilsation selbst zu sein. Gerade die als besonders brutal empfundenen ritualisierten Tötungen sind doch eine kulturelle Entwicklungen während der "Menschwerdung" und nicht naturgegeben.

    Menschen sind für mich wie offene Bücher, auch wenn mir offene Bücher bei Weitem lieber sind. (Colin Bateman)