'Lange hatte ich Angst in der Nacht' - Seiten 001 - 083

  • ... Oder haben sie, aus welchen Gründen auch immer, halt nicht wahrgenommen oder wieder vergessen. Daher habe ich mich gefragt, ob die Hinweise für genau solche LeserInnen ausreichend sind, weil ich das Buch in dieser Hinsicht als sehr knapp, wenn nicht gar kryptisch wahrnehme.

    Den Wunsch nach einem Info-Teil finde ich verständlich. Andere Leser, denen die historischen Ereignisse noch präsent sind, werden ihn evtl. überflüssig finden. Die Erzählung könnte theoretisch ja allgemeingültig stellvertretend für einen beliebigen Bürgerkrieg stehen.Es ist die Frage, ob eine relativ kurze Erzählung die Aufgabe hat, Leser mit historischen Fakten zu versorgen. Würden wir das von einem langen Roman auch fordern?


    Thema des Buches ist die Aufgabe für den Schreib-Workshop und was sie bei Lehrerin und Schüler bewirkt. Wenn Arsène selbst die Fakten nicht ermittelt hätte, würde er nur seine persönlichen Erlebnisse kennen.


    Ich kann mir vorstellen, dass ein Ausschnitt wie hier, wie unter einem Vergrößerungsglas, ähnlich einer Kurzgeschichte eindringlicher wirken kann als ein Text von 300 Seiten + historischem Anhang.

  • Ich meinte auch keinen historischen Anhang, sondern eher mal ein paar hier und da eingestreute Begriffe, sodass man ggf. eher weiß, wonach man googeln muss, wenn es beim Wort "Ruanda" allein noch nicht klingelt. Völkermord, Genozid, Tutsi... Das dürften auch LeserInnen aushalten, die bereits informiert sind.


    Sicher sind manche Geschehnisse übertragbar, aber das war ja etwas Anderes als ein beliebiger Bürgerkrieg. :-(

  • Ich habe nun leider - trotz pünktlichem Beginn - etwas länger für den ersten Abschnitt gebraucht. Die Du-Form hält mich von den Ereignissen etwas auf Distanz, ist aber interessant. Suzannes Vatergeschichte verwirrt mich etwas. Bei dem kurzen Büchlein hätte ich nicht noch ein zweites Schicksal gebraucht, Arsenes ist schon brisant genug.


    Die damaligen Ereignisse in Ruanda sind mir auch nicht mehr so präsent. Ich werde daher nun mal ein wenig im Netz auf die Suche gehen.

  • Es ist auf jeden Fall kein Buch, was man mal so eben auf Toilette oder im Bus liest,

    Genau deshalb brauche ich hier besonders lange. Ich bin etwas schwer in das Buch hineingekommen.


    der Klappentext verrät schon viel zu viel.

    Das finde ich jetzt nicht.


    Was ich mir aber gerade interessanterweise auffällt: Der Klappentext im Buch stellt Suzannes Sicht dar. Der auf dem Buchdeckel Arsènes.



    Yasmine Ghata wählt eine interessante und ungewöhnliche Erzählperspektive, bei der sich mir sofort die Frage stellt: Wer ist das „Ich“, das dieses „Du“ ausspricht?

    Das habe ich mich auch schon seit dem Lesen der Leseprobe gefragt.

    Ich hatte so einige Überlegungen:

    • Zum einen war da der Gedanke, dass es seine Großmutter sein könnte. Im Prinzip so etwas ähnliches, was du Nadezhda dachtest.
    • Dann war da die Überlegung, dass es Arsène ist, der einige Jahre nach diesem Schreibkurs seine Erlebnisse aufschreibt. Denn ich kann mir nicht vorstellen, dass er zum Zeitpunkt des Kurses so hätte schreiben könne. Die Du-Form könnte ich mir damit erklären, dass es ihm einfacher fiel, über seine Erlebnisse zu schreiben.
    • Ein weiterer Gedanke war, dass hinter diesem Erzähler keine wirkliche Person steckt und mit dem ganzen Geschehen gar nichts zu tun hat. Es ist einfach nur ein Erzähler. Ich überlegte, was die Du-Form bezwecken könnte. Deshalb hatte ich spaßeshalber beim Lesen die Perspektiven gewechselt. Ich las sie in der Ich-Perspektive und Er-Perspektive. Ich stelle für mich fest, dass das Erzählte in der Du-Form irgendwie eine Spur heftiger und intensiver in meinem Kopf klinkt. Erklären kann ich mir das noch nicht.
    • Dass es Suzanne selbst ist, die das aufschreibt, hatte ich ganz am Anfang gedacht, aber dann wieder verworfen. Nachdem man aber jetzt weiß, dass sie Arsènes Erlebnisse aufschreibt, passt der Gedanke wieder.

    ==> Auf jeden Fall bezweckt die Du-Form für mich eines: Es vermittelt mir das Gefühl, dass jemand mit seinen eigenen Erlebnissen überfordert ist oder so ähnlich. Es intensiviert die Handlung für mich.

    ABER: Ich musste mich zunächst erst einmal an diese Erzählform gewöhnen, weshalb ich vom eigentlichen Inhalt ziemlich abgelenkt wurde und Teile des Textest zweimal lesen musste. Mittlerweile geht es aber ganz gut.





    Allerdings frage ich mich, wie es LeserInnen ohne viel Hintergrundwissen zu diesem Genozid bei der Lektüre geht.

    Genozid = Völkermord. Das musste ich erst einmal nachschlagen. Jetzt erinnere ich mich auch, dass das englische Wort ähnlich klinkt.

    Ich habe mir hier ehrlich gesagt kaum die frage zum Historischen Hintergrund gestellt. Hier ist es mir auch gar nicht so wichtig. Im Vordergrund stehen hier für mich die Erlebnisse. Ich warte ab, ob man in der zweiten Hälfte des Buches mehr erfahren wird.


    Wie bekannt und präsent sind die Geschehnisse in Ruanda 1994?

    Absolut gar nicht für mich. Dafür bin ich wohl zu jung. Ich müsste wirklich erst einmal das Recherchieren anfange. Aber für mich ist es wiederum keine Überraschung, dass diese schrecklichen Dinge geschehen sind. Durch die Bilder in den Nachrichten von früher, habe ich schon früh eine Vorstellung gewinnen könne. Und ich stelle mir vor, dass viel mehr Schreckliches auf dieser Welt geschieht, die wir durch die Medien nicht oder nicht mehr erfahren. Weil A keiner vor Ort ist und B es 'ein alter Hut' ist, um es mal so auszudrücken. So stelle ich es mir zumindest vor.

    Die Erzählung könnte theoretisch ja allgemeingültig stellvertretend für einen beliebigen Bürgerkrieg stehen.

    Genau das war mein Gedanke während ich las. Also die Überlegung, ob es sich hier um einen Bürgerkrieg handeln könnte.



    In beiden Erzählsträngen spielt das Trauma bei Kindern eine Rolle. Bei Suzanne den Verlust ihres Vaters. Hier ist mir aufgefallen dass der Nachname identisch mit der Autorin ist.


    Ob sie ihre eigene Geschichte aufarbeitet?

    Ja, diese Frage habe ich mir auch gestellt.





    Aber dass Suzanne das Schicksal des Jungen dazu benützt (um ein weitaus stärkeres Wort zu vermeiden), auf ihr eigenes "tragisches" Schicksal hinzuweisen, das macht mich zornig. Ich will bestimmt nicht sagen, dass der Verlust des Vaters und der gewohnten Umgebung eine Bagatelle ist. Ich habe beides selber erlebt. Aber es würde mir nie einfallen, beide Schicksale auf eine Stufe zu stellen. Mir ist das einfach zu billig.

    Ich habe das bisher nicht so gesehen, dass die Autorin beide Schicksale auf eine Stufe stellt. Ich kann nachvollziehen, warum Suzannes Schicksal auch Thema ist. Es zeigt für mich, dass Suzanne ihre Erlebnisse noch nicht verarbeiten konnte und jetzt damit anfängt, weil sie Paralleln in Arsènes Erlebnissen sieht. Da kann es in meinen Augen unerheblich sein, auf welchen Stufen die Schicksale stehen. Mir ergeht es zumindest immer wieder so, wenn andere etwas von sich erzählen, dass mir selber eine Sache in den Sinn kommt, die bei mir ähnlich oder genauso ist. Ich habe schon mehrere Gruppentherapien als Patient erlebt. Es ist wirklich erstaunlich, was es in einem auslösen kann, wenn andere von ihren Erlebnissen erzählen. Auf einmal hatte ich wieder Erlebnisse in meinem Kopf, die tief vergraben waren. Und dann fing ich an, mich damit zu beschäftigen.



    Wie es aussieht, hat Arsène mit seinen Adoptiveltern großes Glück gehabt. Das macht mich sehr froh.

    Ja, so finde ich es auch. Die Adoptiveltern haben ihn sehr lieb. So wirkt es auf mich.




    Gut gefällt mir, dass das Buch in vielen kleinen Kapiteln geschrieben ist.

    Finde ich auch. Was Arsènes Teil angeht, stelle ich mir jetzt vor, dass ein Kapitel eine 'Sitzung' mit Suzanne wiederspiegelt.



    Die Du-Form hält mich von den Ereignissen etwas auf Distanz,

    Interessant. Es ist genau das Gegenteil bei mir.






    Sasaornifee :eiskristall



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    "Wer seid ihr und was wollt ihr?" - Die unendliche Geschichte - Michael Ende


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    Ich habe das bisher nicht so gesehen, dass die Autorin beide Schicksale auf eine Stufe stellt. Ich kann nachvollziehen, warum Suzannes Schicksal auch Thema ist. Es zeigt für mich, dass Suzanne ihre Erlebnisse noch nicht verarbeiten konnte und jetzt damit anfängt, weil sie Paralleln in Arsènes Erlebnissen sieht. Da kann es in meinen Augen unerheblich sein, auf welchen Stufen die Schicksale stehen. Mir ergeht es zumindest immer wieder so, wenn andere etwas von sich erzählen, dass mir selber eine Sache in den Sinn kommt, die bei mir ähnlich oder genauso ist. Ich habe schon mehrere Gruppentherapien als Patient erlebt. Es ist wirklich erstaunlich, was es in einem auslösen kann, wenn andere von ihren Erlebnissen erzählen. Auf einmal hatte ich wieder Erlebnisse in meinem Kopf, die tief vergraben waren. Und dann fing ich an, mich damit zu beschäftigen.

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    Es gibt da sicher noch einige Abhängigkeiten, ähnlich wie Fäden in einem Spinnennetz.


    Weil Suzanne den Tod ihres Vater nicht verarbeitet hat, will/muss sie andere in ihrem Schreiben fördern.

    Weil sie mit ihrer Kindheit nicht abgeschlossen hat, kann sie die Beiträge ihrer Schüler wertschätzen.

    Aber warum muss sie auch schreiben, obwohl ihre Mutter schon Autorin ist? Müsste sie nicht nach einem eigenen Weg suchen?

  • Es gibt da sicher noch einige Abhängigkeiten, ähnlich wie Fäden in einem Spinnennetz.


    Weil Suzanne den Tod ihres Vater nicht verarbeitet hat, will/muss sie andere in ihrem Schreiben fördern.

    Weil sie mit ihrer Kindheit nicht abgeschlossen hat, kann sie die Beiträge ihrer Schüler wertschätzen.

    Aber warum muss sie auch schreiben, obwohl ihre Mutter schon Autorin ist? Müsste sie nicht nach einem eigenen Weg suchen?

    Blöde Frage, aber, steht in dem Buch, dass Suzannes Mutter Autorin ist? Oder sprichst du im dritten Punkt von Yasmine? Und warum denkst du, dass sie nach einem eigenen Weg suchen müsste?

    Sasaornifee :eiskristall



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  • Blöde Frage, aber, steht in dem Buch, dass Suzannes Mutter Autorin ist? Oder sprichst du im dritten Punkt von Yasmine? Und warum denkst du, dass sie nach einem eigenen Weg suchen müsste?

    Suzanne könnte für die Autorin stehen oder für eine Frau, deren Vater auch Ghata heißt. (S. 73, 75)

    Zitat

    Yasmine Gathas Recherche über ihre 1986 verstorbene Großmutter Rikkat Kunt entpuppte sich als äußerst schwierig. Zwar gab es Material über ihr Wirken an der Kunstakademie in Istanbul, ihre Restaurationsarbeiten, ihr kalligraphisches Schaffen. Doch starb Rikkats zweiter Sohn, Yasmine Gathas Vater, schon früh - als sie erst sechs Jahre alt war; und ihre französische Mutter konnte nur Eckdaten ihres Lebenslaufs beisteuern. Doch wollte Yasmine Ghata auch keine Biografie über ihre Großmutter schreiben, sondern sich ihr vor allem gefühlsmäßig nähern.


    Quelle: Über "Die Nacht der Kalligraphen"

    sasaornifee schrieb:
    Und warum denkst du, dass sie nach einem eigenen Weg suchen müsste?

    Ich denke, dass jeder nach einem eigenen Weg suchen muss ...

  • Danke Buchdoktor für das Zitat und den Link! Ich habe mir den Artikel durchgelesen. Es hat bei mir die Vermutung bestärkt, dass Suzanne Yasmine ist.


    Ich denke, dass jeder nach einem eigenen Weg suchen muss ...


    Aber vielleicht ist das ja auch ihr eigener Weg und nur zufällig deckungsgleich mit der Mutter.

    Das war auch mein Gedanke.

    Sasaornifee :eiskristall



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  • Hast Du mal versucht zu ergründen, warum es bei Dir das Gegenteil ist?
    Ich fühle mich durch die Du-Form außen vor und nicht angesprochen. Ich bin Beobachter eines Gesprächs, in dem sich die Beteiligten duzen, mehr nicht.

    Spontan gesagt, fühle ich mich durch die Du-Form als Leser angesprochen. Ich versuche das hier immer anders wahrzunehmen beim Lesen, aber es ist sehr schwer. Es ist, also ob ich Arsène wäre und das alles gerade selber erlebe. Obwohl es in der Vergangenheit steht. Aber die Zeitformen Vergangenheit und Gegenwart machen für mich beim Lesen eh kaum einen Unterschied. Für mich spielt sich alles gerade jetzt ab, wenn ich etwas lese. Wenn etwas in der Ich-Form steht, bin ich eher distanziert. Denn das ist für mich eine Person, die vor mir steht und von sich erzählt. Trotzdem würde ich spontan sagen, dass ich mich mit einer Person in der Ich-Form besser identifizieren könnte, als in der Du-Form. In der Ich-Form entwickele ich ein "Mitgefühl" (Mir will gerade das passende Wort nicht einfallen). In der Du-Form wird mir alles vorgesagt, was ich tue, denke, etc.. Da ist kaum ein weiteres denken oder mitfühlen möglich.

    Sasaornifee :eiskristall



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  • Die Du-Form entsteht, weil Arsène nicht in einem großen Wurf seine Erlebnisse niederschreibt, sondern sie in winzigen Abschnitten mit Suzannes Hilfe hervorgeholt werden. Durch die Form wird es für mich glaubwürdiger und spannender, als wenn er ein Protokoll darüber schreiben würde. Die Form zwingt mich zur Konzentration und dadurch bekomme ich mehr von seiner Entwicklung mit. Die Tonlage ändert sich, je weiter die Ereignisse in der Gegenwart liegen. Darum wollte ich auch gern herausfinden, wo Arsène jetzt steht und sein Alter nicht im Klappentext verraten haben.

  • Danke für die Antworten. Es scheint von der Wirkungsweise sehr individuell und temporär auch wechselhaft zu sein, wie man es empfindet.


    Zu den Klappentexten:

    Daher lese ich die auch nicht bzw. habe den Klappentext nur zum Anmeldezeitpunkt zur Leserunde gelesen und dann den Inhalt sofort vergessen. Ich mag es deswegen auch nicht, wenn Inhaltes des Klappentextes in einer Leserunde wiederholt werden. Das macht meine ganze Vogel-Strauß->Kopf-in-den-Sand-Methodik zunichte. :-]

  • Ich habe heute morgen in der Bahn die ersten Seiten gelesen.

    Die wechselnde Perspektive ( auch das Schriftbild ) gefällt mir sehr gut.

    Die Du-Form stört mich absolut nicht, für mich erzählt hier ( zumindest sehe ich das bis jetzt so ) Suzanne die Geschichte...........Ob es tatsächlich so ist, werden wir sehen. ;-)

    Die ersten Erlebnisse auf der Flucht sind sehr grausam, der Völkermord in Ruanda ist mir schon noch ein Begriff, aber nur so im Groben. Muss ich nochmal nachlesen........


    Ich denke, hier handelt es sich um ein kleines Buch mit wertvollem Inhalt.

  • Ich muss zugeben, dass mich die Du-Form anfangs extrem genervt hat, aber wenn ich das richtig verstehe, schreibt Suzann mit Arsène zusammen die Erinnerungen auf und daher macht das wieder Sinn. Aber ich habe mich dann ziemlich schnell eingelesen.


    Als ich den Gatten fragte, ob er was über den Völkermord in Ruanda wüsste, sagte er mir direkt, dass das gar nicht so lange her wäre. Das war mir irgendwie nicht klar. Ich muss mich da wohl mal einlesen. Nadezhda kannsz du mir vielleicht einen Büchertipp geben?


    Ich finde diese Flucht so grausam. Mit acht wäre ich sicher nie so weit gekommen. Ich bin jetzt mal gespannt, wie Arsène zu seinen Adoptiveltern kommt.


    Und was soll Suzanns Geschichte dort? Gehören die irgendwie zusammen? Oder soll das ausdrücken, warum sie so mit den Kindern umgeht, wie sie es tut?


    Ich möchte noch kurz sagen, dass ich finde, dass die Hintergründe gar nicht in dieses Buch passen. Vielleicht als kurzes Nachwort mit den gröbsten Fakten. Alles andere würde dieses emotionale Buch doch sehr kaputt machen.

  • Trotzdem würde ich spontan sagen, dass ich mich mit einer Person in der Ich-Form besser identifizieren könnte, als in der Du-Form. In der Ich-Form entwickele ich ein "Mitgefühl" (Mir will gerade das passende Wort nicht einfallen). In der Du-Form wird mir alles vorgesagt, was ich tue, denke, etc.. Da ist kaum ein weiteres denken oder mitfühlen möglich.

    Mir ist das Wort wieder eingefallen. Ich meine Empathie.


    Noch eine Ergänzung: Bevor ich wusste, dass es Suzanne ist, die Arsènes Geschichte notiert, fühlte ich mich als Leser direkt angesprochen. Da ich jetzt aber den Kontext kenne, nehme ich es anders wahr. Aber immer noch nicht so, als stünde es in wörtlicher Rede. Z.B.: Suzanne wiederholt Arsènes letzte Ausführung: ""Du hast die Augen geschlossen, und sogleich schwirrten Bilder vor dir wie flirrende Lichter."" (S. 30)


    Jetzt muss ich aber stutzen. Müsste es nicht heißen 'Du schlossest die Augen' oder 'sogleich schwirren Bilder'. Vielleicht ist das ja Absicht. Ich bin nicht gut darin, was Zeitformen angeht. (Passiert mir selber andauernd.) Mir fällt außerdem auf, dass z.B. im Kapitel auf Seite 39 die Erzählung erst in der Gegenwartsform steht und dann in die Vergangenheitsform übergeht. Das ist sicher Absicht. Aber die Wirkung entgeht mir (noch).




    Habe ich eigentlich schon erwähnt, dass die Erzählweise für mich melodisch klingt? Wie so ein Sing-Sang. Der Grund sind bestimmt die überwiegend kurzgehaltenen Sätze. Anders kann ich es mir gerade nicht erklären.

    Sasaornifee :eiskristall



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  • Umständehalber komme ich erst jetzt dazu, dass Buch zu lesen und hier etwas zu schreiben. Bevor ich eure Beiträge nachlese, schreibe ich erst einmal auf, was mir beim Lesen so durch den Kopf ging.

    Zu allererst hat mich der Klappentext angesprochen. Dieser und Wolkes Begeisterung waren für mich der Grund, mich für die Leserunde anzumelden. Nichtsdestotrotz war ich vorher auch ein bisschen skeptisch. Französische Autoren schreiben - für meinen Geschmack - immer etwas speziell und das gefällt mir nicht immer. Außerdem ist es natürlich viel schwieriger auf nur 160 Seiten eine Geschichte rund um einen traumatisierten Jugendlichen und den Erlebnissen seiner Lehrerin zu erzählen.


    Arsènes Geschichte hat mich sofort gepackt. Die Erzählform, die ja im Laufe der Geschichte erklärt wird, hält mich auf Distanz, macht für mich das Erlebte aber noch eindrücklicher und bedrückender. Was er selbst fühlt, erlebe ich sehr intensiv mit.
    Mit Susannes Part habe ich mich zuerst schwer getan. Er ist im Präsens erzählt, was ich nicht so gerne mag und manche Übersetzungen sind mir einfach zu flapsig. Der Besuch des alten Elternhauses und der spürbare Verlust des Vaters, die Rituale, mit denen sie versucht ihn am Leben zu erhalten, fand ich dagegen sehr authentisch beschrieben.
    Was ich hier auch sehr bedrückend finde, ist die Sprachlosigkeit zwischen Susanne und ihrer Mutter. Das Unvermögen der Mutter sich in ihrer Trauer auch um das ebenfalls trauernde Kind zu kümmern, bringt Susanne zum Schweigen.


    Wahrscheinlich ist es dieses Schweigen und Arsènes unfassbarer Mut, einer Fremden das Unaussprechliche zu erzählen, was die beiden Figuren zusammenbringt, die jede für sich in ihrer Kindheit ein Trauma erlebt haben. Für den zweiten Abschnitt wünsche ich mir, dass die Autorin es schafft, diese beiden Kindheits-Traumata nicht miteinander zu vergleichen, sondern jedes für sich stehen zu lassen. Beides hat seine Berechtigung, auch wenn Arsènes Erlebnisse natürlich unfassbar schrecklich sind.

  • Ja, es gibt mehrere Spielfilme.


    Und nicht alle LeserInnen waren damals alt genug, um die Berichte in den Medien zu verfolgen. Oder haben sie, aus welchen Gründen auch immer, halt nicht wahrgenommen oder wieder vergessen. Daher habe ich mich gefragt, ob die Hinweise für genau solche LeserInnen ausreichend sind, weil ich das Buch in dieser Hinsicht als sehr knapp, wenn nicht gar kryptisch wahrnehme.

    Ich finde deine Frage sehr interessant. Bei mir ist es tatsächlich so, dass ich damals in einem Alter war, in dem mich andere Dinge mehr interessiert haben und ich in erster Linie mit mir selbst beschäftigt war. Wie bei so vielem, was einem in solchen Zeiten bzw. in diesen Lebensabschnitten begegnet, kommt man später bei Gedenktagen, durch Zeitungsartikel, Filme, Bücher auf diese Themen zurück. Es ist mir also ein Begriff.

    Auf 160 Seiten kann keine Zeit bzw. kein Platz für eine Darstellung sein, die diesem Völkermord, gerecht wird oder umfassend über ihn informiert. Das einzige was die Autorin machen kann, ist Neugierde wecken. Das schafft sie (zumindest bei mir) und das finde ich wichtig. Dass du mit deinem umfassenden Wissen es allerdings als zu knapp oder sogar kryptisch wahrnimmst, kann ich verstehen. Das würde mir sicher genauso gehen.
    Ihr Hauptaugenmerk liegt wohl auf der Bewältigung der Traumata, dem Brechen des Schweigens. Zumindest ist das mein Eindruck, ich habe es ja noch nicht zu Ende gelesen. ;-)