'Der Engel mit der Posaune' - Kapitel 14 - 20

  • Nun geht es nicht mehr wochen - oder monateweise, sondern gleich in Jahresschritten voran.


    Hier bin ich zwar noch nicht ganz so weit, aber die Beschreibung der Aufnahmeprüfung und des Unterrichts im Gymnasium hatte es in sich. Wie sollen unter solchen Voraussetzungen aus den Kindern eigentlich „gute“ Erwachsene werden? Das ist heftig, da standen mir alle Haare zu Berge.


    Paskiewizc stirbt und Hans will seine Mutter holen. Was eine „Patroness“ ist, habe ich mir aus dem Zusammenhang zusammengereimt, in der Bedeutung ist mir das Wort bisher nicht begegnet. Zuhause angekommen, wird klar, daß Henriette von der Familie immer noch (mehr oder weniger aktiv) abgelehnt wird. Da sie nun schon über zehn Jahre mit Franz verheiratet ist: was für ein Leben ist das, von der nächsten (angeheirateten) Verwandtschaft, mit der man zudem unter einem Dach wohnt, so lange und immer noch abgelehnt zu werden? Müßte sie nicht eigentlich verbittern?

    Unter den Büchern finden wir wieder, was uns in der Fremde entschwand, Frieden im Innern und Frieden mit unserer Umgebung.
    (Gustav Freytag, 1816 - 1895, aus "Die verlorene Handschrift")

  • Tja, SiCollier, da sind wir wieder bei der Frage vom ersten Abschnitt. Welche Werte sollten den jungen Menschen vermittelt werden? Sicher nicht eigenständiges Denken, Zivilcourage und Mitmenschlichkeit. Da waren eher (wie fast überall sonst auch) Gehorsam, Pflichterfüllung, Unterordnung gefragt.

    Man könnte es auch Sekundärtugenden nennen.


    Mittlerweile beschleicht mich der Gedanke, dass Lothar bei manchen Überschriften schon arg sarkastisch war. Humanistische Erziehung. Soso.


    Viel mehr hat mich ja die Schilderung des Duells erschüttert. Wie man da nur kleine Jungen mitnehmen konnte. Von der Tatsache des Duells - die ja offenbar auch damals schon illegal waren - mal ganz abgesehen.


    Henriette - ich bin hin und hergerissen zwischen Mitleid und einem Gefühl von: Guck dich um und schau, wie ein wirklich verpfuschtes Leben aussieht. Es geht mir mit ihr ein wenig wie mit Madame Bovary.


    Dann ist da noch Christls Gelübde. Ausgerechnet in einem der strengsten Orden, die es gibt. Die Schilderung mit dem Sarg lässt mir immer noch die Haare zu Berge stehen.

  • Tja, SiCollier, da sind wir wieder bei der Frage vom ersten Abschnitt. Welche Werte sollten den jungen Menschen vermittelt werden? Sicher nicht eigenständiges Denken, Zivilcourage und Mitmenschlichkeit. Da waren eher (wie fast überall sonst auch) Gehorsam, Pflichterfüllung, Unterordnung gefragt.

    Man könnte es auch Sekundärtugenden nennen.

    Ob man mit der im Buch beschriebenen Art allerdings überhaupt irgendwelche Werte vermitteln kann, wäre zu untersuchen. Das ist doch eher ein stupider Drill. Das mag Gewohnheit verursachen, oder auch einen Menschen zu brechen. Der einzige "Wert", der dabei entstehen kann, ist mE der, daß die heutigen Schüler es später genauso machen. Und das scheint ja auch der Fall zu sein, irgendwo später im Abschnitt wird das ja sinngemäß auch angesprochen.


    Ehrlich, ich hatte nicht vorausgelesen. Aber da hatte ich mit meiner Vermutung, daß sie verbittern müßte, ja recht: denn genau das kann man aus den nächsten Kapiteln entnehmen. Was ich durchaus verständlich finde. Und wenn ich es recht verstanden habe, geht sie auch mit dem Grafen Traun fremd.


    Franz hat sich über die Jahre verändert. Oder war er schon immer so? Andererseits wird auch er, vielleicht nur unbewußt, mitbekommen haben, daß seine Frau ihn anscheinend überhaupt nicht liebt. Das muß dann ja irgendwie „zurückschlagen“. Aber am Ende mündet es in ein Duell. Diesen Ausgang hätte ich ja nicht erwartet. Wie der weitere Verlauf zeigt, war es auf jeden Fall ein Fehler, die Kinder mitzunehmen. Denn Hans scheint ab da einen Haß auf seinen Vater zu entwickeln, der sich vermutlich irgendwann entladen wird.


    Wie aus der Beziehung von Henriette und Franz noch etwas werden soll, wird sich weisen, nachdem sie ihn bezichtigt, die beiden einzigen Menschen, die ihr etwas bedeutet haben, ermordet zu haben. (S. 181)


    Daß Christine in ein Kloster geht, hat mich denn doch überrascht. Damit hatte ich gar nicht gerechnet.


    Und dann taucht das erste Mal eine auf jeden Fall historische Person auf, ein gewisser Adolf Hitler, der wegen Unfähigkeit von der Akademie abgelehnt wird. Wozu er fähig war, ist in den Geschichtsbüchern nachzulesen. Aber seltsam war das schon.


    * * * * * * * * * * * * * * * * * * * *


    Ich denke schon, daß Lothar einen guten Teil seiner Überschriften sarkastisch oder ironisch gemeint hat.


    Ach so, und inzwischen weiß ich auch, wie die Sprache auf mich wirkt: ich empfinde es als eine lakonisch-neutrale Erzählweise, in der ohne Empathie die Geschehnisse berichtet werden. Bei mir erzeugt das eine recht melancholische Stimmung und entwickelt einen Sog, daß ich auf jeden Fall und dauernd weiterlesen möchte. Und auf jeden Fall: ein sehr gutes, ausgefeiltes Deutsch.

    Unter den Büchern finden wir wieder, was uns in der Fremde entschwand, Frieden im Innern und Frieden mit unserer Umgebung.
    (Gustav Freytag, 1816 - 1895, aus "Die verlorene Handschrift")

  • Ich muss schon sagen, ich bin immer wieder erstaunt von Franz und seinem Verhalten. Auf der einen Seite wirkt er so leichtgläubig und blauäugig und scheint immer noch total verliebt zu sein in Henriette. Auf S. 173 sagt er noch zu Hans: "Deine Mutter ist über jeden Verdacht erhaben". Da habe ich mich schon gefragt, ob er wirklich daran glaubt oder sich das nur selbst einzureden versucht. Un dann geht er auf der anderen Seite hin und duelliert sich mit dem Liebhaber von Henriette und bringt ihn tatsächlich um . Das hätte ich überhaupt nicht von ihm erwartete.


    Für Henriette kann ich im Moment nicht mehr allzuviel Mitleid aufbringen. Sie hat es ja nicht wirklich schlecht getroffen mit ihrem Franz, der für sie alles tun würde und ihr alles zu vergeben scheint.

    Wie aus der Beziehung von Henriette und Franz noch etwas werden soll, wird sich weisen, nachdem sie ihn bezichtigt, die beiden einzigen Menschen, die ihr etwas bedeutet haben, ermordet zuhaben. (S. 181)

    Diese Behauptung von Henriette habe ich nicht ganz verstanden: wieso hat denn Franz Schuld an dem Selbstmord von dem Kronprinz?? Nur weil er sie geheiratet hat?? Das kann ich so nicht ganz nachvollziehen und finde es auch recht unfair Franz gegenüber. Er hat sie ja nicht gezwunden ihn zu heiraten. Das hat sie ja aus freien Stücken heraus getan, auch um sich vor dem Erpresser zu schützen.

    . Bei mir erzeugt das eine recht melancholische Stimmung und entwickelt einen Sog, daß ich auf jeden Fall und dauernd weiterlesen möchte.

    :write:write Das kann ich so komplett unterschreiben. Auch bei mir entwickelt das Buch einen richtigen Lesesog, ich kann es kaum aus der Hand legen, wenn ich mal damit angefangen habe.

    Mir gefällt es auf jeden Fall sehr gut und ich werde bestimmt auch bald das andere Buch des Autors lesen müssen.:)

  • Für Henriette kann ich im Moment nicht mehr allzuviel Mitleid aufbringen. Sie hat es ja nicht wirklich schlecht getroffen mit ihrem Franz, der für sie alles tun würde und ihr alles zu vergeben scheint.

    Diese Behauptung von Henriette habe ich nicht ganz verstanden: wieso hat denn Franz Schuld an dem Selbstmord von dem Kronprinz?? Nur weil er sie geheiratet hat?? Das kann ich so nicht ganz nachvollziehen und finde es auch recht unfair Franz gegenüber. Er hat sie ja nicht gezwunden ihn zu heiraten. Das hat sie ja aus freien Stücken heraus getan, auch um sich vor dem Erpresser zu schützen.


    Henriette ist für mich wirklich ein wenig abgedriftet und verliert sich in romantischen Erwartungen. Was hat sie von Franz erwartet? Er hat ihr jedenfalls nie etwas vorgemacht und sie wusste, was für eine Sorte Mann sie heiratet.

    Berechenbar, gutmütig und ein wenig langweilig. Aber sie hat das Gefühl, mit ihm ihr Leben versäumt zu haben.

    Sie erinnert mich wirklich an Emma Bovary. Die hatte genauso seltsame Erwartungen.


    Und wäre es ihr lieber gewesen, Franz wäre erschossen worden? Was hätte sie dann zu erwarten gehabt? Ungestörte Liebe von ihrem Grafen? So naiv kann nicht einmal sie sein.


    Überhaupt ist dieses Duell schon seltsam. Franz hatte kaum eine Möglichkeit, sich dem zu entziehen. Allerdings wundere ich mich, dass er als Bürgerlicher und Privatmann (kein Militär) überhaupt satisfaktionsfähig war.


    Bisher war Franz mir ja sympathisch - langsam zeigt sich aber, welche anderen Seiten er auch hat. Manches finde ich richtig grausam. Die Kinder mit zum Duell nehmen. Die böse Bemerkung zu seiner jüngsten "Tochter" als sie ihm einen Gute-Nacht-Kuss geben will.

  • Auf der einen Seite wirkt er so leichtgläubig und blauäugig und scheint immer noch total verliebt zu sein in Henriette. Auf S. 173 sagt er noch zu Hans: "Deine Mutter ist über jeden Verdacht erhaben".

    Ich glaube, er macht sich etwas vor und verschließt die Augen ganz fest vor Dingen, die nicht sein dürfen. Bis zu dem Punkt, wo das Verschließen nicht mehr geht. Dann handelt er (siehe Duell). - Ich war übrigens überrascht zu lesen, daß auch in Deutschland erst in 1969 die Sonderbehandlung für Duelle im Strafrecht abgeschafft wurde (siehe Wikipedia-Artikel).


    Für Henriette kann ich im Moment nicht mehr allzuviel Mitleid aufbringen. Sie hat es ja nicht wirklich schlecht getroffen mit ihrem Franz, der für sie alles tun würde und ihr alles zu vergeben scheint.

    Ich habe den nächsten Abschnitt schon durch und sehe das etwas anders, wenngleich es auf den ersten Blick natürlich so ist, wie Du schreibst.


    Diese Behauptung von Henriette habe ich nicht ganz verstanden: wieso hat denn Franz Schuld an dem Selbstmord von dem Kronprinz?? Nur weil er sie geheiratet hat??

    Ja, das ist etwas undurchsichtig. Vgl. S. 221 Mitte im folgenden Abschnitt, weswegen ich hier nichts weiter dazu schreibe.



    Aber sie hat das Gefühl, mit ihm ihr Leben versäumt zu haben.

    Ich weiß nicht mehr, wo genau das stand (ob hier oder im nächsten Abschnitt) drum nur, daß ich sie in der Hinsicht verstehen kann. Das Gefühl hätte ich an ihrer Stelle vermutlich auch.

    Unter den Büchern finden wir wieder, was uns in der Fremde entschwand, Frieden im Innern und Frieden mit unserer Umgebung.
    (Gustav Freytag, 1816 - 1895, aus "Die verlorene Handschrift")

  • Ich finde die Stelle gerade nicht wieder, womöglich ist sie tatsächlich schon im nächsten Kapitel - ich denke, verraten habe ich dadurch nichts. 8)


    Da ich schon ein wenig weiter gelesen habe, möchte ich zu Henriette hier nichts mehr sagen.


    Am Anfang des 20. Kapitels beim Gespräch des Klassenvorstands mit Franz zeigt sich nochmal recht deutlich, was man an dieser Schule unter humanistischer Bildung verstanden hat: bloß keine eigene Meinung, bloß keine eigenen Interessen oder gar nicht autorisierte Bücher und schon gar keine Besuche in Kaffeehäusern.

  • Ich habe nichts davon gelesen, dass sie ernsthaft versucht hätte, mit Franz ein Leben zu leben, das nicht langweilig ist. Er hat sie so angebetet, dass da aus meiner Sicht eine Chance gewesen wäre.

    Da ich nicht sicher bin, ob das in diesem oder im nächsten Abschnitt stand (ich meine in diesem), spoilere ich:

    Unter den Büchern finden wir wieder, was uns in der Fremde entschwand, Frieden im Innern und Frieden mit unserer Umgebung.
    (Gustav Freytag, 1816 - 1895, aus "Die verlorene Handschrift")

  • Das stand in diesem. Aber das mit der Erpressung hat sie sich doch auch stark selbst eingeredet. Und von den anderen Familienmitgliedern nicht anerkannt zu werden, ist doch etwas, was min. in jeder zweiten Familie damals vorkam (zumindest kommt mir das so vor, wenn ich mir die Geschichten meiner Eltern und ihres Bekanntenkreises anhöre (alle so zwischen 80 und 95)).

  • Ich habe nichts davon gelesen, dass sie ernsthaft versucht hätte, mit Franz ein Leben zu leben, das nicht langweilig ist. Er hat sie so angebetet, dass da aus meiner Sicht eine Chance gewesen wäre.

    Ich habe hier die gleiche Meinung wie Pelican.

    Natürlich ist die Situation für Henriette nicht besonders einfach. Und es ist nicht leicht für sie in diesem Haus, wo sie keiner wirklich mag. Aber trotzdem hatte ich auch zu keinem Zeitpunkt das Gefühl, dass Henriette von sich aus versucht mit Franz glücklich zu werden. Sie bemüht sich nicht darum, mit ihm eine gemeinsame Basis zu finden. Sie gibt ihm nur die Schuld dafür, dass sie unglücklich ist.

  • Aber das mit der Erpressung hat sie sich doch auch stark selbst eingeredet. Und von den anderen Familienmitgliedern nicht anerkannt zu werden, ist doch etwas, was min. in jeder zweiten Familie damals vorkam (zumindest kommt mir das so vor, wenn ich mir die Geschichten meiner Eltern und ihres Bekanntenkreises anhöre (alle so zwischen 80 und 95)).

    Also "eingeredet" empfand ich die Erpressung nicht. Daß sie im Zweifel letztlich ins Leere laufen würde, konnte Henriette zu diesem Zeitpunkt nicht wissen. Wenn man auch nicht miteinander redet...


    Wer heute so zwischen 80 und 95 alt ist, wurde nach 1923 geboren, inwiefern die Zeit, als die erwachsen wurden, noch mit den hier beschriebenen vergleichbar sind, wäre zu untersuchen (mein Vater würde dieses Jahr übrigens 100). Wobei das "Nichtanerkennen" sicherlich auch heute noch eine größere Verbreitung haben mag, als man gemeinhin so annehmen wird.

    Unter den Büchern finden wir wieder, was uns in der Fremde entschwand, Frieden im Innern und Frieden mit unserer Umgebung.
    (Gustav Freytag, 1816 - 1895, aus "Die verlorene Handschrift")

  • Das mag jetzt ganz abgehoben klingen, aber wenn ich Eure Kommentare lese, frage ich mich, ob Henriette nicht für sich durch die Unerreichbarkeit einer ehelichen Bindung mit Rudolf sozusagen beschlossen hat, sie müsse unglücklich sein. Mit anderen Worten: Glück ist nicht für sie vorherbestimmt. Sie fügt sich quasi in ihr Unglück. Und deshalb versucht sie gar nicht, Glück in ihrer Ehe zu finden! Vielleicht ist ihr Unglück auch ihre selbstgewählte Strafe, weil sie nicht fähig war, Rudolf vor sich selbst zu retten. Wobei ich dies nicht anklagend meine. Denn ich bin davon überzeugt, dass sie Rudolf nicht von seinem Selbstmord hätte abhalten können. Aber da der Suizid nun einmal an ihrem Hochzeitstag stattfand, könnte sie hier für sich selbst eine Anklage/Schuld sehen.


    Zu kompliziert gedacht? :/

  • Es ist durchaus nicht zu kompliziert gedacht, sondern hat etwas. Allerdings bin ich inzwischen so weit in dem Buch vorangekommen, daß ich hier zu Henriette eigentlich nichts mehr sagen kann, weil ich inzwischen mehr Puzzleteile ihres Lebens kenne.

    Unter den Büchern finden wir wieder, was uns in der Fremde entschwand, Frieden im Innern und Frieden mit unserer Umgebung.
    (Gustav Freytag, 1816 - 1895, aus "Die verlorene Handschrift")

  • Oje, ich hinke wirklich entsetzlich langsam hinter euch her :(


    Aber nun habe ich diesen Abschnitt auch beendet. Hans ist wohl ein typisches Kind seiner Zeit mit einerseits unbarmherziger, liebloser Erziehung und andererseits doch auch durch seine Familie privilegiert.

    Seine Mutter gefällt sich in der Märtyrerrolle und sinniert über ihr "trauriges" Leben, das sie sich meiner Meinung nach ja selber so eingerichtet hat. Ich mag solche Leute nicht gern, die an allem Unbequemen oder Tragischen anderen die Schuld geben und selber nicht den Funken von Verantwortungsgefühl haben. Aber sie ist wohl auch ihrerseits auch Opfer des Gesellschaftssystems und der eigenartigen "Moral" dieser Zeit.


    Dass der Verbrecher Hitler ein Möchtegernkünstler war, wusste ich. Die Szene in der Akademie war zwar recht banal konstruiert, aber doch recht interessant.


    Dass Christl ins Kloster geht, finde ich heftig und unerwartet. Ich hätte ihren Weg gerne intensiver verfolgt: vor allem ihre Beweggründe, in so einen strengen Orden einzutreten.


    So viele verpfuschte Leben...

    Kinder lieben zunächst ihre Eltern blind, später fangen sie an, diese zu beurteilen, manchmal verzeihen sie ihnen sogar. Oscar Wilde