10 Jahre nach dem Krieg
Auch zehn Jahre nach dem Krieg hat sich an der Mentalität der Menschen noch nichts verändert. Ledige Mütter werden verdammt, müssen arbeiten und ihr Kind verschweigen, verheiratete Mütter dürfen nicht arbeiten, müssen nur für Mann und Kinder da sein. Die 68er Studentenproteste hatten Recht mit ihrem Slogan “Unter den Talaren der Muff von 1000 Jahren”.
Hamburg 1955 ist aufgeräumt, vom wüsten Bombardement des Weltkrieges ist nicht mehr viel übrig, Der Wirtschaftsaufschwung ist im vollen Gange. Aber der Krieg wirkt immer noch nac. Viele Familien wurden auseinandergerissen, auf der Flucht oder durch Bombardements, und nun sind Kinder auf der Suche nach ihren Eltern und Eltern suchen verzweifelt ihre Kinder. Das rote Kreuz hat einen Kindersuchdienst eingerichtet, der Familien wieder zusammenführen soll. Ganz unterschiedliche, aber warmherzige Frauen arbeiten da, haben einen nicht gerade angenehmen Vorgesetzten, gegen den sie sich gegenseitig unterstützen, mit Tipps und Ratschlägen. Unter diesen Frauen sind in diesem ersten Roman der Reihe besonders Annegret und Charlotte im Fokus. Annegret weil sie alleinerziehend ist und das nicht bekannt werden darf. Sonst würde sie sofort ihre Stelle verlieren und sie ist eben auf das Geld sehr angewiesen. Annegret spart sich das Essen vom Mund ab, um ihrem kleinen Sohn Nahrung und Kleidung und ab und zu ein Eis zu gönnen. Dann muss die Gartenlaube im Winter auch beheizt werden, Strom gezahlt, und dergleichen mehr. Würde sie ihre Arbeit verlieren, wäre das eine Katastrophe. Annegret hat sich in der Schule nicht leicht getan, sie hat Lese- und Schreibschwierigkeiten. Heute würde man das wahrscheinlich Legasthenie nennen, aber 1955 nannte man das einfach nur “dumm” oder “zurückgeblieben”. Dabei ist Annegret nicht dumm, das bemerkt man, wie sie an die Fälle vermisster Kinder rangeht, was für einfühlsame Fragen sie stellt, und wie sie sich durchschlägt.
Die andere junge Frau im Fokus dieses Buches ist Charlotte, Tochter aus gutem Hause, die es aber vorzieht, sich allein ohne der Hilfe ihrer Familie durchzuschlagen.
Genau wie Annegret gelingt es auch Charlotte, vermisste Kinder aufzufinden.
Die Freundschaft zwischen Annegret und Charlotte ist warm und echt. Ihre Zusammenarbeit, aber auch die Geheimnisse, die jede mit sich trägt, und ihre kleinen Makel, wenn man das so nennen darf, lassen uns, den Leserinnen, die beiden jungen Frauen ans Herz wachsen.
Sehr realistisch werden die Bedingungen beschrieben, in denen die Mitarbeiterinnen des Kindersuchdienstes ihre Arbeit verrichten. Mit mühseligen Karteikarten, auf der einen Seite für die Kinder, auf der anderen für die Eltern. Die Angestellten fragen nach Namen, nach Erinnerungen, nach Orten, nach anderen Personen, die Auskunft geben könnten. Danach beginnt das mühselige Durchforsten beider Karteisysteme, ob man eine Treffer landet. Oder man fährt kurz entschlossen sogar ins feindliche, weil Osten, Lager nach Kaliningrad. Wohlgemerkt, alles ohne Computer, ohne Fax, ohne E-Mail, heutzutage undenkbar.
Allgemein, was für Schwierigkeiten die Frauen in jener Zeit, eigentlich bis weit in die 70er Jahre hinein, hatten, merkt man auch an der Gesetzgebung der Bundesrepublik: Eigenes Konto - nur mit Zustimmung des Ehegatten oder des Vaters, Führerschein ebenso. Wenn sie eine Arbeitsstelle antrat, konnte der Ehegatte, der Vater oder auch nur der Verlobte, hinter dem Rücken der Frau und ohne ihr Wissen für sie kündigen. Weiterführende Schulen und Studium waren noch lange nicht selbstverständlich. Gewalt an den Frauen, Vergewaltigungen, Femizide - da gab man den Frauen die Schuld. Die armen Männer mussten ja auf die Provokation adäquat antworten.
Dieses Buch erfüllt alle Anforderungen an eine gute Lektüre: angenehmer, flüssiger Schreibstil, sehr interessante und teilweise spannende Handlung, realer historischer Hintergrund, hinreißender Lokalkolorit, Liebe, Freundschaft und ein ergreifendes Titelbild. Alles da, alles richtig gemacht.
Frauenrechte in der jungen Bundesrepublik? Weit gefehlt!