'Auf Tiefe - See- und Küstengeschichten' - Die Botschaft

  • Interessant, dass hier so ziemlich jeder den Mann als das Opfer seiner Frau sieht. Ich habe mich ziemlich zu Anfang gefragt, warum sie so zornig ist. Sie haben ja zu Anfang gemeinsam gefischt. Aber sie haben auch Kinder gehabt. Was, wenn er dann alleine bzw. mit einem anderen Mann rausgefahren ist? Wenn sie das Boot irgendwann gehasst hat? Sich gewünscht hat, dass er eine bessere Stelle findet, bei der er mehr verdient und mehr zuhause ist? Wenn er seine Familie vernachlässigt hat und in seiner Freizeit lieber Bernstein gesucht hat, als Zeit mit seiner Familie zu verbringen? Wenn er einfach nie da war, wenn sie ihn gebraucht hätte?


    Er verbringt den ganzen Tag mit der Bernsteinsuche. Macht er das nur, um Ruhe vor seiner Frau zu haben, oder immer schon? Ganz grundlos wird der Zorn seiner Frau ja nicht gewesen sein. Eine Trennung wäre vermutlich für beide die bessere Lösung gewesen, aber nicht nur ist es gesellschaftlich früher verpönt gewesen, sie hätten es sich vermutlich auch gar nicht leisten können. Scheidungsarmut ist auch heute eine Realität.


    Ich habe das Ende so interpretiert, dass der Eigenbrötler verrückt geworden ist und unter Wahnvorstellungen im Affekt seine Frau getötet hat.

    Interessanter Ansatz. Vermutlich sind beide schuld an Zerfall der Beziehung. Den genauen Verlauf und die Hintergründe kennen wir nicht. Natürlich sind beide irgendwie Opfer. Die Schuldfrage ist aus meiner Sicht auch nicht wesentlich. Ihr Zusammenleben hat beiden geschadet und aus der subjektiven Sicht des Mannes trägt halt seine Frau die Verantwortung.

    :lesend James Lee Burke - Die Tote im Eisblock

    hörend: Hanna von Feilitzsch - Bittersüße Mandeln

  • Ich sehe den Mann gar nicht unbedingt als alleiniges Opfer. Ich sagte ja schon bei meinem ersten Beitrag, dass man als Außenstehender eine Ehe nie beurteilen kann. Ich weiß nicht, warum die beiden in diese Lage geraten sind. Darum geht es aber für mich auch gar nicht. Ich sehe hier einen Menschen (aus dessen Blickwinkel erzählt wird), der am Ende ist, in jeder Hinsicht.


    Aber es ist schon so, dass ich in der Literatur sehr selten auf eine zerrüttete Ehe aus der Sicht eines Mannes treffe - was möglicherweise auch damit zu tun hat, dass die potentiellen Leser vornehmlich Frauen sind.

  • Aber es ist schon so, dass ich in der Literatur sehr selten auf eine zerrüttete Ehe aus der Sicht eines Mannes treffe - was möglicherweise auch damit zu tun hat, dass die potentiellen Leser vornehmlich Frauen sind.

    Das mag der richtige Schluss sein ... :lache


    Mal zu den erstaunlichen Spekulationen über die "zerrüttete Ehe": Es war nicht meine Absicht, ein Beziehungsdrama aufzuführen. Im Gegenteil.

    Was allein zählt in dieser Geschichte, ist die subjektive Sicht des alten Mannes. Er spürt den wilden Hass seiner Frau, hat gar vergessen, ob sie sich überhaupt je geliebt haben. Und alles, was dann passiert, als er jenen magischen Bernstein findet, ist nur zu erklären über dieses, nämlich sein subjektives Empfinden.

    Wenn es denn überhaupt zu erklären ist ... :lache

  • Sobald ich von der Spinne im Bernstein las, musste ich an Die schwarze Spinne von Jeremias Gotthelf denken.

    Hattest Du auch diese Verbindung im Blick? Dieter Neumann

    Mir ging es genauso. Ich habe das Buch vor ca. 35 Jahren gelesen (Schullektüre). Mein Deutschlehrer war großer Fan und wir haben es intensiv besprechen müssen. Ich habe es damals ähnlich gruselig empfunden, wie diese Geschichte hier. Als Roman ist dies ein Genre, was ich nicht lese. Als Kurzgeschichte finde ich sie aber auf den Punkt. Kein Wort zu viel, um diese intensive Gedanken- und Gefühlswelt mit dem Mann zu erleben als wäre man dabei. Wenn ich die Geschichte mit einem Adjektiv außer "schaurig" und "intensiv" beschreiben müsste, würde ich sie "konsequent" nennen.

  • Wie ich schon mal in einem anderen Thread bemerkte: "Die Axt im Haus erspart den Scheidungsanwalt." Hier passt das gut. Aber ernsthaft, der alte Mann macht nach vielen Jahren endlich den Fund seines Lebens. Was hätte ihm das Leben jetzt noch bieten können? Das muss ihm dann auch klar geworden sein. Seine Frau hätte vielleicht nun gefordert, er solle mit dieser Suche aufhören. Denn er hat ja sein Ziel erreicht. Mit einem größeren besseren Fund hätte er sich nicht rausreden können. Nein, die Suche war zu Ende und das bedeutet eigentlich auch sein Ende. Wenn sein Leben aber nun sinn- und ziellos war, brauchte er auch die treibende Kraft, die zeternde Frau, die ihn mit beißenden Worten zum Strand peitsche, nicht mehr. Er war nur konsequent, egal ob in der Realität oder im Traum. Manche Männer schaffen eben Tatsachen. Bevor sie sich aufhängen, oder erschießen, oder so.

    Um so einen Mann zu beschreiben, braucht man nicht viele Worte, wie Dieter Neumann beweist,

    Schon der weise Adifuzius sagte: "Es gab und gibt schon immer Recht und Unrecht, leider bekommen die Unrechten fast immer Recht." :chen

  • In dieser Geschichte zeigt sich für mich, dass bei Kurzgeschichten der Zeitpunkt des Lesens noch viel wichtiger ist als bei Romanen. Ich hatte eine sehr anstrengende Arbeitswoche und war abends so fertig, dass ich nichts mehr gelesen habe. Gestern Abend wollte ich unbedingt noch eine Lesen, und diese hatte ja sehr wenig Seiten. Aber - sie hat mich gar nicht berührt, nichts ausgelöst, mir war alles egal was dort passiert. Sehr sehr schade. :( Also, bei den nächsten Geschichten wieder drauf achten, dass ich sie gerade wirklich lesen will. Immerhin habe ich eure Beiträge, die mich nachträglich etwas eintauchen lassen.

  • Heftig. Die Geschichte lässt mich zwiegespalten zurück.


    Bernsteine suchen ist schon eine Leidenschaft. Eine unglückliche Ehe keine mehr. Für den alten Fischer bestimmt auch eine Flucht aus dem Alltag mit seiner Frau. Warum geht er aber nicht einfach?


    Ich denke, als er endlich endlich endlich DEN Fund macht, auf den er gewartet hat, beschließt er das Ende seiner Ehe. Endlich ist er frei. Gedanklich. Eigentlich muss er nicht mehr suchen. Aber wäre er dann vielleicht nicht nur noch daheim? Die tanzende Spinne ist für mich nur ein Traum für ihn. Der Traum sich zu befreien, wie es die Spinne aus dem Bernstein versucht.


    Aber gleich den Kopf abhacken? Das war mir dann doch zu heftig. Er hätte sie ja vergiften können oder so, aber das ging mir doch an die Nieren, egal wie furchtbar die Frau war. Aber dazu gehören auch immer zwei. Eine die ihn so mies behandelt und einer, der es sich gefallen lässt.


    Der Bernstein war seine Befreiung von allem und die Spinne die passende Symbolik dazu. Ich hoffe nun, dass die nächste Geschichte mal etwas positiver wird.

    :lesend Derek Meister - Rungholts Sünde

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    Hörbuch: Mario Giordano - Tante Poldi und die schwarze Madonna

    Hörbuch: Peter Beer - Achtsamkeit statt Angst und Panik

    SuB: 317

  • Warum geht er aber nicht einfach?

    Kannst du dir ernsthaft vorstellen, dass es für einen alten Fischer, der sein ganzes Leben an diesem Ort zugebracht hat, eine realistische Alternative darstellt, "einfach zu gehen", liebe Schubi?

    Ich nicht.

    Ich hoffe nun, dass die nächste Geschichte mal etwas positiver wird.

    Ich fürchte, "Auf Tiefe" ist keine Sammlung von Wohlfühlgeschichten ... :erschreck


    In diesem Zusammenhang die erste Strophe aus "Wo bleibt das Positive, Herr Kästner?" (1930):


    Und immer wieder schickt ihr mir Briefe,
    in denen ihr, dick unterstrichen, schreibt:
    »Herr Kästner, wo bleibt das Positive?«
    Ja, weiß der Teufel, wo das bleibt.


    :wave

  • Dieter Neumann da hast du natürlich recht. Der ist so verwurzelt, dass er das Leid mit seiner Frau lieber erträgt als zu gehen.


    Zudem hast du recht, dass es nicht nur Wohlfühlgeschichten sind. Nach dem Buchrücken soll ja alles vertreten sein: handfest, anspruchsvoll, fesselnd, heiter, unterhaltsam, düster. Daher bin ich gespannt, was mich noch erwartet.

    :lesend Derek Meister - Rungholts Sünde

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    Hörbuch: Mario Giordano - Tante Poldi und die schwarze Madonna

    Hörbuch: Peter Beer - Achtsamkeit statt Angst und Panik

    SuB: 317