'Im wechselnden Licht der Jahre' - Seiten 187 - 249

  • ;) Ja, auch wenn sie nicht im Sinne des Autors sind, finde ich sie interessant.

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    Von den vielen Welten, [...] ist die Welt der Bücher die größte. (Hermann Hesse)


    :lesend Tom Liehr: Im wechselnden Licht der Jahre

  • Mein moralischer Kompass schlägt da nicht aus.

    Meiner durchaus. Alex wäre von allein nie auf diesen Plot gekommen und die Ähnlichkeit zum beschriebenen Original würde ich als deutlich bezeichnen. Dass der Autor tot ist und sein Roman nie veröffentlicht wurde, wäre nebensächlich. Klar, er hat nichts verbotenes getan, aber etwas moralisch sehr sehr fragwürdiges. In meinen Augen.

  • Meiner durchaus. Alex wäre von allein nie auf diesen Plot gekommen und die Ähnlichkeit zum beschriebenen Original würde ich als deutlich bezeichnen. Dass der Autor tot ist und sein Roman nie veröffentlicht wurde, wäre nebensächlich. Klar, er hat nichts verbotenes getan, aber etwas moralisch sehr sehr fragwürdiges. In meinen Augen.

    Was wäre die Alternative? Was hätte der Autor davon, wenn Alex es nicht veröffentlicht? Dass die Erben das Manuskript noch veröffentlichen wollen (und einen Verlag dafür finden) ist doch arg unwahrscheinlich. Der Autor würde sich vermutlich eher freuen, wenn es sowas wie einen Himmel gibt. Und ob Alex Gedächtnisprotokoll nach 24 Jahren so gut ist, dass es noch dicht an der Vorlage ist ... Wie gesagt, ich sehe da kein Problem.

    “You can find magic wherever you look. Sit back and relax all you need is a book." ― Dr. Seuss

  • Im Prinzip ist es Ideenklau, egal wie lange es her ist. Egal ob der Ideengeber tot oder lebendig oder dement ist. Ein ungutes Gefühl bleibt immer.

    Aber Alex nimmt ja immer alles recht leicht, ihm fällt alles zu, die Frau, die Kinder, der Erfolg. Er forscht zwar nach, aber nur, um sich abzusichern.

    Alex hat ihm zwar damals geschrieben, umgearbeitet könnte was daraus werden, aber so wie es aussieht, wurde daraus nichts. Keine Entschuldigung um die Geschichte nun zu verwenden.

  • https://en.wikipedia.org/wiki/Steal_Like_an_Artist


    Steal like an artist: The author cautions that he does not mean ‘steal’ as in plagiarise, skim or rip off — but study, credit, remix, mash up and transform. Creative work builds on what came before, and thus nothing is completely original.


    Das Problem ist, dass die Originalgeschichte nie veröffentlicht wurde und deswegen der 'Credit'-Teil schwierig wird. Und dadurch ist auch schwer zu beurteilen, ob Alex tatsächlich nur nacherzählt oder ob seine Umarbeitung genug Eigenständigkeit hat. Es klingt hier so, als hätte es die nicht, aber das kann auch sein Selbstbild sein.


    'Wetfield' übersetze ich für mich mit 'Treibsand'.

    I never predict anything, and I never will. (Paul Gascoigne)

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  • Oh, tatsächlich gelten Psychopathen - die übrigens überproportional in den Vorständen großer Firmen vertreten sind - als meistens sehr oder sogar extrem intelligent, aber ihr Sozialverhalten lässt oft zu wünschen übrig, um es nett zu sagen. Man misst ja auch nicht ohne Grund einen IQ und einen EQ, und beide sagen Unterschiedliches aus.

    ...

    Ansonsten verlasse ich mich in dieser Hinsicht auf die Einschätzung, zu der man gelangt, wenn man eine Person ein bisschen näher kennengelernt hat. Am Rande: Ich bin mit jemandem bekannt, der amtlich belegt einen ziemlich hohen IQ hat und sich damit brüstet, im "Mensa-Club" zu sein, aber dieser Mensch hat nicht nur das Sozialverhalten einer Rolle Klopapier, nein, er glaubt auch noch, die Krone der Schöpfung zu sein.

    Doch noch mal ein paar Gedanken dazu...
    Wovon Du sprichst ist eine Korrelation zwischen Psychopathen, Vorständen, Intelligenz und sozialem Verhalten. Das hat allerdings nichts mit einer Korrelation zwischen Intelligenz und Sozialverhalten zu tun, sondern zeigt lediglich, dass das spezielle Profil Psychopath - mit u.a. dem Merkmal eines gestörten Sozialverhaltens - häufig mit hoher Intelligenz zusammengeht. (Und nebenbei, tatsächlich gibt es Berufe, in denen Psychopathen ihre speziellen Eigenschaften gut einsetzen können. Sie halten große Belastungen aus, verzeihen sich selbst ihre Fehler, können unter großem Druck die richtigen Entscheidungen treffen: Chirurgie z.B., ein Beruf der so belastend ist, dass er mit einer stark unterduchschnittlichen Lebenserwartung einhergeht.)
    Um feststellen zu können, ob es eine Korrelation zwischen Intelligenz und Sozialverhalten gibt, darf man nicht spezielle psychologische Profile betrachten. Ich meine mal gelesen zu haben, dass es eine solche Studie gab und tatsächlich keine Korrelation festgestellt werden konnte. Aber ja, es ist nur meine Erinnerung und ich habe mir auch nicht die Studie angeschaut. Wenn man das tut, stellt man sehr häufig fest, dass das Ganze nicht haltbar ist.
    Dein Mensa-Bekannter ist - wie Du sicher selbst weißt - ohnehin nur eine Anekdote. Aber ich bin mir auch sicher, dass die Mitgliedschaft im Mensa-Club ein sehr spezieller Filter für eine bestimmte Ausprägung von intelligenten Menschen ist. Und kann mir gut vorstellen, dass es ein Filter ist, der mit einer eher schlechten Ausprägung des Sozialverhaltens einhergeht.

    Und jetzt noch die Brücke zum Buch:
    Ich frage mich schon die ganze Zeit, warum mir die Stelle mit Kriki nicht gefällt. Ich vermute es ist, weil es ein ähnlicher Filter ist, wie der Psychopathen-Filter oben. Kriki ist überspitzt dargestellt, aber man findet in den sozialen Medien Beispiele für diese Verbohrtheit und Dummheit, klar. Und auch ich ärgere mich dann darüber.
    Aber die 'wokeness'-Bewegung scheint mir auch eine gemäßigtere, zahlenmäßig größere Seite zu besitzen, die einfach nicht so auffällig ist, weil sie gemäßigt ist und dadurch mit Beispielen wie Kriki in einen Topf geworfen wird. Die ursprünglichen Ziele, aus der diese Bewegung mal hervorgegangen ist, teile ich durchaus. Hmm, ich muss die Stelle nochmal lesen.

    Vielleicht liegt's aber auch daran, dass ich den Eindruck habe, dass der Höhepunkt der Wokeness-Welle ohnehin überschritten ist und wir die nächsten Jahre mit dem Backlash zu tun haben werden, dessen Auswirkungen ich sehr viel mehr fürchte...
    Tatsächlich gibt's ja jetzt die befürchteten Sprachverbote und sie kommen nicht von der 'Sprachpolizei' und auch nicht von der Verbotspartei...
    Das meine ich aber noch nicht mal mit dem Backlash, sondern vielmehr den Umschwung bei den 12-27-Jährigen Richtung AfD...

  • Mein Nachwuchs ist 17 und 19 und wir unterhalten uns gerade immer wieder über die anstehende Europawahl. Hier steht die AfD zum Glück bei der Jugend überhaupt nicht hoch im Kurs. Könnte mit daran liegen, dass die Gesamtschule eine deutliche Multi-Kulti-Gemeinschaft abbildet und die Freundschaften quer durch alle Kulturen gehen. Und die Mädchen das Frauenbild der AfD generell ablehnen.

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  • Ergänzt noch jemand im Kopf immer Lavida mit "loca"? :kopfdreher

    Beim Hörbuch klingt das genauso wie "La Vida", und ich habe direkt Ricky Martin im Ohr ...

    Über die Namen habe ich mir weder Gedanken gemacht noch habe ich einen Ohrwurm, aber jetzt wo Du es sagst :lache


    Zu den Namen, es gibt ja inzwischen die dollsten Wortschöpfungen was das betrifft und insofern habe ich das einfach in die "moderne" Ecke geschoben.

  • Diesen Abschnitt habe ich jetzt (fast) in einem Rutsch durchgelesen - und würde jetzt ungemein gerne wissen, wie es ausgeht - also weiterlesen - aber ob das über das Wochenende zeitlich klappt, überblicke ich noch nicht, zumal in ein paar Minuten das familiäre "Abendprogramm" beginnt.


    Stichwort Jagd und Bücher darüber. In den 90ern war ich u. a. für einen Verlag als Verteter unterwegs, der auch Jagdbücher verlegte. Das gab so manche heftige Diskussion in den Buchhandlungen. War trotzdem eine schöne Zeit.


    Auf S. 203 bin ich dann ins Schleudern geraten, habe die Stellen zwei Mal nachgelesen und kam jedes Mal zu dem Ergebnis: da stimmt was nicht (oder ich habe irgendwo etwas überlesen):

    Seite 192: Alexander wird in dem jetzt begonnenen Jahr 60, ist also 59.

    Seite 203: Matthies ist etwa in seinem (Alexanders) Alter also etwa 59.

    Seite 195: zu Jonathan: Jetztzeit vor 45 Jahren, da war er 8, also ist er jetzt 53.

    Wie kann Matthies (59) jünger als Jonathan sein, der jetzt 53 ist?


    Seite 209. „(…) und unterm Strich wohl beste Stadt der Republik“. Da kann man durchaus verschiedener Meinung sein. :grin ;-)


    S. 210, Herr Nimmrichter sollte vielleicht hierher ziehen, da hätte er seine drei Kiefern fällen lassen können. Als für unsere Wohngegend der Bebauungsplan geändert wurde, habe ich mich erkundigt, ob das für uns etwas bedeutet. Dabei kamen wir auch auf die Begrünung der Grundstücke, zu der Einiges im Bebauungsplan steht, zu sprechen. Zitat des Chefs des Bauamts: „Nadelbäume interessieren uns nicht.“ Will sagen, unsere Nadelbäume könnten wir fällen lassen, wie wir wollen (mußten wir leider auch schon mit einigen, teilweise hatten die den heißen Sommer 2018 nicht überstanden).


    S. 214: erschütternde 250 Megabit. Oh je, der arme Junge! Wir haben hier gerademal einhundert - und die reichen vollauf. Selbst wenn wir auf zwei Geräten im Haus streamen. Und das bei Kupferkabel!


    Insgesamt hat Alexander eine recht … zusammengewürfelte Nachbarschaft. Das las sich ganz interessant, aber ob ich dort wohnen möchte - das weiß ich nicht so recht.


    In dem Abschnitt erfahren wir auch mehr über die berufliche Tätigkeit von Alexander, und wie er zu den „Fake-Rezensionen“ kam. Hauptberuflich schreibt er also recht erfolgreiche Bücher. Aber da ist das klitzekleine Manko “Christian Mehlborn“. Mit dem Beginn der Beichte auf der letzten Seite dieses Abschnitt fällt ihm dieses wohl kräftig auf die Füße.


    Völlig überrascht wurde ich dann, als Alexander versehentlich mitbekommt, wie in seiner Abwesenheit Birger Tabea besucht. Ich hätte mit vielen gerechnet, aber damit nicht. Zu einem früheren Zeitpunkt wollte Tabea Alexander etwas sagen, aber erst, nachdem sie mit ihrem Bruder gesprochen hatte. Das wurde nie mehr thematisiert. Ob das damit zu tun hat? Vielleicht ist sie gar nicht die, als die sie erscheint? Ich hatte schon im ersten Abschnitt geschrieben, daß mir die Diplomatentätigkeit etwas seltsam vorkommt und ob da nicht Geheimdienstaktivitäten dabei sind. Vielleicht kommt in diese Richtung eine Erklärung? Es kann natürlich auch ein ganz normaler Nachbarschaftsbesuch sein - auch wenn vom Anschein her alles gegen einen solchen spricht.


    Ich bin gespannt, was da letztlich herauskommt. Oder auch nicht. Denn der nächste Abschnitt ist mit „Koma“ überschrieben. Und da kommt der Prolog ins Gedächtnis - und das verheißt nichts Gutes.

    Unter den Büchern finden wir wieder, was uns in der Fremde entschwand, Frieden im Innern und Frieden mit unserer Umgebung.
    (Gustav Freytag, 1816 - 1895, aus "Die verlorene Handschrift")

  • Tom schaltet irgendwann diverse Gänge höher, so dass ich das ganze Buch jetzt durch habe, wieder zurückblättern muss und nochmal die vielen Eindrücke einsammeln muss. Ist mir bei den 'Freitags' damals auch so passiert, meine ich...

    Kleinmachnow...
    Dieser Teil fing sehr unkonventionell an, viele Infos, die nicht direkt was mit der vordergründigen Geschichte zu tun haben, dabei sehr geschickt jongliert in Gegenwart (tatsächlich auch in Präsens, bin mir nicht sicher, wann Du, Tom, dahin gewechselt hast) und Rückblende. Die Zusammenstellung der Menschen in Kleinmachnow ist dabei arg bunt geworden, was mir erst mal unglaubwürdig vorkommt. Andererseits: Wenn ich über meine eigene Wohngegend nachdenke, die nichts unkonventionelles ist, fallen mir 2 Dinge auf:
    Zum einen interessiert sich Alex wirklich für Menschen, nicht in einem 'Tratsch'-Sinn, sondern tatsächlich. Zum anderen, ja, es ist schon eine sehr bunte Gesellschaft, die man so um sich hat. Und ich vermute diese 'Diversität' sollte dargestellt werden, eine Diversität die sich nicht ergibt aus irgendwelchen Kategorien wie Hautfarbe, Religion, Ethnie usw., sondern einfach weil ohnehin jeder Mensch anders ist und es verdient individuell gesehen zu werden.
    Und im Zusammenhang mit der Kriki-Szene: ...individuell gesehen zu werden, statt in irgendwelche Kategorien eingeteilt zu werden und daraus Vor- und Nachteile ableiten zu wollen, vor allem aber Vorteile für sich selbst, indem man sich als den besseren Mensch markiert und daraus eine Machtposition ableitet (Während Kriki in der Szene eben vor allem eine Lachnummer ist, ist Christoph Berninger die Steigerung, er kann nicht nur moralische, sondern sogar göttliche Macht für sich beanspruchen...).

    Ich lese diese Szene im Zusammenhang mit der Kriki-Szene, nehme gedanklich Identitätspolitik mit ins Boot und fange an für mich selbst - mit meinem gesellschaftlichen Stammtischwissen und hoffentlich auch etwas gesundem Menschenverstand - das Ganze zu sortieren:

    Ich/wir sind im Geist des Universalismus erzogen. Gleiche Rechte und Pflichten für alle, um's mal knapp zu sagen. Und wenn jeder sich daran hält, wird die Welt automatisch gut, es gibt dann z.B. keinen Rassismus mehr.
    Jetzt ist schon wieder etwas Zeit vergangen und es ist die Frage aufgekommen, ob das wirklich so stimmt, ob das Prinzip des Universalismus tatsächlich ausreicht, um z.B. den Rassismus aus der Welt zu schaffen, warum stagniert die Entwicklung diesbezüglich dann? (Und ich frage mich, ob das nicht schon optimistisch ausgedrückt ist...)
    Die aktuelle Antwort darauf scheint mir zu sein, dass es neben dem individuellen Rassismus, der, wenn wir uns alle an den Universalismus halten komplett verschwindet, etwas gibt, das unter dem Begriff struktureller Rassismus (im engl. auch systemic racism) läuft. Der strukturelle Rassismus ist ein widerspenstiges Ding, weil er sich nicht in individuellen Verfehlungen zeigt, es gibt keinen Täter, er entzieht sich den Rechten und Pflichten des Universalismus. Sichtbar wird er stattdessen in Statistiken, z.B. hier:

    https://www.reuters.com/graphi…L-RACE/USA/nmopajawjva/#0

    Struktureller Rassismus ist nie individueller Rassismus, das ist ja sein Wesen. Wenn z.B. jemand sein Kind lieber in eine Schule stecken möchte mit wenig Schülern mit Migrationshintergrund, dann ist das kein individueller Rassismus - es gibt keinen konkreten Täter, es gibt kein konkretes Opfer - es fördert aber strukturellen Rassismus.


    Diese schwierige Herausforderung versucht Identitätspolitik zu adressieren, es ist eine Gratwanderung und an irgendeiner Stelle ist dabei was schiefgegangen, denn irgendwann wurde dieses strukturelle Problem, zu dem man strukturelle Lösungen finden muss, individualisiert. Zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung.

    Nimmt man obige Statistik, dann ist klar: Weiße Menschen sind gegenüber schwarzen Menschen in den USA in den angegebenen Bereichen privilegiert. Statistisch gehören damit alle weiße Menschen in dieser Hinsicht der privilegierten Klasse an, alle schwarzen Menschen nicht, vollkommen unabhängig von ihrer jeweiligen individuellen Situation. Natürlich stimmt der Umkehrschluss nicht, das ist das Wesen von Statistik und genau das ist ja auch das Wesen von strukturellem Rassismus, und damit auch von der Politik, die sie adressiert, der Identitätspolitik.


    Irgendwann und irgendwie ist diese statistische Größe von irgendwem trotzdem individualisiert worden... Der falsche Umkehrschluss ist gezogen worden.


    Ich vermute, es hängt mit folgendem zusammen:
    Rassismus ist so verwurzelt in unserer Geschichte und Traditionen, dass es uns schwer fällt ihn zu erkennen. 'Sinterklaas und zwarte piet' scheint mir dafür ein gutes Beispiel.
    Für Menschen, die nicht mit dieser Tradition aufgewachsen sind, ist klar zu erkennen, dass es keine gute Idee ist, einen weißen Mann mit Bart auf einen Schimmel zu setzen und Geschenke an liebe Kinder verteilen zu lassen und diesen mit einem Haufen schwarz geschminkter Menschen mit Afroperücke, großen goldenen Ohrringen und rot geschminkten Lippen zu umgeben, deren Aufgabe es ist, böse Kinder zu bestrafen.


    Tatsächlich ist es ein langer gesellschaftlicher Umdenkungsprozess daran etwas zu ändern.
    Vor - keine Ahnung 10-15 Jahren - hätte ich als Niederländer, der in dieser Tradition aufgewachsen ist, gesagt: 'Leute, das ist eine vollkommen harmlose Tradition an der alle Spaß haben, niemand - wirklich niemand - hat dabei irgendeinen Hintergedanken...' und hätte über 90% der niederländischen Bevölkerung inkl. Premierminister Rutte hinter mir gewusst. Heute begrüße ich es sehr, dass eine Abkehr vom zwarten Piet stattfindet, die rassistische Verkleidung durch eine neutrale ersetzt wird.


    Es gibt ihn, diesen blinden Fleck und das scheint mir das Körnchen Wahrheit zu sein, was dazu geführt hat, dass dieser falsche Umkehrschluss gezogen wird. Dieser blinde Fleck ist etwas, was Zeit und Überzeugung braucht und eben auch jemanden der ihn sieht. Der eben nicht derjenige sein kann, der ihn hat.


    Nun ist Rassismus nicht das Thema dieses Romans, auch Identitätspolitik ist nicht das Thema dieses Romans. Kriki leitet aus einer sich selbst verliehenen moralischen Überlegenheit eine persönliche Überlegenheit ab. Sie kombiniert diese moralische Überlegenheit mit einer ebenfalls sich selbst verliehenen Überlegenheit, indem sie sich der sozial unterprivilegierten Seite zuordnet und dabei diesen Umkehrschlussfehler macht und aus dieser statistischen Unterprivilegiertheit heraus Ansprüche stellt. Sie ist eine Lachnummer. Eine individuelle Lachnummer.
    Wir sehen unterschiedlichste Fälle in diesem Roman, in dem Menschen für sich beanspruchen die Moral auf ihrer Seite zu haben und daraus etwas herleiten, oder auch Menschen, die feststellen, moralisch falsch gelegen zu haben und ihren Fehler korrigieren müssen (oder auch nicht). Oder auch das etwas schief geht, ohne dass jemand eine moralische Schuld hat und wie damit umgegangen wird.


    Dennoch brauchte ich diesen Exkurs zum Thema strukturellem Rassismus um das alles für mich ein bisschen zu sortieren...

    I never predict anything, and I never will. (Paul Gascoigne)

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  • Hallo, Maarten.


    Tatsächlich ist die Kriki-Episode kurz vor dem Aufeinandertreffen mit Ayksen Brahoon ein Abschnitt, von dem ich mir beinahe gewünscht hätte, er wäre dem Lektorat zum Opfer gefallen. Er ist geblieben, weil es darin ja auch (wie an vielen Stellen) ums vorschnelle Urteilen geht, um ein Urteilen, das ins Weltbild passt, dem eigenen Weltbild dient, wofür nicht wenige über Leichen gehen, metaphorisch gesprochen. Die Rassismuskomponente darin kommt selbst mir beim Lesen ein gutes Jahr später ziemlich willkürlich vor, dramaturgisch gesehen. Inhaltlich ist das realistisch und zutreffend, dienen solche Vorgänge vor allem der Selbstüberhöhung, genau wie Du schreibst, aber trotzdem ist das ein bisschen verunglückt und macht einen Nebenschauplatz auf, wo es eigentlich schon genügend davon gibt.


    Deine Gedanken dazu fand ich trotzdem sehr spannend.

  • Hallo, Maarten.


    Tatsächlich ist die Kriki-Episode kurz vor dem Aufeinandertreffen mit Ayksen Brahoon ein Abschnitt, von dem ich mir beinahe gewünscht hätte, er wäre dem Lektorat zum Opfer gefallen. Er ist geblieben, weil es darin ja auch (wie an vielen Stellen) ums vorschnelle Urteilen geht, um ein Urteilen, das ins Weltbild passt, dem eigenen Weltbild dient, wofür nicht wenige über Leichen gehen, metaphorisch gesprochen. Die Rassismuskomponente darin kommt selbst mir beim Lesen ein gutes Jahr später ziemlich willkürlich vor, dramaturgisch gesehen. Inhaltlich ist das realistisch und zutreffend, dienen solche Vorgänge vor allem der Selbstüberhöhung, genau wie Du schreibst, aber trotzdem ist das ein bisschen verunglückt und macht einen Nebenschauplatz auf, wo es eigentlich schon genügend davon gibt.


    Deine Gedanken dazu fand ich trotzdem sehr spannend.

    Ich verstehe, warum Du es Dir beinahe gewünscht hättest. Mir geht es beim Lesen ja genau so.

    Ich habe mittlerweile geschaut, wo es in Präsens losgeht: Teil zwei - Kleinmachnow. Speckgürtel wird fast komplett in der Vergangenheit erzählt, weil die Entwicklung erzählt wird. Aber bis zu Gegenwart und dort im Präsens. Präsens kommt dabei fast nicht vor, aber immer mehr und es endet dann eben im Präsens. Und da geht's dann auch im nächsten Kapitel weiter. Es ist als würde von der Vergangenheit in die Gegenwart übergeblendet. Gefällt mir sehr. Und dieser Wechsel in das eher unübliche Präsens ermöglicht dann dieses Jonglieren zwischen Gegenwart und Vergangenheit.

  • Ich muss gestehen, dass ich solche Dinge wie den Wechsel der Zeitform beim Lesen nicht bewusst wahrnehme. Aber mein Unterbewusstsein scheint das zumindest dahingehend korrekt zu verarbeiten, dass ich mitkriege, ob in der Retrospektive oder Gegenwart erzählt wird. Sonst hätte ich mich genau das gefragt: wo in der Geschichte bin ich grad. Hab ich nicht, also war ich da wohl auch ohne bewusste Wahrnehmung nicht irritiert und mein Lesefluss war nicht gestört. Ich verstehe aber, dass das zur Kunst richtigen Erzählens gehört und das ist dann in diesem Fall für mich sehr gut gelungen.

  • Das freut mich, dass Ihr das gelungen findet.

    Für mich hat dieser Wechsel große Bedeutung - was im Präteritum und dann auch noch von einer ich-erzählenden Person erzählt wird, ist reflektierend, verbindet das vergangene Ich mit dem gegenwärtigen, das die Vergangenheit hinter sich hat und, wichtig, die Erzählung bestimmt. Im Präsens ist die erzählende Person sozusagen unbefleckt, kennt ihre eigene, unmittelbare Zukunft noch nicht und muss mit dem Geschehen unvoreingenommen umgehen, während sie es gleichzeitig erlebt und davon erzählt.


    Edit: Im Präteritum sind der Ich-Erzähler und das Ich, von dem er erzählt, nahezu zwei verschiedene Personen, im Präsens ist es ein und dieselbe.