Die ersten drei Sätze eures aktuellen Buches (ab 07.06.2024)

  • Marschland ist nicht gleich Sumpf. Marschland ist ein Ort des Lichts, wo Gras in Wasser wächst und Wasser in den Himmel fließt. Träge Bäche mäandern, tragen die Sonnenkugel mit sich zum Meer, und langbeinige Vögel erheben sich mit unerwarteter Anmut - als wären sie nicht fürs Fliegen geschaffen - vor dem Getöse Tausender Schneegänse.


    "Drei Dinge sind uns aus dem Paradies geblieben: die Sterne der Nacht, die Blumen des Tages und die Augen der Kinder!" (Dante Alighieri)

  • Mit Mitte fünfzig zog ich für mehrere Wochen zu meiner Mutter aufs Land nach Schleswig-Holstein, wo sie unweit der Ostsee auf einem weitläufigen, ja parkähnlichen Grundstück lebt. Ich redete mir ein, sie bedürfe dringend meines Beistands, dabei war sie kerngesund, offensiv vital, sah mit ihren sechsundachtzig Jahren fantastisch aus und kam bestens allein zurecht.

    Ich hingegen war derjenige, der nicht mehr klarkam und dem viele Fäden gerissen waren.

    Die eigentliche Geschichte aber bleibt unerzählt, denn ihre wahre Sprache könnte nur die Sprachlosigkeit sein. Natascha Wodin

  • Flandern, Dezember 1049.

    Kurz nach Mitternacht beginnt ein heftiger Wind, die Kronen der Bäume durchzuschütteln, und nimmt in den folgenden Stunden immer mehr zu. Die eiskalten Luftmassen bringen Schnee aus Nordosten und begraben Flandern unter einer weißen Decke. Die flache Küstenlandschaft bietet den Elementen wenig Widerstand.


  • "Du siehst doch ein, dass sie sterben muss?"

    Die Worte wehten hinaus in die stille Nacht, schienen einen Moment in der Luft zu verharren und dann in der Dunkelheit hinunter zum Toten Meer weiterzuziehen.

    Hercule Poirot, die Hand schon am Fenstergriff, hielt stirnrunzelnd inne.


  • Reglos stand die Braut da, unter Lagen kratziger Petticoats wie zur Salzsäule erstarrt. Schweiß lief ihr den Rücken hinunter, sammelte sich in den Achselhöhlen und hinterließ Flecken auf der elfenbeinfarbenen Seide. Sie schob sich näher an die Tür des Bedeken-Raumes heran und presste ein Ohr dagegen.

    Die eigentliche Geschichte aber bleibt unerzählt, denn ihre wahre Sprache könnte nur die Sprachlosigkeit sein. Natascha Wodin

  • (mal ein minibisschen mehr, sonst wirkt der Anfang eher komisch)


    (Kapitelüberschrift)


    "Eistanzen? Willst du mich verarschen?" - Ty Randall, MMA-Kämpfer, alias "Ty, der MMA-Beißer", zu seinem Manager


    (Kapitelbeginn)


    Ich hasse Familientreffen. Obwohl sie sich eigentlich nicht ausstehen können, sind alle nett zueinander, und das bloß, weil sie verwandt miteinander sind. Und ich muss stundenlang dabeisitzen und zuhören, wie lang und breit über das Wetter geredet wird, obwohl ich genau weiß, dass alle nur darauf warten, endlich die Sprache auf diesen einen, furchtbar peinlichen und längst vergangen Vorfall bringen zu können. So ist die Eiskunstlauf-Community, eine große Familie: Eigentlich mag man sich nicht, kann sich aber auch nicht aus dem Weg gehen.


  • Sie wohnten einige Kilometer außerhalb des Ortes auf einem Berg weit über dem Meeresspiegel. Entlang des gekrümmten kleinen Wegs im Bergdorf namens Sarvesoajvve lagen Hütten und Höfe verstreut in einem ebenso krummen Birkenwald mit einigen Tannen darin. Von den am höchsten gelegenen Häusern konnte man bis nach Guovddo sehen, dem einzigen zusammenhängenden Ort der Gemeinde.


  • Wir saßen auf wackeligen Klappstühlen hinter dem Haus, tranken Kaffee, genossen die letzten warmen Strahlen der Spätsommersonne und schauten auf das verwilderte Grundstück, das einmal ein großer Schrebergarten gewesen war. Sylvia und Heiko hatten sich dieses Haus in der Nähe des Liepnitzsees, im Berliner Umland, gebaut. Es hatte einige Jahre gedauert, bis es fertig geworden war, doch nun waren sie und ihre kleine Tochter Lilith eingezogen und hatten ihrem Leben in Berlin endgültig den Rücken gekehrt.

    Die eigentliche Geschichte aber bleibt unerzählt, denn ihre wahre Sprache könnte nur die Sprachlosigkeit sein. Natascha Wodin

  • "Hättest du die Güte, dir heute beim Turnier endlich den Hals zu brechen?", erkundigte Richard sich bei seinem älteren Bruder und ließ es wie einen Scherz klingen.

    Henri lachte, streifte die Handschuhe über und prüfte ein letztes Mal die Riemen und Gurte am Sattel seines Hengstes.

    "Heute nicht, Bruderherz, Marguerite würde es mir übernehmen, fürchte ich."


  • Linda war im Haus und telefonierte — mit wem eigentlich, so früh? Vom Whirlpool aus sah John zu, wie sie in ihrem Bademantel und einem alten Badeanzug mit verblasstem Tropenmuster, der wahrscheinlich einem der Mädchen gehörte, hin und her ging. Es war schön, sich ein bisschen im Wasser treiben zu lassen, zur anderen Seite des Pools zu gleiten, dabei den Kaffee über Wasser hochzuhalten, während die Düsen vor sich hin sprudelten.


  • Diesmal wird es eine regelgerechte Weihnachtsgeschichte. Eigentlich wollte ich sie schon vor zwei Jahren schreiben; und dann, ganz bestimmt, im vorigen Jahr. Aber wie das so ist, es kam immer etwas dazwischen.

    Die eigentliche Geschichte aber bleibt unerzählt, denn ihre wahre Sprache könnte nur die Sprachlosigkeit sein. Natascha Wodin

  • Die Hand auf seiner Schulter machte ihn nervös. Sie sollte Ruhe ausstrahlen und ein Gefühl der Geborgenheit erzeugen, aber das Gegenteil war der Fall. Krampfhaft hielt er die Augen geschlossen und versuchte, zu jener Stelle im Gespräch zurückzukehren, an der er vor dieser Berührung gewesen war.


  • Gründonnerstag, 29. März 2018. Der Frankfurter Hauptbahnhof wurde von milder Abendsonne geflutet, die wartenden Passagiere an Gleis 9 warfen lange Schatten. Auf die Minute pünktlich um 18 Uhr 30 fuhr Tanja Arnheim mit ICE 375 aus Berlin ein.

    Die eigentliche Geschichte aber bleibt unerzählt, denn ihre wahre Sprache könnte nur die Sprachlosigkeit sein. Natascha Wodin