'Die Dolmetscherin' - Seiten 101 - 185

  • Der Schwurgerichtssaal 600 sieht heute übrigens nicht mehr ganz genau so aus wie damals. Ich denke, es ist trotzdem bewegend, den Raum zu sehen, weil er bis heute "Geschichte atmet" - aber es ist eben nicht mehr das historische Original, wenn man so will.

    Das stimmt. Es gibt eine kleine Ausstellung dazu, welche auch Bilder von damals zeigt, so dass man sich das sehr gut vorstellen kann. Und als ich dann drin saß, war das schon bewegend. Das ist jedoch schon länger her und dieses Buch macht die Geschichte gerade so lebendig, dass ich da nochmals hingehen möchte. Ich kann mir gut vorstellen, dass ich es diesmal dadurch sogar noch intensiver empfinden könnte.

  • Waren es die Umstände, die das verhindert haben oder verstummte er angesichts dessen, was er im Krieg erlebt hat?

    Das habe ich mich auch gefragt. Ich kann mir vorstellen, dass er sich vielleicht irgendwann im Laufe des Krieges nicht mehr überwinden konnte, Banalitäten zu schreiben. Und für die Gräuel, die er an der Front erlebte, hatte er vielleicht keine Worte oder wollte seine Familie zu Hause auch nicht zusätzlich belasten. Außerdem durften die Soldaten bestimmt auch nicht ehrlich schreiben, wie schlimm der Krieg wirklich war. Die hatten von oben bestimmt Vorgaben, dass nur gewisse Dinge nach außen geschrieben werden durften. Leos Gründe sind bestimmt vielschichtig.

    Die eigentliche Geschichte aber bleibt unerzählt, denn ihre wahre Sprache könnte nur die Sprachlosigkeit sein. Natascha Wodin

  • Simultandolmetschen ist in meinen Augen eine Kunst: Gleichzeitig das Gesagte übersetzen und dem weiterhin Gesprochenen lauschen. Sehr fordernd. Ich habe einmal einen Bericht darüber gelesen (Dolmetscherin war unter den Berufen, die mich immer schon interessierten) und fand es sehr spannend.

    Das geht mir auch so. Ich habe größten Respekt vor dieser Leistung, insbesondere wenn es, wie hier im Buch, um komplizierte juristische Sachverhalte geht, die auch emotional schwer zu verkraften sind.

    Die eigentliche Geschichte aber bleibt unerzählt, denn ihre wahre Sprache könnte nur die Sprachlosigkeit sein. Natascha Wodin

  • Dieser zweite Teil empfand ich sogar noch intensiver als den ersten Abschnitt. Einerseits weil die Prozesse begonnen haben, über die man zwar schon viel gelesen und auch Bilder gesehen hat. Aber hier ist man irgendwie "noch mehr mittendrin". Ich war zwar schon Mal im Saal 600, den man heute an den Wochenenden besuchen kann, aber ich glaube, ich muss nach der Lektüre dieses Buches nochmals hin.

    Das geht mir auch so. Am besten mit der ganzen Familie. Die :fisch:fischwaren noch gar nicht dort. Ich denke, dass ich nach der Lektüre, einige Informationen weiter und ein paar Jahre älter einen anderen Blick haben werde.

    Die eigentliche Geschichte aber bleibt unerzählt, denn ihre wahre Sprache könnte nur die Sprachlosigkeit sein. Natascha Wodin

  • Das geht mir auch so. Ich habe größten Respekt vor dieser Leistung, insbesondere wenn es, wie hier im Buch, um komplizierte juristische Sachverhalte geht, die auch emotional schwer zu verkraften sind.

    Ja, ich denke, diese Gräuel allein nur zu hören, ist emotional sehr fordernd. Sie dann auch noch gleichzeitig übersetzen zu müssen... das ist ein Job, bei dem man nicht Abends einfach so Feierabend machen kann. Zumindest sollte das nicht so sein.


    Den Saal 600 finde ich wie bereits erwähnt heute nicht mehr gar so spektakulär. Nach der Lektüre dieses Buches kann ich mir aber schon vorstellen, dass man diesen Raum, in dem wichtige Geschichte geschrieben wurde, doch einmal wieder sehen möchte. Empfehlen kann ich aber immer einen Besuch im Dokuzentrum.

    Lieben Gruß,


    Batcat


    Ein Buch ist wie ein Garten, den man in der Tasche trägt (aus Arabien)

  • Titus Müller

    Da Du darauf hingewiesen werden wolltest - auf S. 103 ist ein Tippfehler: … WAR ich natürlich verpflichtet... muß es heißen statt „... was ich natürlich verpflichtet“. Der Satz steht im unteren Drittel der Seite

    Sehr, sehr gut. Danke! Das korrigiere ich.


    Und ich bin froh, dass das Faktische dir nicht die Geschichte erdrückt. Ich bin oft selber so von den Recherchen mitgerissen, dass ich zuviel davon in den Roman bringen will. Freue mich, dass hier die Geschichte für dich trotzdem trägt.

  • Bei den vielen Fakten und bestimmt auch noch manch faszinierendem Recherchepuzzleteilchen war es bestimmt schwer, dies eingebettet in eine Romanhandlung, auf 400 Seiten Buchumfang zu begrenzen. Das ist dann die Kunst. Du hättest so viel mehr bestimmt noch aufschreiben können. Nun, vielleicht in einem anderen Buch und Du hast ja die Lesungen, bei denen Du über manches noch berichten kannst.

    Manche Bücher müssen gekostet werden, manche verschlingt man, und nur einige wenige kaut man und verdaut sie ganz.
    (Tintenherz - Cornelia Funke)

  • Bei den vielen Fakten und bestimmt auch noch manch faszinierendem Recherchepuzzleteilchen war es bestimmt schwer, dies eingebettet in eine Romanhandlung, auf 400 Seiten Buchumfang zu begrenzen. Das ist dann die Kunst. Du hättest so viel mehr bestimmt noch aufschreiben können. Nun, vielleicht in einem anderen Buch und Du hast ja die Lesungen, bei denen Du über manches noch berichten kannst.

    Da hast du recht, in den Lesungen kann ich noch mehr erzählen.


    Schwer war für mich, abzuwägen, wie viel ich von den Nazis erzähle. Sie sollten nicht die gesamte Bühne bekommen. Deshalb habe ich auch beschlossen, die Urteile und Görings Suizid nicht ausführlich zu schildern, sonst wäre der Schluss des Romans und damit das wichtige, bleibende Bild am Ende von ihnen okkupiert worden. (Auch wenn man spannend hätte erzählen können, wie es Göring gelang, einen US-Soldaten so zu umwerben, dass er ihm am Ende erlaubte, die Zyankali-Kapsel aus seinem Gepäck im Gepäckraum zu holen.) Aber es sollte in die Zukunft gerichtet sein und die "mittlere Etage" beleuchten, wie in "Nachtauge" auch.

  • Schwer war für mich, abzuwägen, wie viel ich von den Nazis erzähle. Sie sollten nicht die gesamte Bühne bekommen. Deshalb habe ich auch beschlossen, die Urteile und Görings Suizid nicht ausführlich zu schildern, sonst wäre der Schluss des Romans und damit das wichtige, bleibende Bild am Ende von ihnen okkupiert worden.

    Ich finde, das ist Dir auch wirklich gut gelungen. :thumbup:


    Keinesfalls sollte Göring oder irgendeiner der anderen am Ende als tragischer oder gefallener Held dastehen. Ich fand eh schon schlimm genug, dass gerade er auch immer wieder darauf hingewiesen hat, dass ER (egal auf welche Art...) immerhin eine Person der Zeitgeschichte wäre. Da hat er ja leider recht. Aber ganz ehrlich: Möchte man SO in die Zeitgeschichte eingehen? Doch wohl hoffentlich nicht. :bonk


    Das fand ich übrigens auch gruselig bei Naujocks, der sich damit gebrüstet hat, der Mann zu sein, der den 2. Weltkrieg begonnen hat. Das ist so furchtbar verquer. Anstatt sich vor Scham, so eine Katastrophe angezettelt zu haben, in ein Loch zu verbuddeln, gibt er damit auch noch an. Leider wurde er ja (viel zu) mild bestraft und kam bereits in den 50ern wieder frei. :rolleyes:

    Lieben Gruß,


    Batcat


    Ein Buch ist wie ein Garten, den man in der Tasche trägt (aus Arabien)

  • Ich finde, das ist Dir auch wirklich gut gelungen. :thumbup:


    Keinesfalls sollte Göring oder irgendeiner der anderen am Ende als tragischer oder gefallener Held dastehen. Ich fand eh schon schlimm genug, dass gerade er auch immer wieder darauf hingewiesen hat, dass ER (egal auf welche Art...) immerhin eine Person der Zeitgeschichte wäre. Da hat er ja leider recht. Aber ganz ehrlich: Möchte man SO in die Zeitgeschichte eingehen? Doch wohl hoffentlich nicht. :bonk

    Göring hatte eben diese Großmannssucht und wie er in die Geschichte eingeht war ihm insofern egal. Hauptsache er hat Geschichte geschrieben und ist so unvergesslich.

  • Das fand ich übrigens auch gruselig bei Naujocks, der sich damit gebrüstet hat, der Mann zu sein, der den 2. Weltkrieg begonnen hat. Das ist so furchtbar verquer. Anstatt sich vor Scham, so eine Katastrophe angezettelt zu haben, in ein Loch zu verbuddeln, gibt er damit auch noch an. Leider wurde er ja (viel zu) mild bestraft und kam bereits in den 50ern wieder frei. :rolleyes:

    ... und hat auch weiterhin in etlichen Interviews so getan, als wären seine Taten von damals eine Art Räuberpistole und er ein "James Bond".

  • Titus Müller

    Ja, alles was ich über Naujocks lesen konnte, machte ihn mir nur noch unsympathischer und verstärkte in mir den Eindruck, er wäre - dank auch der sehr milden dänischen Rechtssprechung - viel zu lasch bestraft worden. :fetch Aber er war sicher nicht der einzige, der mit zwei blau Augen davon kam und nicht angemessen für seine Beteiligung an den Untaten der Nazis büßen musste.:bonk

    Lieben Gruß,


    Batcat


    Ein Buch ist wie ein Garten, den man in der Tasche trägt (aus Arabien)

  • Es gab nach dem Krieg eine Justiz, die auf beiden Augen und dazu noch den Hühneraugen blind war. Da wurde mancher gehenkt der wesentlich weniger als Naujocks getan hatte und mancher, der sauber gewaschen aus dem Dreck kam.

    Nemo tenetur :gruebel


    Ware Vreundschavt ißt, wen mahn di Schreipfelerdes andereen übrsihd

    :lesendLou Lingyuan Sehnsucht nach Shanghai :lesend Beate Maly Mord im Filmstudio

  • Das geht mir auch so. Ich habe größten Respekt vor dieser Leistung, insbesondere wenn es, wie hier im Buch, um komplizierte juristische Sachverhalte geht, die auch emotional schwer zu verkraften sind.

    Das stelle ich mir besonders schwierig vor. Wie kann man sich auf so stressige Übersetzungen konzentrieren, wenn die Inhalte einen derart nah gehen?


    Mich würde interessieren, ob diese Simultanübersetzer hinterher auch eine Kopie von den Dialogen bekommen haben, um wenigstens nachlesen zu können, was sie da eigentlich gesagt hatten.

    - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - -
    Von den vielen Welten, [...] ist die Welt der Bücher die größte. (Hermann Hesse)


    :lesend A. E. Brachvogel: Friedemann Bach