Abendland - Michael Köhlmeier

  • Handlung (Klappentext):
    Carl Jacob Candoris - Mathematiker, Weltbürger, Dandy und Jazz-Fan - ist 95 Jahre alt und legt seine Lebensbeichte ab: Eine turbolente, zu Herzen gehende Weltgeschichte des 20.Jahrhunderts.
    Aufschreiben soll diese Geschichte der Schriftsteller Sebastian Lukasser, Sohn des Gitarristen Georg Lukasser, den Candoris in den Jazz-Kellern im Wien der Nachkriegsjahre kennengelernt hat.
    Zwei ungleiche Menschen, die sich lieben und bedauern, verehren und verachten, zwei Lebensentwürfe, wie sie unterschiedlicher nicht sein können. In der Lebensgeschichte des exzentrischen Carl Jacob Candoris blendet Sebastian seine eigene Geschichte ein, so dass im Spiegel zweier ungleicher Familien ein faszinierendes Panorama des ganzen Jahrhunderts entsteht.
    Selten hat ein Schriftsteller einen so klugen und lebenssatten Roman über unsere Zeit geschrieben - über die persönlichen und politischen Hoffnungen, über Kunst und Leben, Geist und Ungeist einer Epoche


    Der Autor (Klappentext):
    Michael Köhlmeier, 1949 in Hard am Bodensee geboren, studierte Germanistik und Politikwissenschaften in Marburg / Lahn sowie Philosophie und Mathematik in Gießen. Er erhielt zahlreiche Preise, darunter den Rauriser Literaturpreis, den J.-P.-Hebel- Preis, den Manès-Sperber-Preis und den Anton- Wildgans-Preis. Er lebt als freier Schriftsteller in Hohenems (Vorarlberg) und Wien.


    Bei Deuticke erschienen: Dein Zimmer für mich allein (1997), Calling (1998), Der traurige Blick in die Weite (1999), Der Tag, an dem Emilio Zanetti berühmt war (2002), Roman von Montag bis Freitag (2004), Nachts um eins am Telefon (2005) und Der Spielverderber Mozarts (2006).


    Meine Meinung:
    Ein mächtiger Roman! Ein Meisterwerk, aber es erfordert Konzentration das 775 Seiten starke Buch zu lesen, da der Handlungsrahmen so weit gespannt ist und nicht linear erzählt wird. Ich musste zweimal starten bis ich von der Handlung gefesselt war.


    Fast fehlen die Worte um diesen einzigartigen Roman zu beschreiben, da er sich gegen die üblichen, standardisierten Worthülsen verschließt.


    Es geht nicht nur um Österreich im 20.Jahrhundert, um Mathematik, um Musik und Liebe. Im Mittelpunkt steht vor allem die Freundschaft zwischen den Protagonisten Carl Jacob Candoris, der eine der besten Figuren des Jahres für mich ist, und seinen Biographen, den Schriftsteller Sebastian Lukasser und ihre schicksalhafte Verbundenheit, die ein Leben lang hält. Es ist Güte, die die beiden Männer, die realistisch angelegt sind, auszeichnet. Deswegen ist es so ein großartiges Gefühl, diesen Roman zu lesen und das Schicksal der Protagonisten zu verfolgen.


    Es ist auch ein Portrait über einen Jazzmusiker, Georg Lukasser, Sebastians Vater, ein exzentrischer Gitarrist und ein Genie, der in den USA mit den Größten des Jazz spielte, vor allen mit Chet Baker. Kaum zu glauben, dass dieser Mann fiktiv ist, so gut und glaubhaft ist seine Geschichte geschrieben.


    Es gibt natürlich noch so unglaublich viel anderes in dem Roman. Ein japanischer Mathematiker, der sich umbringt, die Zeit des Nationalsozialismus in Wien, die Nachkriegsjahre, die Literatur und das Schreiben, die Freiheit in New York, die Karriere eines Mathematikers und Jazzkenners und die Menschen die er liebt.


    Auch Sebastian bringt seine Lebensgeschichte in die Biographie ein. Seine schwierigen Beziehungen zu seinen Eltern und später zu seiner Frau Dagmar und seinen Sohn David, den er erst im Alter von 25 richtig kennen lernt. Es gab auch Schicksalsschläge in seinem Leben, ein Autounfall mit Todesfolge, eine Scheidung, der Selbstmord des Vaters und ein Krebsleiden, dessen Folgen Köhlmeier, vergleichbar mit Philip Roth Prosa, beschrieben hat.


    Der Roman ist komplex und anspruchsvoll, der aber mit einer großen, suggestiven Sprachgeschicklichkeit arbeitet. Der Autor setzt eine großartige Sprache ein, um die lebensnahen Charaktere zu erschaffen und niveauvolle Dialoge ohne Klischees führen zu lassen.


    Für mich eins der Highlights des Jahres!

  • Danke für deine ausgezeichnete Buchvorstellung.
    Ich lese M. Köhlmeier sehr gerne. Ein erstklassiger Autor.

    Nicht wer Zeit hat, liest Bücher, sondern wer Lust hat, Bücher zu lesen,

    der liest, ob er viel Zeit hat oder wenig. :lesend
    Ernst R. Hauschka

    Liebe Grüße von Estha :blume

  • Danke, Herr Palomar für diese ausgezeichnete Vorstellung. Ich schätze Köhlmeier sehr.
    Das Buch ist ja erst ganz frisch auf den Markt oder? Ich habe schon lange ein Auge darauf geworfen, es war aber bis vor kurzem noch nicht erhältlich.

  • Zitat

    ...und ich bin gespannt, wie der Roman von der Kritik und den Lesern aufgenommen wird.


    ich schieb das jetzt gerne mal nach oben. Zum einen, weil der Roman in die Shortlist des dt. Buchpreises aufgenommen ist, zum anderen ich das Buch gerade lese, bin so im letzten fünftel. Hat es denn noch jemand gelesen?


    Um auf obiges Zitat kurz einzugehen: das Buch ist ausgesprochen gut und ich wünsche ihm den Preis. Ich denke es hat ihn am ehesten verdient.
    Warten wir es mal ab...

  • "Abendland" lag seit Erscheinen der TB-Ausgabe auf meinem SuB, immer wieder schob ich das Lesen vor mir her, zum einen wegen der eng beschriebenen beinahe 800 Seiten, die mich abschreckten, zum anderen wegen der irrigen Annahme, Köhlmeier sei einer der überintellektuellen Autoren, die unverständlichen Zeugs schreiben und dafür von der Fachwelt hochgelobt werden.


    Mitnichten, "Abendland" ist ein unglaublich dichter, praller, fesselnder Roman über die lebenslange Verbundenheit von Carl Jakob Candoris und Sebastian Lukasser, beides beeindruckende, ungemein sympathische und glaubhafte Figuren. Überhaupt gab es in diesem nicht lineal erzählten, mitunter heftig in den Zeiten und erzählten Episoden springenden und dadurch schon einiges an Konzentration erfordernden Roman bis auf eine Ausnahme nur glaubwürdige, real vorstellbare Charaktere.
    Es wird eine Vielzahl an Themen behandelt, ein weiter Bogen gespannt, auch zeitlich, und doch verliert man letzten Endes nie den finalen Überblick oder fühlt sich überfordert. Mitunter hat mich "Abendland" euphorisiert, nie hatte ich auf den 770 Seiten in kleiner Schrift ein Gefühl der Langatmigkeit oder der Unnötigkeit einer Ausführung, und auch der Schreibstil ist eingängig, zwar ein wenig anspruchsvoller, aber unaufgeregt und ohne jegliche Künstlichkeit und im Tonfall ein wenig an Robert Menasses Schreibe erinnernd.


    Herr Palomars Einschätzung, wonach es sich um ein Meisterwerk handelt, schließe ich mich absolut an, ein in mehrfacher Hinsicht gewaltiger Roman, für den nur die maximale Punktezahl in Frage kommt!

  • Ich habe das Hörbuch und fand die 1ten 10 % des Buches für unerträglich langweilig und musste mich zwingen, es ein zweites mal anzufangen. Aber irgendwann springt der Funke über und dann will man nur noch weiter weiter.


    10 von 10 Punkten

  • Bei mir hat's auch sehr lange gedauert, bis ich mich in die Geschichte hineingefunden hatte, und inhaltlich hat sie mich eigentlich gar nicht fasziniert. Aber ich finde, dass Michael Köhlmeier ein großartiger Erzähler ist, einer dem man einfach gerne "zuhört", egal, worüber er berichtet! Und der Stil war es auch, der mich immer wieder zur Lektüre zurückgeholt hat.

  • Komisch, das Buch ist bisher vollkommen an mir vorbeigegangen - und dabei kommt ein Mathematiker drin vor :grin. Landet also gleich auf der Möchtegern-Leseliste... :wave

    "Es gibt einen Fluch, der lautet: Mögest du in interessanten Zeiten leben!" [Echt zauberhaft - Terry Pratchett]

  • Herr Palomar
    Ich lese gerade "Abendland", wusste zwar irgendwoher, dass auch Edith Stein in diesem monumentalen Werk vorkommen wird, aber dann ...
    ... als sie da als Nachhilfelehrerin für Phänomenologie in jenen Göttinger Farbrikanten-Frauenhaushalt hineinspazierte, mit dem ca. 8 / 9-jährigen (?) Carl Streiche ausheckt (z.B. sich unter das Sanatoriums-Zimmerfenster eines Paranoikers stellen und diesen bei seinen Schimpftiraden belauschen) da musste ich auf dem Bahnsteig so laut lachen - vor ungläubigem Entsetzen über diesen unerwarteten "Special Guest" aus der Phantasie und aus der Feder des gewitzten Geschichtenerzählers Michael Köhlmeier, dass ich ...


    ... froh bin, das hier in Deinem Rezensionsthread loswerden zu können. Nie im Leben hätte ich mir gedacht, dass Köhlmeier diese historische Figur so in die Handlung "einwebt".


    Ach ja: Und die Mutter des Mathematikers Carl Jakob Candoris schaut Edith Stein fast zum Verwechseln ähnlich.

  • Meine Meinung:


    Nachdem ich mich ca. 15 Tage lang durch dieses intensive und dicke Buch durchgearbeitet habe, komme ich heute dazu, darüber zu schreiben. Bei mir hat es ebenfalls sehr lange (ca. 170 Seiten) gedauert, bis ich mich einigermaßen in die Erzaehlung hineinfinden konnte. Am Anfang wurde ich größtenteils durch die sehr enthusiastischen Jazzbeschreibungen verhindert, die mich wiederum überhaupt nicht begeistert haben, aber der Autor kann nichts für meine Abneigung gegenüber dieser Musikrichtung.


    Die vielfachen Zeit- und Ortsprünge in der Erzaehlung fand ich aufregend und spannend und der Kreis der Erzaehlung schließt sich am Ende des Buches meisterhaft. Die Verflechtung zweier Familiengeschichten über Jahre und Kontinente hinweg ist einfach beeindruckend. Einige der vielen Anekdoten fand ich literarisch sehr gelungen, andere waren mir eher uninteressant und fad.


    Es ist hier ein Panaroma des 20. Jahrhunderts im Abendland und eine Unmenge an berühmten und bedeutenden Persönlichkeiten aus der Aera treten in der Geschichte vor. Es sind unzaehlige Anspielungen, Erzaehlungen und Aphorismen über Mathematik, Musik, Philosophie und Literatur drin enthalten, mit Sicherheit habe ich nicht alle richtig mitbekommen und interpretieren können, der Leser wird schier von dem breitgefaecherten Wissen des Autors überwaeltigt, was zwar respekteinflößend ist, aber literarisch nicht unbedingt immer funktioniert. Die Geschichte wirkt dadurch sehr konstruiert, gezwungen und wird schwer zu lesen.


    Teilweise kam mir vor, als ob Köhlmeier mehrere Novellen und Kurzgeschichten, die er über die Jahre geschrieben hat, wie ein Patchwork in diesem Riesenroman zusammengetragen haette. Manche Zusammenhaenge erschienen mir viel zu erzwungen. Andererseits waren manche Stellen auch viel zu viel in die Laenge gezogen. Ich denke, man könnte diesen Roman um die 300 Seiten verkürzen, ohne dass er die Quintessenz verloren haette und wodurch er deutlich zugaenglicher für den Leser geworden waere.


    Dieses Buch erfordert von dem Leser eine gewisse Ausdauer und Disziplin um dabei zu bleiben. Wenn man das schafft, dann wird man mit einer abwechslungs- und lehrreichen und teilweise hochinteressanten Erzaehlung belohnt und bekommt einen neuen Blickwinkel auf das 20. Jahrhundert des Abendlandes. Von mir 6/10 Punkte.