Was ist so toll am Mittelalter?

  • ad Surreal:


    Ich denk bei drachen und elfen sicher nicht ans mittelalter, denn das kenn ich dafür zu gut, elfe/alb ist bei mir ein schlüsselwort für einen toten- oder naturgeist, drache ein dingsymbol für ein dämonisches wesen, und einhorn-fantasien stehen für das vorspiel zum 1.x sex., diese wesen gehören zur unerklärlichen anderswelt, und die ist zeitlos:
    elfen stehlen uns die socken aus der waschmaschine, in island plant man autostrassen um ihre wohnorte herum, und schleimige, böse kreaturen liegen heute nacht unter deinem bett. Diese wesen gehören nicht ins mittelalter sondern sind hier und jetzt an der schwelle unseres unterbewusstseins.


    Ich weiss von leuten, die harte erbsen in den schuhen haben, nagelgürtel und kratzige hemden tragen, und auch selbstgeisselungen sind durchaus noch üblich, man benutzt schmerz zur erreichung religiöser extase (= theta-hirnwellen-jagd, und einem hohen endorphin-spielgel im blut) wenn ich auch meinen privaten zweifel daran habe, ob das nicht blanker masochismus ist. Es ist nicht mittelalterlich sondern aktuell, die ausführenden sind verantwortungsträger in unserer gesellschaft.


    Seuchen gab es nicht erst im mittelalter häufig, sondern man kann sagen, sie treten mit einer fast zwingenden regelmässigkeit alle 100 jahre auf, welchen namen ihr man gibt und welcher virus im speziellen fall verantwortlich ist, ist gleichgültig. Die Vogelgrippe ist nur eines von vielen Damokles-schwertern über den köpfen unserer der zivilisation, gefährliche keime sind dank der antibakteriellen waschmittel und der desinfektionsmittel resistent, und verlangen jedes jahr tausende opfer in hochtechnischen krankenhäusern, ja, die anzahl der toten nach alltäglichen operationen wie blinddarm und kaiserschnitt steigt; wenn sich je aus irgendwelchen gründen Ebola und Anthrax in den städten ausbreiten sollten, ist es mit unserer hochzivilisation höchstwahrscheinlich aus.


    Und etwas, was es sicher nicht gab, war langeweile, denn vom aufstehen bis zum schlafengehen wurden gegenstände des täglichen gebrauchs hergestellt, und das ist - wie dir die eulen im handarbeits-tread bestätigen können: durchaus nicht langweilig, sondern für fleissige, geschickte menschen eine willkommene, und vor allem befriedigende beschäftigung, während dem sich - heute vom mp3-player oder fernseher - geschichten erzählen lassen. Wer sich von allen generationen der menschheitsgeschichte am meissten langweilt, das sind wir in den letzten 70 jahren, und wir haben dafür allerlei zerstreuungsmittel erfunden, zb: kino, fernsehen, mittelaltermärkte und rollenspiele.


    Was den angeblich mangelnden komfort im mittelalter betrifft, ist das eher propaganda von leuten, die nur sehr wenig drüber bescheid wissen, und das meisst aus filmen, die ein falsches, primitives zeitbild transportieren. Aber das thema Germanen und felle und Barbaren und ausgefranste kleidung hatten wir schon mal.
    Aus einer holzgetäfelten kemenate heizt es einen mit einem gut ziehenden kachelofen auch im 12. jahrhundert derart hinaus, dass man gern nur barfuss und im unterhemd geht. Es stimmt, der burgherr hatte kein goratex, aber er und die burgleute haben im winter meisst nur kurz eine schneeballschlacht gemacht, und sind dann wieder zurück in die gut beheizte stube, haben ein warmes bad genommen, dass ihnen die diener inzwischen eingelassen haben, um dann backgammon und würfelschach zu spielen.
    Das gesinde hatte in der burg meist eingebaute blockwerksscheunen mit heu und stroh zum schlafen: das war auch warm, wenn auch nicht so elegant wie die kemenate des hausherrn und seiner frau, die ärsche abgefrohren haben sich nur die armen hunde, die wachschicht hatten, aber das tun die armen uniformierten soldaten der ehrengarde vor diversen präsidentenpalästen im winter auch.


    Wer sich gründlich wäscht, hat auch im mittelalter weder läuse noch flöhe. Und badewasser warm machen konnte man auch vor dem durchlauferhitzer. Auch kühlschränke waren nicht allerorts ein problem: Bis weit in den sommer gab es in ausgetüftelteren burganlagen und auch bauerndörfern in erdkellern eis, um die lebensmittel einzukühlen und daraus in der grössten affenhitze mit fruchtsirup grenadinen herzustellen. Baumpech nahm man als kaugummi. Schokolade, tomaten, erdäpfel, zuckerrohr und tabak gab es nicht, aber was man nicht kennt, geht einem nicht ab.


    Das erste mir bekannte Umweltschutzgesetz gegen die chemieabfälle bei der ledergerbung und stoffärbung stammt von Karl dem Grossen. Die meissten städte hatten eine organisierte müllabfuhr, eben weil man erkannt hat, dass man damit ungeziefer anlockt, wenn zuviele menschen auf engem raum biomüll hinterlassen.


    Jeder mittelalterliche handwerker wusste mehr über praktisch angewandte mechanik, als ein heutiger HTL-abgänger, schlicht und ergreifend, weil er mit dem eigenhändigen aufbau seiner werkstätten und mühlen befasst war. In den letzten 200 jahren ist in der folge der Industriellen Revolution und dem weltweiten handel eine unmasse von alltäglichem wissen verloren gegangen.
    Ein real möglicher energie-engpass kann unsere lebensart und unsere zivilisation vernichten, weil kaum jemand fähig ist, für sich selbst zu sorgen. Bis zum beginn der Industriellen Revolution waren die bewohner kleiner weiler weitgehend authark.

    Surreal, ich denk etwa nicht, dass du einen Ziegelmeiler bauen kannst, damit du das baumaterial für weitere betriebe hast, die dein viertel mit dem allernötigsten versorgen können - wie auch ich nicht, obwohl ich theoretisch weiss, wie's begonnen von der aufbereitung der tonerde für die ziegel geht. Und was für eine mega-giftschleuder wir mit dem anzünden desselben lostreten, steht - wie draperdoyle unten sagt - auf einem anderen blatt.


    Und dass ausgerechnet die Sumerer es besser hatten, als ein europäischer städter des 12. Jh möchte ich mal dahingestellt lassen.

    DC :lesend


    Heinrich August Winkler: Geschichte des Westens I


    ...Darum Wandrer zieh doch weiter, denn Verwesung stimmt nicht heiter.
    (Grabinschrift F. Sauter )

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  • Zitat

    aber wenigstens gab es keinen Gau und keine Reaktorkatastrophe. Und man hatte kein Dioxin im Essen.


    Nun ja, dafür dürften die Feinstaubwerte in mittelalterlichen Bauden jene deutscher Großstädte bei Inversionswetterlage um ein vielfaches übertroffen haben, inklusive polycyclischer Kohlenwasserstoffe, Nitrosaminen und ähnlichem Kram, der uns heutzutage, abgedruckt auf Zigarettenschachteln, vom Rauchen abhalten soll. Schon beim mittelalterlichen Silbergbau entstanden radioaktiver Abraum und die lebensfeindlichen Kupferhalden im Mansfelder Land exitieren schon so lange, dass sich dort eine eigene Planzenvarität, das Kupferblümchen (Minuartia verna subsp. hercynica) erhalten konnte.
    An menschengemachten Umweltschadstoffen war das Mittelalter jedensfalls nicht arm, aber wenigstens mussten sich die Menschen keine Platte machen, ob sie dereinst an Alterskrebs erkranken würden, da doch wahrscheinlicher war, lange vorher an der Tuberkulose zugrunde zu gehen.

    Menschen sind für mich wie offene Bücher, auch wenn mir offene Bücher bei Weitem lieber sind. (Colin Bateman)

  • Wie sich Standard-Todesursachen innerhalb weniger Postings doch ändern können? :-) Waren es gerade noch zu tausenden verbrannte Hexen, krepiert das Mittelaltervolk inzwischen an Umweltgiften.
    Bin mal gespannt, was morgen kommt. Ich tippe auf Haupt-Todesursache Verkehrsunfall (Pferde-, Ochsenkarren, berittene Ritter).


    Das Mittelalter wird mit jedem Posting spannender.



    Gruss,


    Doc

  • Doc, ich habe nicht behauptet, dass die Leute an Umweltgiften gestorben sind. Allerdings habe ich behauptet, dass es diese damals schon gab, und das sind, wie du zugeben musst, zwei Paar Schuhe.
    Ich geh soweit zu behaupten, dass auch heute die Zahl der Menschen, die an Umweltgiften zugrunde geht, verschwindend gering ist. Wohl eher an der Angst davor...

    Menschen sind für mich wie offene Bücher, auch wenn mir offene Bücher bei Weitem lieber sind. (Colin Bateman)

  • Zitat

    Original von DraperDoyle
    Doc, ich habe nicht behauptet, dass die Leute an Umweltgiften gestorben sind. Allerdings habe ich behauptet, dass es diese damals schon gab, und das sind, wie du zugeben musst, zwei Paar Schuhe.


    Mea Culpa. Aber die Vorlage war einfach zu schön.


    Gruss,


    Doc

  • Zitat

    Original von Heike


    Und dann ging - rums, der Vorhang auf, und die leuchtende Neuzeit brach an. :grin


    :write :rofl
    Meines wissens lag die durchschnittliche lebenserwartung sogar in schlimmen zeiten zwischen 45 und 55, und daran war meisst der krieg, schubweise auftretende epidemien, und die säuglingssterblichkeit schuld, die wir mit brutkästen hintanhalten, kindbettsterblichkeit ist in gräberfeldern überraschend selten nachzuweisen, und wird allgemein übertrieben;
    Bei uns ist es derzeit nur die zwischenkriegsgeneration, die so alt wird, die nachkommende generation ist ab 35 meisst chronisch krank: diabetes, übergewicht, herzleiden, krebs, wie weit sich das in den nächsten 50 jahren auf die durschschnittliche lebenserwartung auswirkt, steht noch in den sternen.


    Dass die mit dem geld und dem besten verbindungen das sagen haben, wird bei uns mit demokratie verschleiert. Mit wievielen parlamentsentscheidungen der letzten 20 jahren - vor allem die der finanz- sozial- und wirtschaftsreformen gehst du denn vollinhaltlich konform? Das ist meisst gesetz von wenigen für wenige. Streiken ist lächerlich und wirkungslos. - Genauso, wie aus protest für die nächsten fünf jahre jemand anderen wählen, denn fünf, sechs jahre reichen nicht aus, um gesellschaftliche strukturen wirklich vom fundament her zu verändern, dazu braucht man, 25, 30 jahre, und selbst dann ist es, wie Russland zeigt, nicht wirksam, weil man auch bei der allerschönsten utopie, nichts an allzumenschlichsten voraussetzungen: Gier, Neid, Geltungsbedürfnis ändern kann.
    Wir befinden uns in einer historischen phase, die mit ihrer zerschlagung der realen staatsmacht dem zusammenbruch des römischen reiches nicht unähnlich ist. Die politik der nächsten phase wird zunächst noch von reichen oligarchen und später dann militärischen abenteurern bestimmt, die einen neuen Adel formen. Die Königs=Präsidenten=wahl wird zur farce, weil schon im vornherein klar ist, wer es werden wird, und selbst, wenn es ein anderer werden sollte, wird das dahinter stehende establishment aus geld und beziehungen dafür sorgen, dass sich nichts zu ihren ungunsten verändert.
    Die weiseste aussage über unsere demokratie und unsere bürgerliche gesellschaft stammt von einem chinesischen aussenminister, der über seine meinung zu den auswirkungen der französischen revolution befragt wurde: seine antwort sinngemäss: zweihundert jahre sind eine zu kurze zeit, um historische aussagen treffen zu können - und das ist völlig richtig. Unsere generation kommt uns nur deswegen so wichtig und weltbewegend vor, weil sie die unsere ist. Wieviel davon im endeffekt nach 500, 1000 jahren übrig bleibt ist fraglich.


    Also, ich kenn nur sehr wenige leute, die nur zwischen 9 und 5 arbeiten. Die meissten, die ich kenne, sind um sieben ausser haus umd kommen um 8, halb neun zurück, wenn sie nicht zu unmöglichstgen zeiten jobben, mit nachtschichten, sonntagsdiensten, andere müssen jederzeit auf abruf bereit stehen, einige haben theoretische urlaubsansprüche von 2 jahren, die weder abbezahlt noch umgesetzt werden, wer meint, dass er schwanger werden und sich eine lange karenz erlauben kann, ist weg vom fenster. Rentenversichert ist niemand, weil man es sich einfach nicht leisten kann, grad die freiwillige selbstversicherung der ich-AG wird mühsam zusammengekratzt; wenn ein kind da ist, und es handelt sich um einen familienbetrieb, steht es ab seinem 10. lebensjahr in der schulfreien zeit in der arbeit. Der sohn meiner bäurin liefert für ein taschengeld lebensmittel vom bauernmarkt bis ins haus. Das macht er seit vier jahren. Schätzungsweise ist er jetzt 15. Viele 11jährige waschen wegen der handy-wertkarte im gasthaus der verwandten ab oder machen die betten, die tochter einer nachbarin ist pferdeversessen, und arbeitet seitdem sie 12 ist als stallknecht, bekommt aber keinen lohn, denn sie kann sich die reitstunden ja nicht leisten, und die arbeit in ihrer freizeit ist das entgelt dafür, dass sie hin und wieder auf ein pferd darf.


    Freie berufswahl ist so eine sache, denn man macht, was einem die eltern erlauben/zu lernen finanzieren, und man arbeitet im endeffekt, wo man unterkommt.


    Wie weit es mit unserer praktischen glaubensfreiheit aussieht, möcht ich jetzt nicht genauer erörtern: Die familie und das soziale umfeld bestimmt nach wie vor die religionszugehörigkeit.


    Sich im mittelalter den Beghinen, oder anderen kirchlich legitimierten bettelorden anzuschliessen, war jugendliche revolte. Die wuchernden Beghinen-, Katharer- und auch Bettelordensbewegungen beweisen, dass die leute ein durchaus freies und wild wucherndes seelenleben voller sozialem idealismus hatten. Erst als sich wirtschaftliche und politische beweggründe mit der papst-kirche verbanden, wurden sie ausgemerzt...
    und das fällt ganz seltsam mit der ersten südeuropäischen renaissance im 12. jh zusammen, wo der herkömmliche adel=die staatsmacht das erste mal das gefühl hatte, dass ihm das stadtbürgertum und die handwerker - vor allem wollhändler/verarbeiter, aus denen sich diese kommunen wie die begharden, lollarden, hauptsächlich zusammen setzten, das wasser abgraben.
    Insofern ist es eine historische paralelle, dass die ersten sozialrevolutionäre nach der industriellen revolution zuerst aus den reihen der spinner und weber kamen. Wenig beachtet, aber ein wichtiger berufszweig, denn keiner geht gern völlig nackt. Und obendrein der hort für schlecht bezahlte frauen- und kinderarbeit und verstösse gegen die arbeitsgesetze, aber unsereins lagert solche sensiblen betriebe ja nach China und Indien aus, weil lokal hergestellte, zu einem vernünftigen stundensatz bezahlte webprodukte sind unbezahlbar - und diese landfrauen in China brauchen keine verhütung, denn die werden in der fabrik eingesperrt und schlafen neben ihren maschinen... - wie in einer klostermanufaktur.

    DC :lesend


    Heinrich August Winkler: Geschichte des Westens I


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    (Grabinschrift F. Sauter )

  • Also zum einen ist der Begriff der Lebenserwartung eine Sache für sich. Er ist der Zeit unterworfen und dass er während der großen Pestepedemien eine niedrige Lebenserwartung war, und in Zeiten des Hohen Mittelalters ohne große kriegerische Auseinandersetzung eine höhere Lebenserwartung vorherrschte, ist eine logische Schlussfolgerung. Zu Zeiten des Frühen Mittelalters (Also im 7./8. Jahrhundert) geht man von einer großen Kindersterblichkeit aus - keine medizinische oder hygienische Versorgung und zum anderen gab es eine chronische Unterernährung. Man gibt im Frühen Mittelalter die Lebensewartung mit 27 Jahren bei Männern, und 22 Jahren bei Frauen an. Wenn Kinder das 5.Lebensjahr erreicht haben, was in drei von vier Fällen nicht der Fall war, haben sie eine gute Chance zu überleben.
    Im Hohen Mittelalter gab es starke Unterschiede; während ein Fürst bzw. ein anderer Adelsangehöriger über 40 Jahre werden konnte (Der Erzbischof zu Trier wurde, soweit das in meinen Notizen ersichtlich ist, 56 Jahre alt.), während der einfache Bauer (Den Begriff Bürger gab es damals noch nicht, auch das ist eine neue Form der Neuzeit.) nach wie vor keine höhere Lebenserwartung hatte als 30 Jahre.


    Aber bitte, das sind nur Forschungszahlen.


    Ich möchte noch etwas zum Thema Hexenverfolgung sagen: Den Begriff "Hexe" gab es erst ab dem 15.Jahrhundert; wenn es vorher kirchliche Verfolgungen gab, dann gegen die s.g. "Häresie" - Glaubensabweichler. Noch im 13./14. Jahrhundert verurteilte die Inquisition die Hexenverfolgung; bzw. wenn es einen Verdacht hinlänglich einer "Wahrsagerei" gab, sollte sie nur verhaftet und verhört werden. Bestes erhaltenes Dokument dazu: Vom 20. Januar 1260 von Papst Alexander IV. ~> Personen, der man "Zauberei und Wahrsagerei" vorwarf, sollten nur verhaftet werden, wenn unbedingt notwendig; Prozesse über diese Personen sollten zurückgestellt werden, weil der Kampf gegen die Häresie als wichtiger erachtet wurde.


    Den Rest, z.B. das der Höhepunkt von 1550 - 1650 war, wurde schon erwähnt.


    Ich möchte im übrigen nicht bestreiten, dass es im späten Mittelalter (Und das 14.Jahrhundert IST das späte Mittelalter, und nicht das tiefste.) schon zu Einzelverfolgungen gekommen ist; das bestreitet auch kein Historiker. Aber die so schön oft zitierte (aber nicht nachweisbare und übertriebene) Zahl von 1 Millionen (In Wirklichkeit waren es "nur" 100 000) verbrannten Männern, Frauen und Kindern als Hexen / Hexer gab es erst in der frühen Neuzeit mit der Hochzeit der Hexenverfoögung mit ihrer Systematik, mit den Hexenprozessen, mit dem "Hexenhammer", mit der gezielten Denunziation von Nachbarn etc.


    Ich möchte noch einmal sagen: Historischer Roman bleibt auch einer. Dieses schöne romantisch-verklärte Bild verdanken wir den Romantikern des 19.Jahrhunderts. Und ein Autor wird nach wie vor seinem Leser und seiner Geschichte abhängig sein; sprich, historische Daten sind etwas Dehnbares und Auslegbares. Vielleicht ist auch die Faszination so groß, weil es aus diesem Zeitraum einige Legenden gibt; oder aber, weil es eine der "Epochen" ist, wo wir schon einiges historisches Material haben, aber so gut wie ein Großteil noch offen ist.

    Wenn ich ein Buch lese, ein gescheites ebenso wie ein törichtes,
    ist es mir, als lebte es und spräche mit mir. (Jonathan Swift, 1667 - 1747))


    :lesend Vladimir Nabokov - Lolita (Leserunde)

  • Mir ist klar, dass das jetzt ein wenig OT ist, aber ich finde es sehr spannend, dass sich gerade bei historischen Romanen immer angeregte Diskussionen ergeben, ob der Text völlig fern von der Realität ist oder nicht.


    Roman ist halt Roman........ :grin


    Bei einem Kriminalroman/Thriller, wird eigentlich weniger darüber diskutiert, ob die Ermittlungsmethoden an den Haaren herbeigezogen sind oder nicht. :wow


    Und das, obwohl die Recherche diesbezüglich leichter sein sollte als bei historischen Romanen.


    Mir ist völlig klar, dass diese Romane eben Romane sind und nicht den Tatsachen entsprechen. Aber ich find auch nichts dabei, zur Zerstreuung solche Sachen zu lesen und eben kein Fachbuch.


    Gerade den Vergleich lesen und fernsehen find ich hier sehr nett. Leser diskutieren Inhalte (so wie hier :grin). Aber im Fernsehen könnte man sich jeden Mist angucken, ohne jemals zu einer solchen Diskussion zu kommen, wie realitätsfern das Gezeigte ist.


    Ich hoffe, das war nicht zu sehr OT :grin


    LG, Schnurrnase

    Man kann auf vieles verzichten, aber nicht auf Katzen und Literatur :-)

    Dieser Beitrag wurde bereits 1 Mal editiert, zuletzt von Schnurrnase ()

  • Schnurrnase
    Es wird deswegen bei "historischen" Romanen immer wieder diskutiert, weil viele Leser(innen) eben tatsächlich davon überzeugt sind, dass das Geschilderte mit harten historischen Fakten gleichzusetzen ist. Sieht man doch auch gleich wieder hier in diesem Thread.


    Bei Krimis, Thrillern, SciFi, etc. geht seltsamerweise niemand her und postuliert Fiktion mit einem Mal als Fakten (außer vllt. Dan-Brown-Illuminaten-Gläubige). Der Stempel "historischer Roman" gaukelt Fakten vor, wo oft keine zu finden sind. Gerade Historicals (nicht "echte" historische Romane) verändern damit mit einem Mal die Geschichtswahrnehmung.
    Man kann das z. B. mit amerikanischen Western (John Wayne, etc.) vergleichen, die maßgeblich unser Bild vom Wilden Westen geprägt haben. Solche Bilder und Darstellungen bekommt man nicht mehr so schnell aus den Köpfen der Leute, obwohl nachweislich diese Filme NICHTS mit der Realität zu tun hatten. Und jetzt erzähl das mal einem Durchschnitts-US-Bürger.


    Ähnlich problematisch sehe ich das bei historischen Romanen, die ein völlig falsches Geschichtsbild vermitteln, durch ihre Klassifizierung allerdings für bare Münze genommen werden.
    Wie schon mal gesagt: Nichts gegen spannungsgeladene Historicals mit kunterbunter Kulisse, starken Frauen in Männerhosen und Schwertergeklirr potenter Highlander - solange jedem Leser bewusst ist, dass das Hollywood ist und nicht echte Information über diese Zeit.


    Gruss,


    Doc

  • Zitat von MagnaMater


    Zitat

    Vielleicht ist auch die Faszination so groß, weil es aus diesem Zeitraum einige Legenden gibt; oder aber, weil es eine der "Epochen" ist, wo wir schon einiges historisches Material haben, aber so gut wie ein Großteil noch offen ist.


    Das ist sicher ein Aspekt. Hinzu kommt wohl noch, dass sich das Ganze momentan besonders gut als Projektionsfläche vermarkten läß.
    Esoterik und Fantasy scheinen ja ebenfalls gerade hoch im Kurs zu stehen, so dass sich diese Art Romane gut einfügen. Nicht ganz klar ist mir, weshalb sie gerade Frauen ansprechen, denn es gibt sicherlich glamourösere Epochen als diese. :-)


    Was sicher interessant ist, ist einen Blick auf die Erzählungen der einzelnen Autoren zu werfen und Vergleiche zu ziehen. So läßt sich feststellen, ob es immer wieder die gleichen Requisiten und Zutaten sind, die verwendet werden. Und die Mischung macht bekanntlich das Erfolgsrezept.


    Zu der lebhaften Diskussion inwieweit das Mittelalter in den diesbezüglichen Romanen authentisch wiedergegeben wird, möchte ich nur anmerken, dass meiner Meinung nach wahrscheinlich sehr, sehr wenige dieser Bücher eine Art Fenster in die Vergangenheit verkörpern, die man zur Hand nehmen kann, um einen Einblick in die damaligen Lebensumstände etc. zu gewinnen. Sie sind bestenfalls Anregungen für die Leser, selbst weitere Nachforschungen anzustellen, und das führt selten an Fachliteratur und Originalquellen vorbei.


    Noch ein paar Worte zur Authentizität historischer Romane:


    Grundsätzlich wiederholt sich Geschichte immer wieder, weil das Wesen der Menschen sich nicht ändert und es nur eine begrenzte Anzahl an Variationsmöglichkeiten gibt. Die Verpackung (Sprache, Konventionen, Politik, Mode,...) kann freilich anders aussehen, aber der Inhalt bleibt stets verblüffend ähnlich.
    Schade nur, dass sich viele Autoren dieses Genres dieser Tatsache scheinbar als Rechtfertigung bedienen, um ihre Figuren in einem eher zeitgenössischen Umgangston sprechen und sehr moderne Einstellungen und Verhaltensweisen an den Tag legen zu lassen. Das gehört meiner Meinung nach nur bedingt, wenn überhaupt, in einen historischen Roman, ganz gleich in welcher Zeit er spielt. Man sollte sich - so weit wie möglich - um eine, natürlich lesbar aufbereitete, authentische Wiedergabe der jeweiligen Zeit bemühen, was auch eine korrekte Einbindung belegter Fakten voraussetzt. Das ist sicherlich nicht einfach, aber eben wünschenswert. Denn der Reiz an historischen Romanen ist, dass sie eine fiktive Handlung mit realen Begebenheiten und Umständen verbinden und so das Lebensgefühl dieser Zeit wieder lebendig werden lassen. Zumindest sollten sie das.
    Andernfalls kann man genauso gut eine Geschichte lesen, die in der Gegenwart spielt.

    :flowersIf you don't succeed at first - try, try again.



    “I wasn't born a fool. It took work to get this way.”
    (Danny Kaye) :flowers

  • Das finstre Mittelalter ist ja leider als ALLTAGSGESCHICHTE nirgends präsent.
    Wir erfahren aus den Geschichtsbüchern ja nur von Adelheid der Knüppeldoofen, die Ularich den Ungemütlichen heiratet und dass daraufhin irgendwas passiert - ohne Logik, ohne Fastand.
    Was ist daran eigentlich "nicht-fiktional"? Die ganze Geschichtsschreibung ist eine Abfolge von Grund- und Kirchenbucheinträgen.
    Was "publiziert" oder verbreitet wurde war - auch damals - PROPAGANDA, oder?
    Insofern:
    Lasst sie raus, die Wanderhuren und Hufschmiedinnen und füllt das verdammte Mittelalter mit lebendigen Figuren (auch wenn die als Emanzen mit Mobiltelefon und digitaler Uhr rumlaufen ... :grin - im übertragenen Sinn).

  • Na Mittelalter ist halt so eine archaische, wilde, raue Welt, die uns in unserer Wohlstandsgesellschft einfach fasziniert. Weil es eben noch nicht so lange her ist, und trotzdem so absolut anders.
    Klar war es 'ne beschissene Zeit. Für die Leute die damals gelebt haben.
    Aber uns, in unserem warmen Sessel, gibt es definitiv einen Thrill solche Romane zu lesen.


    Ich bin mittlerweile nicht mehr so fasziniert vom Mittelalter. Als Jugendliche sah das aber ganz anders aus. Ich habe mit ungefähr 12 "Die Nebel von Avalon" gelesen, und da wars um mich geschehen, ich habe dann jahrelang alles verschlungen was in der Zeit spielte. Klar war davon vieles nicht realistisch, aber dennoch hat es mir enormen Spass gemacht. Das Mittelalter hat definitiv etwas märchenhaftes für den heutigen Betrachter: Schlösser, holde Jungfrauen, hohe Ritter, ritterliche Liebe, aber auch ein enorm schwieriges, unfreies Leben, das mit viel mehr Gefahren und Einschränkungen verbunden ist als unser heutiges. Dann noch die krasse Gegenüberstellung von Gut und Böse, Heiligen und Sündigen, Armut und Prunk...bietet definitiv Stoff für tolle Geschichten.


    Ich finde die Variationen der Artus-Sagen, Tristan und Yseult, William the Conqueror, historische Bauten und Kunst (man denke an den Teppich von Bayeux), Gotteswahn und Kult etc. immer noch spannend.


    Ich habe mal einen Artikel gelesen der sagte dass man sowieso nur einen Roman über das Mittelalter aus heutiger Sicht schreiben kann. Mit unseren heutigen Auffassungen vom Menschen und der Welt. Man kann sich höchstens ein wenig in die Zeit hineinversetzen, ganz kann uns das nie gelingen.
    Und dennoch kann es extrem unterhaltsam sein.


    Auf meinem RUB stehen noch Viola Alvarez und Sharon Penman, und ich freue mich auf beide ungemein. Auch auf die Fortsetzung von Ken Folletts "Die Säulen der Erde" bin ich gespannt. Generell fern halte ich mich von Titeln wie "Die ......in". Der Hype um das Mittelalter wird auch mal wieder abflauen.

  • Hallo, Humpenflug.


    Zitat

    Das gehört meiner Meinung nach nur bedingt, wenn überhaupt, in einen historischen Roman, ganz gleich in welcher Zeit er spielt.


    Romane sind Fiktion. Die Freiheit des Autors erlaubt alles, so lange er nicht Persönlichkeitsrechte von existierenden Leuten antastet. Viele Genres vereinfachen, malen Welten bunt, die eigentlich grau sind, und alleine die Tatsache, daß in den allermeisten belletristischen Werken gleich mehrere Happy-Ends auf den Leser einprasseln, hat mit der Wirklichkeit eher wenig zu tun (jeder mag mal sein eigenes Leben auf die Häufigkeit von kleinen wie großen Happy-Endings überprüfen). Die(se) Frage ist also letztlich verkehrtherum gestellt - es geht nicht darum, warum Autoren das tun, sondern warum Leser, die das tonnenweise kaufen, diese Art von Vereinfachung mögen. Jedenfalls gibt es keinen Rechtsanspruch auf historische Korrektheit. Romane sind Märchen. Faktisch wie dramaturgisch. Es gibt Autoren, die einen hohen Anspruch an sich selbst haben (Iris, z.B.), aber die allermeisten wollen in der Hauptsache gut verkäufliche Unterhaltungsware anbieten. Zudem ist intensive Recherche in solchen Bereichen wirklich eine Höllenarbeit. Und, wie gesagt: Eigentlich will keiner lesen, wie die Menschen Anno Langsam gebabbelt haben. Das wäre nämlich so gut wie ungenießbar.


    Wir haben uns damit abgefunden, daß man zischende, brummende Geräusche hört, während die NCC-1701 durchs Weltall knattert. Wir würden es nicht oder weniger mögen, wenn das (realistischerweise) geräuschlos vonstatten ginge. Auch das Feuer der Phaser und das Abschießen von Photonentorpedos (vom Realismus dieser "Waffen" mal abgesehen) dürfte man eigentlich nicht hören können. Aber die Form der Umsetzung, das Genre verlangt das einfach, und der Zuschauer auch. Egal, wie weit weg die Welt ist, in der etwas spielt - jeder, der zuschaut, zuhört oder liest möchte sich ein bißchen zu Hause fühlen können.

  • Zitat

    Original von licht
    Die gesamte sehr spannende Diskussion könnte eine ganz besondere Wende erfahren, wenn die These vom erfundenen Mittelalter sich als wahr herausstellen sollte :grin ...


    Wenn wir damit auch die Romane loshätten, würde zumindest ich nicht heulen.


    Leider ist die Idee Unsinn.


    Es gibt übrigens auch Versuche, die alten Ägypter um eine erkleckliche Anzahl von Dynastien zu kürzen (Velikovsky), die Spätantike um rund dreihundert Jahre (Morosow) - von daher stammt übrigens die Rechnung mit den 300 Jahren, Illlig ist keineswegs originell -, und die Renaisance wurde selbstverständlich auch erfunden. Von bösen katholischen Mönchen nämlich, die den Deutschen das protestantische :grin Mittelalter rauben wollten. (Wilhelm Kammeier, späte 20er Jahre des 20. Jh.).
    Um nur die Wichtgsten zu nennen.


    Was die Mythen um die Geschichtsschreibung betrifft, so gibt es kaum etwas, was es nicht gibt.


    Was es noch gab, war in den späten Siebzigern ein hinreißender Artikel in der Zeitschrift 'Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, in dem der Autor argumentativ unwiderlegbar ;-) bewies, daß Napoleon nie existierte, sondern sein Aufstieg wie seine Herrschaft bis zum Ende allein auf populariserte Mythen zurückgeht.
    Ein genialer Spaß zur Freude der ganzen Zunft.


    Es ist keineswegs so, daß es in der Wissenschaft nichts zu lachen gäbe.
    :lache



    :wave


    magali

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus