Anthony McCarten, Englischer Harem (The English Harem)

  • Die 20jährige Kassiererin Tracy Pringle verliert ihren Job, weil sie vor lauter Tagträumerei einen unter ihrer Nase stattfindenden Ladendiebstahl übersieht. Sie muss schleunigst neue Arbeit finden, um die prekäre finanzielle Situation zu Hause nicht noch zu verschärfen: Ihr Vater Eric ist arbeitslos, seit bei der Explosion eines Gastanks sein Fußgelenk zerschmettert wurde, und ihrer hart arbeitenden Mutter kann nicht noch mehr Last aufgebürdet werden, als sie als Erzieherin in einer Vorschuleinrichtung ohnehin schon trägt.
    Tracy macht sich auf und findet dank ihrer Hartnäckigkeit einen Job in dem vegetarischen Restaurant "Taste of Persia", das von dem etwa 50jährigen Sam Sahar geführt wird. Tracy wird schnell zu einem unverzichtbaren Mitglied der Belegschaft des Restaurants. Auch mit Sam, dessen Frau Yvette ebenfalls im "Taste of Persia" bedient, versteht sie sich immer besser. Als eines Tages Sams kleiner Sohn Mohamad im "Taste of Persia" erscheint, macht Tracy allerdings ein paar Entdeckungen: Yvette ist nicht die Mutter von Sams Kindern, die gehören der schönen Firouzeh, ehemalige Frau von Sams jüngerem Bruder, der bei einem Bombenattentat im Irak ums Leben gekommen ist. Außerdem sind die Kinder eigentlich Sams Neffen. Und Yvette ist auch nicht Sams einzige Frau, Firouzeh ist ebenfalls mit ihm verheiratet.
    Nach einer anfänglichen Verwirrung gewöhnt sich Tracy an dieses häusliche Arrangement und mehr als das. Denn nach und nach beginnt sie sich in den charmanten und weltgewandten Sam zu verlieben. Das bleibt von ihrer Umwelt nicht unbemerkt und sowohl Tracys Eltern als auch ihr ehemaliger Liebhaber Ricky Innes sind nicht gerade begeistert, als sie erfahren, dass Tracy Sams dritte Frau zu werden gedenkt. Die Gegenmaßnahmen, die ergriffen werden, zeitigen allerdings eine Menge unvorhergesehener Komplikationen.


    Anthony McCarten legt mit "The English Harem" großartige und intelligente Unterhaltung vor. Ein Buch, das man kaum beiseite legen kann, voller überraschender Wendungen und allmählicher Enthüllungen. Auf sehr clevere Weise wird der Finger in die moralisierende Wunde der seriellen Monogamie gelegt. McCarten zeigt in verdichteter, aber keineswegs komplizierter oder übermäßig konstruierter Weise die Lügen und Beschönigungen, von denen dieses für die westliche Welt so selbstverständliche Konstrukt lebt. Er zeigt die Vorurteile und Obsessionen einer Gesellschaft, die gerade in diesem Punkt keine Abweichung dulden kann und sich eine eigentlich nicht sehr extravagante Familie zu einem höchst unmoralischen Swingerclub ausfantasiert.


    Die Zwischentöne gelingen McCarten dabei besonders gut, etwa wenn er die voruteilsstarren Ost-/West-Fronten auflöst, indem sich plötzlich die englische Arbeiterfamilie mit der traditionell muslimischen Familie aus dem theokratischen Iran einig darüber ist, dass die Ehe zwischen Sam und Tracy nicht zu akzeptiern sei. Oder indem der übereifrige Mitarbeiter der Londoner Social Services Sebastian Partridge durch einen verführerischen Ausschnitt dazu gebracht wird, die moralische Unbedenklichkeit des Vielfrauenhaushalts vor Gericht zu bezeugen.


    Rätselhaft blieb mir eigentlich nur, warum trotz allen Wissens um die Vorurteile der Umgebung, die Sahars so unglaublich störrisch auf der Benennung ihrer Beziehung als "Ehe" bestehen. In allen anderen Beziehungen sind die Figuren sehr reflektiert und voll praktischer Weisheit gezeichnet, in dieser einen Beziehung geht die Symbolik der Benennung offenbar vor dem problemlosen Zusammenleben.


    McCarten macht aber durch seine Auflösung der Handlung diese Überlegungen fast schon obsolet, denn am Ende hätte auch ein weniger aufgeladenes Vokabular den Gang der Dinge nicht verändert.


    Ein wirklich gelungener Roman eines jungen Schriftstellers, auf dessen weitere Bücher ich nun sehr gespannt bin.


    *
    Edit: Ich habe den deutschen Titel in der Überschrift ergänzt und die deutsche ISBN eingetragen, damit man das Buch in der Suche besser finden kann. LG Wolke

  • Vielen Dank, für diese schöne Rezension.
    Mir wurde vor einiger Zeit schon von einem lieben Freund der Superhero ans Herz gelegt, daher wollte ich erstmal den lesen.


    Aber der "englische Harem" klingt auch nach einem Titel der sich unbedingt zu lesen lohnt :cry



    unendlichgroßen subanhäufende Grüße von Elbereth :wave

    “In my opinion, we don't devote nearly enough scientific research to finding a cure for jerks.”

    ― Bill Watterson

  • Oh, die Rezi hört sich aber gut. Jetzt bringst Du mich in die Zwickmühle, ich wollte ja eigentlich erst "Das Geheimnis des Kalligraphen" lesen, aber "The English Harem" hab ich auch noch hier liegen... hm, was lese ich als nächstes? :gruebel :gruebel

  • Schön, dass ich mit der Vorstellung so viel Interesse wecken konnte!


    Zitat

    Original von uert
    Oh, die Rezi hört sich aber gut. Jetzt bringst Du mich in die Zwickmühle, ich wollte ja eigentlich erst "Das Geheimnis des Kalligraphen" lesen, aber "The English Harem" hab ich auch noch hier liegen... hm, was lese ich als nächstes? :gruebel :gruebel


    Ich werde dich nicht davon abhalten, Rafik Schami zu lesen, wenn ich auch dieses Buch von ihm noch nicht kenne. :-)

  • Zitat

    Original von Bartlebooth
    Schön, dass ich mit der Vorstellung so viel Interesse wecken konnte!



    Ich werde dich nicht davon abhalten, Rafik Schami zu lesen, wenn ich auch dieses Buch von ihm noch nicht kenne. :-)


    Ja, ich hab damit mal angefangen, weil es hier griffbereit lag. "The English Harem" hat sich aber ganz nach vorne geschoben :grin

  • Das Buch ist toll!!! Gerade habe ich es ausgelesen und kann die klasse Rezi von Bartlebooth nur unterstreichen.


    Die Geschichte wird in schöner, zeitweise poetischer aber trotzdem moderner Sprache erzählt.



    Mit einem für meinen Geschmack überaus passenden Ende :-].


    Es wäre sicher auch interessant gewesen, dieses Buch im Rahmen einer Leserunde zu lesen, m.E. bietet es jede Menge Diskussionsstoff.


    edit: Das Buch bekommt von mir 10 von 10 Punkten

  • Ein erzählerisch gut gelungenes und schon aufgrund der Thematik interessantes Buch.


    Es beleuchtet den Versuch eines Spagates zwischen dem anglikanischen England des 21. Jahrhunderts und den muslimischen Regeln des Irans, der mit seinen Vorschriften und Verboten für unsere westliche Gesellschaft in längst vergangener Zeit stecken geblieben zu sein scheint.


    Besonders in der Figur Sam Sahars werden diese Gegensätze deutlich. Zwar ist Sam seiner Überzeugung nach mehr Brite als Perser, in seiner Person scheinen sich anglikanische und muslimische Religion sehr nahe zu stehen, doch gibt es immer wieder Elemente, die sehr persisch sind (z.B. dass nach außerehelichem Geschlechtsverkehr die Frau dreimal sagen muss, wir sind geschieden).


    McCarten erzählt recht locker von diesem Hin und Her zwischen den Kulturen, auf der einen Seite die englische Arbeiterfamilie, auf der anderen Seite die Sahars, die man wohl am ehesten multikulturell nennen sollte.


    Am meisten identifiziert man sich sicher mit Tracy, die nun wahrlich versucht dieses Spagat zu vollführen, indem sie als Engländerin den Perser heiratet - als seine dritte Ehefrau.


    All die Komplikationen die sich aus dieser Ehe zu viert ergeben, fordern auch ihren Tribut. Mehr möchte ich eigentlich von der Handlung nicht verraten. Man sollte am besten selbst in die Erzählung eintauchen, keineswegs nur eine Geschichte aus 1001-Nacht :-).

    Liebe Grüße, Sigrid

    Keiner weiß wo und wo lang

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    Wir sind es nur nicht mehr gewohnt

    Dass Zeit sich lohnt

  • Der englische Harem ist kein Harem im herkömmlichen Sinne - zumindest am Anfang nicht.
    Es wird sich in diesem Buch nicht ausschließlich auf die Thematik der Mehrehe konzentriert, sondern vor allem auf die Reaktionen, die eine solche in unserer Welt auslösen.
    Einige der Handlungen habe ich zwar als übertrieben dargestellt empfunden, aber genau das bringt den Leser dazu sich noch mehr damit zu befassen.
    Aus der grauen Maus, die im Supermark kassiert und nur in ihren Tagträumen lebt wird die dritte Frau eines Persers - und blüht auf.
    Sie erlebt das Flair des Orients mit und ist vorerst begeistert von dem Ganzen.
    Alles ist genauso, wie sie es sich in ihren Tagträumen vorgestellt hat und so benötigt sie diese nicht mehr, sondern lebt ihr Leben.
    Allerdings muss Tracy auch feststellen, dass es - so schön die Situation als Ehefrau von Sam aus sein mag - auch negative Dinge gibt, die ihr erst jetzt auffallen.
    Vor allem der unterschwellige Konflikt zwischen den drei Frauen, bei dem die ersten beiden Ehefrauen an ihrer Einstellung zu einer enthaltsamen Ehe anzweifeln, bringen Tracy dazu nochmals über ihre Situation nachzudenken.
    Allerlei Ereignisse werfen die Protagonisten hin und her, sodass sie nicht mehr wissen wo oben und unten ist.
    Besonders die Tatsache, dass die Personen, die einen Platz in Tracys "altem Leben" hatte, auch noch im Buch vorkommen, wenn sie bereits verheiratet ist, machen das englische Harem zu einem äußerst vielschichtigem und kritikreichen Werk.


    Man wird durch eine Geschichte voller orientalischer Begebenheiten, englischer Sturheit und Ausgrenzung geschleust, wobei das Ende des Buches nicht nur die Frauen im Buch, sondern auch den Leser überrascht.
    Die Charaktere haben alle ihre Eigenarten - die nicht unbedingt positiv sein müssen - aber in geweisser Weise kann man nicht sagen, dass man sie als unsympatisch ansehen muss.
    Besonders diejenigen, die sich am meisten gegen die Polygamie gesperrt haben verändern ihr Verhalten zunehmend.
    Religionsunsicherheiten, Irrtümer, Bräuche und vieles mehr vermischen sich mit Gedanken besorgter Eltern, Rassismus und Verstocktheit.


    Fazit: Ein gelungener Roman, der die unterschiedlichsten Blickwinkel zu diesem Thema wiederspiegelt.


    9/10 Punkte

  • Zitat

    Original von Sigrid2110
    Es beleuchtet den Versuch eines Spagates zwischen dem anglikanischen England des 21. Jahrhunderts und den muslimischen Regeln des Irans, der mit seinen Vorschriften und Verboten für unsere westliche Gesellschaft in längst vergangener Zeit stecken geblieben zu sein scheint.


    Ach. Tut es das nicht gerade nicht? Die Vorschriften und Verbote sind doch viel stärker auf der englischen Seite angesiedelt.


    Zitat

    Original von Aqualady
    Vor allem der unterschwellige Konflikt zwischen den drei Frauen, bei dem die ersten beiden Ehefrauen an ihrer Einstellung zu einer enthaltsamen Ehe anzweifeln, bringen Tracy dazu nochmals über ihre Situation nachzudenken.


    In dem Satz ist was schiefgegangen und ich verstehe ihn nicht. Konflikte zwischen den Ehefrauen? Daran kann ich mich nicht erinnern.


    Was ich auch nicht ganz verstanden habe, ist das "Orientalische" am Buch. Habt ihr dafür ein Beispiel?


    Herzliche Grüße, Bartlebooth.

  • Zitat

    Original von Bartlebooth


    Ach. Tut es das nicht gerade nicht? Die Vorschriften und Verbote sind doch viel stärker auf der englischen Seite angesiedelt.



    Herzliche Grüße, Bartlebooth.


    Ich wollte mit diesem Satz eher darauf abheben, dass wir Westeuropäer, bzw. hier speziell die Briten, das so sehen, was nicht zwangsläufig bedeutet, dass es so ist.

    Liebe Grüße, Sigrid

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  • Setz statt "unterschwellige" "innere" ein und es müsste passen.


    Ich meinte, dass die beiden ersten Ehefrauen anfangen sich Gedanken darüber zu machen inwiefern sie in sexueller Hinsicht bisher in der Ehe gelebt haben und ob sie es weiterhin so haben möchten.


    Mir gefielen einfach die Stellen in denen die Umgebung mitbeschrieben wurde. Also bei der Hochzeit oder als Tracy das Haus gezeigt bekommt...

  • Ich habe es heute beendet und es hat mir so gut gefallen, dass ich auch etwas dazu schreiben musste... :-)


    Meine Meinung: Schwiegereltern eines persischen Polygamisten zu werden, stand sicherlich nie im Lebensplan der Pringles als erstrebenswertes Ziel notiert, doch genau zu diesem Titel verhilft ihnen Tracy ihre einzige Tochter. Dass der Schwiegersohn in spe klein, dicklich, Moslem und wesentlich älter als Tracy ist, stellt quasi das Sahnehäubchen der freudigen Ankündigung ihrer baldigen Hochzeit dar. Von Familie, Freundschaft, Liebe, von Vorurteilen und der Faszination des Fremden handelt dieser Roman, der erzählt, wie sich ein „ganz normales“ englisches Ehepaar ungewollt mit einer Situation auseinander setzen muss, die es hin und hergerissen sein lässt, zwischen der Liebe zur einzigen Tochter und der Ablehnung der von ihr gewählten Partnerschaft. Obwohl der Schwiegersohn im Herzen und Denken ein Engländer ist, im anglikanischen Kirchenchor Choräle geschmettert hat und wegen dieser dritten Hochzeit auch mit seinen Eltern im Streit liegt, so fällt die Annäherung der Kulturen trotz erstaunlich vieler Gemeinsamkeiten selbst in diesem so kleinen Personenkreis mehr als schwer.


    Dies könnte ein sozialkritischer Roman sein, der mit einem erhobenen Zeigefinger daherkommt und Missstände in Anstand und Moral der englischen Gesellschaft anprangert, doch zum großen Glück des Lesers ist er genau das nicht. Antony McCarten hat ein anspruchsvolles und gleichzeitig amüsantes Stück Unterhaltungsliteratur geschrieben, das sich auf eine warme und sympathische Art und Weise mit den Vorurteilen und Schwächen seiner Protagonisten auseinander setzt und das den Leser durch diesen Umstand freiwillig bereit sein lässt, in den vorgehaltenen Spiegel zu schauen. Ein Buch das vielleicht zu mehr Akzeptanz und Toleranz beiträgt und ein Buch, das sich zu lesen lohnt…