'Der Turm' - Seiten 185 - 280

  • Wie hintergründig Tellkamp doch schreiben kann: Beispielsweise die kleine Szene Seite 186, die Schüler bleiben vor der Schauvitrine stehen, man wundert sich, wen sie denn bestaunen – Gorki, vielleicht doch die Trompete oder den Brief; aber nicht doch, ein Komma trennt es ab, das Wunderwerk der Natur, den Achat, der zum Stehenbleiben zwingt. Schön finde ich das, und schön dargestellt. Oder seine Bilder, gleich zu Beginn dieses Abschnitts beispielsweise: Da „tröpfelt“ die Sonne über Berge (Seite 187). Mir kommt immer dieser Ausdruck aus der Ouvertüre in den Sinn „die süße Krankheit Gestern“ - gehört dazu auch die Sprache, so schön, nicht zuckersüß, sondern honig-würzig süß kommt sie mir hin und wieder vor, und doch ist so viel Bitteres darin, so viel beschreibt sie, was nur schöne Fassade ist, Potemkinschen Dörfern gleich scheinen mir manche Vergleiche, manche Bilder, manche Sätze – das Gestern nimmt sie auf, scheints mir. Das im Roman dargestellte Heute muss sie ja nicht, wohl zu offensichtlich kommt diese Krankheit daher, nicht nur im Osten, der Westen sollte sich da nicht ausschließen, und doch kaschiert sie manches, deckt sie ein wenig zu, die Sprache, will nicht zu brutal, nicht zu nüchtern sagen, was zu sagen ist, und macht es doch so deutlich.
    Ach je, Verzeihung, das ging mir so durchs Hirn; hoffentlich verstehe nicht nur ich es.


    Kapitel 17 ist ziemlich entlarvend: Da ist man mutig, aber nicht mutig genug (Verena), da haut man drein, wenn man man sich sowieso stark weiß und die eigene Position noch weiter ausbauen muss und den „Gegner“ zudem schwach weiß (Swetlana – bei dem Namen machte sich bei mir zum ersten Mal ein wenig Unwillen breit: suggeriert der Name nicht von Anfang an, welche politische Position sie einnimmt, macht er es mir nicht zu einfach bei diesem Roman, der erarbeitet werden will? – und prompt kommt ein bisschen Misstrauen, was Tellkamp wohl mit dem Mädchen Swetlana noch vorhat).


    Kapitel 18 hat in mir so etwas wie Beklemmung hervorgerufen. Die Szene, die von der Assistentin und der geerbten Guarneri erzählt, erinnerte mich so fatal an die Art und Weise, wie die Nazis die jüdische Bevölkerung um ihr Geld, ihr Vermögen brachte. Ziemlich irritiert hat mich ja Obergutachter-Szenerie: Da müssen Schriftsteller zensieren? Und dann noch ein Stalinist mit dem schönen Namen Eschschloraque, der scheinbar so freundlich zu parlieren weiß und dann gnadenlos zustößt, das ist nicht nur Goethe-Schule, in die er gegangen ist...
    Gefallen haben mir aber die Gerüche, die aus den Schlüssellöchern „schlendern“ (Seite 212) – der Mann (Tellkamp) weiß mir die Augen zu öffnen.


    Seite 233: Der Herr Baron ist „von“, ein seltsames Gutherrengehabe legt er an den Tag. Da muss ich doch glatt an Seite 209 denken, an die „Gleichheit aller Bürger“, aber gut, da ging es um das „Gesetz“ und nicht um eine Veranstaltung eines vielleicht etwas elitären Klubs. Aber elegant ausladen kann er (Seite 255, vorletzter Satz).
    Dr. Kittwitz Verbitterung (Seite 245, 246) kann man gut verstehen.


    Kapitel 20: Ich verneige mich vor Tellkamps Kunst, diese mich so abstoßende Szene derart dargestellt zu haben: Da weiß man, wer etwas zu sagen hat, und wer sagen kann, was er will, es spielt eh keine Rolle, also muss man den genauen Wortlaut gar nicht kennen. Armer Bürger Richard, jetzt sitzt er ganz schön in der Klemme.


    Das 21. Kapitel gefällt mir wieder sehr gut, besonders die Seite 272 bis 275 haben es mir angetan, das genaue Schauen, das genaue Benennen. Christian hat gute Lehrer, die ihn vielleicht hin und wieder doch überfordern. Was dem mit seinen 17 so alles durch den Kopf geht; sein Gedächtnis ist jedenfalls bewundernswert. In Kapitel 22 lernen wir Tante Barbara besser kennen – mir scheint, die Dame darf man nicht unterschätzen.

  • Okay, bis Seite 220 (ungefähr) hab ich jetzt gelesen und stelle fest, dass ich viel mehr Zeit auf dieses Buch verwenden muss, als ich im Moment habe. Ich hatte nach dem Fernsehfilm gedacht, hier einen flott lesbaren Roman in die Hand zu nehmen. Das ist aber ein Trugschluss gewesen, was andere Teilnehmer an der Runde auch schon festgestellt haben. Die TV-Verfilmung ließ nicht ansatzweise ahnen, was für ein hintergründiges, stilistisch anspruchsvolles Werk Tellkamp hier vorgelegt hat.
    Leider peitscht mich mein Verlag gerade (völlig zu Recht) mit dem Abgabetermin des letzten Korrekturlaufs für mein neues Buch, das wir auf der Leipziger Buchmesse vorstellen. Ich muss eingestehen, dass mir im Augenblick die Konzentration fehlt, dem "Turm" die Zuwendung zu widmen, die er verdiente.
    Was ich bisher gelesen habe, ist ein literarisch herausragendes Sittenbild der Gesellschaft im "real existierenden Sozialismus", das mir als Leser ganz unerwartete Einblicke in die DDR beschert hat. Als Autor empfinde ich großen Respekt vor der schriftstellerischen Kunst Tellkamps.
    Ich werde dieses Buch weiterlesen, sobald ich ihm die schuldige Aufmerksamkeit zollen kann. Erst einmal aber muss ich es zur Seite legen.
    Euch allen weiterhin viel Spaß in der Leserunde! :wave

  • Schade, Dieter, aber verständlich! :wave
    Ich bin auch beeindruckt von Tellkamps Buch, davon wie viel er in diese eine Geschichte, die so viele Geschichten ist, gepackt hat, ohne sie, für meinen Geschmack, zu überfrachten.


    Mein Problem ist eher, dass dieses Buch so vieles aufrüttelt in mir, so viele Erinnerungen, nicht immer angenehme.

  • Zitat

    Original von Clare
    Schade, Dieter, aber verständlich! :wave
    Ich bin auch beeindruckt von Tellkamps Buch, davon wie viel er in diese eine Geschichte, die so viele Geschichten ist, gepackt hat, ohne sie, für meinen Geschmack, zu überfrachten.


    Mein Problem ist eher, dass dieses Buch so vieles aufrüttelt in mir, so viele Erinnerungen, nicht immer angenehme.


    Ja, Clare, Letzteres kann ich mir sehr gut vorstellen. Ohne es mit deinen Lebenserinnerungen aus dem Paradies der Arbeiter und Bauern vergleichen zu wollen, die mir - was lediglich ein glücklicher Umstand ist - erspart geblieben sind: Mich fasst es (vermutlich auf ähnlicher Gefühlsebene) immer an, wenn ich Bücher lese oder Filme sehe, die sich mit den 60er und 70er-Jahren auf der westlichen Seite des antifaschistischen Schutzwalls befassen. Dann werde ich wieder in die Zeit versetzt, in der sich viele von uns, der ersten Nachkriegsgeneration (manchmal mit mehr Herz als Verstand, aber immer hingebungsvoll), gegen den verlogenen moralischen Muff von Kirche und Elternhaus, gegen den Einfluss der unbelehrbaren Nazis in Politik, Ämtern, Schulen und, ja, im Elternhaus aufgelehnt haben. Dann kommt viel wieder hoch, auch sehr Unangenehmes aus Familie, Schule, Studium usw. Wie gesagt: Alles nicht mit einer Jugend in einer Dikatur zu vergleichen, aber eben politische Erfahrungen auf persönlicher Ebene - und die rühren immer auf.
    Ich werde immer mal wieder in die Runde reinschauen. Und wenn ich dazu gekommen bin, das Buch richtig zu lesen, werde ich mich auch noch einmal dazu melden.
    Also nochmals: Viel Spaß weiterhin! :wave

  • Zitat

    Original von Clare
    Schade, Dieter, aber verständlich! :wave


    :write



    Zitat

    Ich bin auch beeindruckt von Tellkamps Buch, davon wie viel er in diese eine Geschichte, die so viele Geschichten ist, gepackt hat, ohne sie, für meinen Geschmack, zu überfrachten.


    Auch das kann ich unterschreiben. Was mich absolut fasziniert, ist Tellkamps Sprache. Allein deswegen wird es ein Buch sein, das ich immer wieder mal zur Hand nehmen werde; sehr, sehr viele Stellen, mal Sätze, mal Abschnitte, mal Kapitel, habe ich mir gekennzeichnet, um sie wieder genießen zu können.


    Zitat

    Mein Problem ist eher, dass dieses Buch so vieles aufrüttelt in mir, so viele Erinnerungen, nicht immer angenehme.


    :knuddel1
    Meine Hochachtung, dass Du trotzdem weiter liest.

  • Zitat

    Original von Lipperin


    :knuddel1
    Meine Hochachtung, dass Du trotzdem weiter liest.


    Na, Hochachtung muss nicht sein.
    Es überrascht mich, wie viel ich plötzlich, seit ich das Buch lese, über früher nachdenken muss, Kindheit und Jugendzeit, Zustände und Umstände, Fehler und eigene Naivität. Das hatte ich so nicht erwartet.

  • Zitat

    Original von Clare
    Es überrascht mich, wie viel ich plötzlich, seit ich das Buch lese, über früher nachdenken muss, Kindheit und Jugendzeit, Zustände und Umstände, Fehler und eigene Naivität. Das hatte ich so nicht erwartet.


    Das spricht aber umso mehr für das Buch, oder?

  • Ich bin hin- und hergerissen von dem Buch. Gerade kämpfe ich mit Kapitel 21. Es gibt Kapitel, die gefallen mir, wie der Behördenwahnsinn auf der Kohleninsel dargestellt wid, finde ich grandios, aber dann gibt es wieder Kapitel, an denen ich mir die Zähne ausbeiße.

  • Ich habe den Abschnitt nun beendet, das letze Kapitel war für mich wieder um einiges lebendiger, für mich ist es noch nicht "Enöff", ich werde auf jeden Fall noch weiterlesen. Allerdings ist es absolut kein Buch für zwischendurch ofer Nebenbei, deswegen werde ich wohl weiterhin langsam vorankommen.


    Richard scheint in die Fänge der Stasi geraten zu sein, ich vermute, dass er nun spitzeln muss.


    Mich fasziniert weiterhin, wie Tellkamp fast nebenbei die Unterdrückung/Überwachung einfließen lässt. Sie ist allgegenwärtig und schwebt bedrohlich über allem, und wenn sie wieder zuschlägt, ist man trotzdem unvorbereitet. Das spiegelt vermutlich die Lebenssituation der Bürger ganz gut wieder.

  • Ich habs auch geschafft :wave (Ich glaube, das ist der Satz, mit dem ich künftig alle Kommentare hier beginnen werde :chen ...). Nee, im Ernst, ich tue mich extrem schwer, an vielen Tagen komme ich gar nicht dazu, an anderen nur wenig - einzige Ausnahme: der letzte Dienstag, an dem ich ca. 80 Seiten gelesen habe. Ich weiß nicht, ob das von meiner Tagesform abhängt oder vom Inhalt der Kapitel oder einer Mischung aus beidem...


    Wie ihr auch schon geschrieben habt, haben sich die Kapitel über die Kohleninsel und auch den "Aufstand" Verenas wirklich gut lesen lassen, andere fand ich schon fast langweilig. Trotzdem gefällt mir das Buch, und ich habe den festen Vorsatz, es fertig zu lesen. Allerdings befürchte ich, dass ich ab sofort noch länger brauchen werde, da ich ganz kurzfristig am Donnerstag eine Stelle angeboten bekommen habe, bei der sich mein Arbeitspensum ab nächster Woche verdoppeln wird. Und ich habe festgestellt, dass ich es nicht am Stück lesen kann und werde jetzt mal versuchsweise ein Buch einschieben (obwohl ich das normalerweise hasse).


    Wie schon erwähnt haben mir hier die Kapitel über Verena und die Kohleninsel am besten gefallen - man kann sich gar nicht vorstellen, dass die meisten diese Schikanen so gelassen genommen haben. Und Richard wird von der Stasi erpresst, dass er ein Spitzel werden soll :yikes sonst erzählen sie Anne von seinen Donnerstagen und der Sohn kann das Studium vergessen - bin mal gespannt, wie das weitergeht.


    Die Andeutung von Tante Barbara, Christian und Ina dürften nich mit dem Inzest fortfahren (S. 279 o), wie soll man die denn verstehen? Und im Häuserplan gibt es auch etwas, das ich mir nich erklären kann: Anne, Meno und Ulrich sind die Geschwister Rohde. Hans Hoffmann (kam der überhaupt schon vor?) wird als Richards Bruder tituliert. Wer sind dann aber Niklas und Gudrun Tietze? Laut Plan auch Onkel und Tante, aber keine Rohdes und keine Hoffmanns - für mich ist das noch (?) ein Rätsel...


    Enöff ist also doch enough :-] *binmalmitwasrichtiggelegen* - witziges Wort.


    edit hat die Seitenzahl ergänzt

    Liebe Grüße :wave


    Waldmeisterin


    Every day I give my family two choices for dinner: take it or leave it!


    Nulla unda tam profunda quam vis amoris furibunda

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  • @ Waldmeisterin: Dann werden wir gemeinsam hinterhertrudeln, ich werde übermorgen die Tana-French LR beginnen, unter der Woche komme ich sowieso nicht mit dem Turm voran.


    Über den Inzest bin ich auch gestolpert und gehe davon aus, dass wir da noch mehr erfahren.


    Die drei Nachnahmen sind in der Tat merkwürdig. Niklas ist ja schon mehrfach aufgetaucht, ich kann mich gerade nicht erinnern, ob dazu schon etwas erklärt wurde. :gruebel

  • Zitat

    Original von Bookworm
    Niklas ist ja schon mehrfach aufgetaucht, ich kann mich gerade nicht erinnern, ob dazu schon etwas erklärt wurde. :gruebel


    Also, soweit ich weiß nicht - aber ich denke auch, dass da noch was kommt.


    Und schön, dass ich nicht alleine hinterherhinke, Bookworm :wave

    Liebe Grüße :wave


    Waldmeisterin


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  • Zitat

    Original von Waldmeisterin
    ... da ich ganz kurzfristig am Donnerstag eine Stelle angeboten bekommen habe...


    Herzlichen Glückwunsch!



    Zitat

    Wer sind dann aber Niklas und Gudrun Tietze? Laut Plan auch Onkel und Tante, aber keine Rohdes und keine Hoffmanns - für mich ist das noch (?) ein Rätsel...


    In meiner gebundenen Ausgabe Seite 53, anlässlich des "Konzerts", wird erwähnt, dass Niklas der Cousin von Richard (mütterlicherseits) ist.

  • Lipperin : Danke für Deine Glückwünsche (ist aber leider erstmal befristet bis Ende Februar) und für Deinen Hinweis, das erklärt natürlich einiges. Das muss ich wohl mit meinen Startschwierigkeiten bei diesem Buch überlesen haben :wave

    Liebe Grüße :wave


    Waldmeisterin


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  • Auch ich danke für die Erklärung, Lipperin - ich hatte befürchtet, dass mir das auf der Geburtstagsfeier durchgegangen ist, bei den ganzen neuen Namen und ohne Personenverzeichnis. :lache


    Von mir natürlich auch Glückwunsch zum neuen Job und einen guten Start, Waldmeisterin. :wave

  • Ich glaube, wenn ich in dieser Zeit aufgewachsen wäre und ständig aufs Amt gemusst hätte, ich glaube, ich wäre sicher durchgedreht Aber ich glaube, auch heutzutage wird es schwierig, die öffentliche Verwaltung auf ein erträgliches Maß zu entbürokatisieren.


    Bedrohlich fand ich die Szene, dass Richard nun in die Bespitzelung hinein erpresst wird, weil er vor Ewigkeiten mal etwas getan "blödes" getan hat und der Staat auch über sein Doppelleben bescheid zu wissen scheint.


    Mir tut aber auch Richards Frau leid, denn sie spricht ihren Mann auf die Gerüchte hin an und er streitet es ab, bringt sogar eine Intrige vor und dass man beide auseinanderbringen möchte.



    Zitat

    Original von Waldmeisterin
    dass er ein Spitzel werden soll :yikes sonst erzählen sie Anne von seinen Donnerstagen und der Sohn kann das Studium vergessen - bin mal gespannt, wie das weitergeht.


    Tja, da muss ihn wohl jemand beobachtet haben. Gut, er ist Arzt, da könnte ihn ja auch ein "aufrichtiger" ehemaliger Patient verpfiffen haben. Schlimm ist es, wenn die Kinder vorschiebt, damit die Eltern wieder konform mit der Staatsideologie laufen und nebenbei auch noch die Kollegen bespitzeln.