Ein Mann auf einem Pferd - Teil 2

  • 18.12.1972
    Roberto Canessa und Fernando Parrado setzen ihre Wanderung durch die Anden fort. Weiter geht der Weg durch Eis und Schnee, sie bezwingen noch einen Gipfel. Dann geschieht das Wunder.


    "Roberto, da hinten sehe ich nur noch graues Gestein. Kann es sein, dass es dort keinen Schnee mehr gibt?"
    "Du hast Recht Nando, das hier ist die Grenze. Hinter uns liegt der Tod. Vor uns das Leben".
    „Wie weit werden wir noch gehen müssen?“
    „Soweit es nötig ist.“


    19.12.1972
    Der Proviant ist geschmolzen. Nando und Roberto haben von dem verdorbenen Fleisch gegessen. Roberto bekommt Magenkrämpfe, auch Nando muss sich übergeben. Doch sie setzen ihren Weg fort. Dann entdecken sie einen Bach. Und nicht viel später Flechten und Moos. Mit jedem Schritt kommen sie der Rettung näher.


    „Hier gibt es Gras, hier gibt es Wasser, und da eine Eidechse! Ich komme mir vor wie in einem 4-Sterne Hotel. Hier überleben wir “.
    „Du hast Recht Roberto, lass uns dieses Gras essen“.
    „Es ist erstaunlich mit wie wenig man zufrieden sein kann“


    Einige Stunden später:
    „Roberto, dort sind Rinder. Wo Rinder sind, da gibt es auch Menschen!“
    „Aber Nando, diese Rinder laufen hier wild herum, kein Mensch kümmert sich um sie.“
    „Was sollen wir tun?“
    „Wir sind der Rettung so nahe. Wir werden abwarten und hier übernachten“


    20.12.1972
    Am nächsten Tag, obwohl am Ende ihrer Kräfte, bleibt ihnen nichts weiter übrig, als die Wanderung fortzusetzen. Der Bach hat sich zu einem reißenden Strom verwandelt. Bis zum Abend finden sie immer noch keine menschlichen Spuren. Aber dann glaubt Roberto etwas zu entdecken.


    „Nando, ein Mann! Ein Mann auf einem Pferd! Auf der anderen Seite des Flusses!“
    „Ich sehe ihn auch. Von ihm habe ich geträumt, vor ein paar Tagen als du mich aufgerüttelt hast.“


    Nando und Roberto rufen und winken. Der Fluss ist ohrenbetäubend laut. Der Mann kann ihr Rufen nicht hören. Aber er hat sie entdeckt, ist sichtlich verwundert, so hoch im Gebirge noch Menschen anzutreffen. Er bedeutet ihnen, dass sie weiter flussaufwärts zu einer seichteren Stelle gehen sollen.


    Inzwischen bricht die Dämmerung herein. Sie fragen sich, ob der Hirte noch da ist oder schon unterwegs um Hilfe zu holen. In der Nacht bemerken sie, dass auf der anderen Seite ein Feuer brennt. Nando und Roberto beginnen ihre letzte Nacht unter freiem Himmel.


    21.12.1972
    Als es hell geworden ist, bemerkt Nando, dass der Mann ihnen Zeichen gibt. Er hat etwas in der Hand und wirft es über den Fluss. Roberto ist inzwischen so geschwächt, dass er sich nicht mehr erheben kann.


    „Nando, was hat er rübergeworfen?“
    „Es ist ein Stein. Darum hat er ein Stück Papier gebunden und einen Schreibstift drangesteckt. “
    „Ein kluger Mann! Schreib ihm das Wichtigste. Dass wir zu einem uruguayischen Rugby-Team gehören, das mit dem Flugzeug im Hochgebirge abgestürzt ist. Schreib ihm vor allem, dass dort oben noch vierzehn Menschen auf Rettung warten. Schreib ihm dass sie nichts zu essen haben und dass jede Minute entscheiden kann. “
    „Ja, ich habe es Roberto. Und zum Schluss schreibe ich WO SIND WIR?“
    „Ja, Nando, das wüsste ich auch gern. Wo sind wir hier verdammt noch mal. Hast du noch genügend Kraft, den Stein zurückzuwerfen?“
    „Ich hoffe es“


    Nando wirft den Stein mit der Nachricht über den Fluss. Der Mann auf der anderen Seite liest sie und bedeutet ihnen an der Stelle zu warten. Er geht zu seinem Pferd, holt ein Paket aus der Satteltasche und wirft es hinüber. Dann schwingt er sich auf das Pferd und reitet zügig davon. In dem Paket sind Brot und Käse. Die erste zivilisierte Nahrung seit über zwei Monaten.

  • Am Flugzeugwrack ist die Stimmung auf den Nullpunkt gesunken. Jeder weiß was die Stunde geschlagen hat. Vor zehn Tagen sind die Beiden aufgebrochen. Für zehn Tage war der Proviant berechnet. Die ersten haben begonnen sich aufzugeben. Sie bleiben einfach im Wrack liegen und warten auf das Ende. Carlito wacht vor dem Wrack, das Transistorradio am Ohr. Und dann kommt sie die ersehnte Nachricht. Carlito stürzt in das Flugeugwrack.


    „Eduardo, Tintin, Fito, Leute hört mal her. Sie haben Nando und Roberto gefunden!“


    Die Männer stürzen aus dem Flugzeug und fallen sich in die Arme. Sie lachen, jubeln und springen soweit es ihre Kraft noch zulässt. Mit einem Schlag fällt die Hoffnungslosigkeit von ihnen ab und weicht der Überzeugung, dass sie es überlebt haben.
    Sie hören weiter die Nachrichten. Schon bald gibt es kein anderes Thema mehr im Radio.


    -


    Währenddessen müssen Nando und Roberto lange ausharren. Der Mann hat zehn Stunden gebraucht, um ins nächste Dorf zu kommen. Er benachrichtigt die dortige Polizeistation. Und dann geht alles plötzlich sehr schnell. Rettungskräfte begeben sich gemeinsam mit dem Hirten zu der Stelle am Fluss, wo er die beiden Hilfebedürftigen zurück gelassen hat.


    „Roberto, da kommen Reiter. Es sind Soldaten. Wir sind gerettet.“
    „Das sind nicht nur Soldaten. Wie hat nur die Presse so schnell davon Wind bekommen?“
    „Wir sind eine Sensation, Roberto. Wenn sie danach fragen, du weißt. Kein Wort zum Thema Nahrung.“
    „Schon klar Nando, aber …“
    „Kein Wort, hörst du?“


    Die Rettungskräfte waten durch den Fluss und schaffen sie auf die andere Seite. Dann werden sie auf ein Pferd gesetzt und ins Tal geführt, begleitet von einem Tross. Journalisten. Jeder möchte die ersten Bilder der Geretteten machen. Müde und ausgezehrt erleben sie den Triumphzug. Aber sie lächeln und winken in die Kameras.
    Im Tal angekommen, werden sie nach der Position der anderen Vermissten gefragt. Ein Offizier legt eine Karte vor. Nando rekonstruiert den Weg, den sie zurückgelegt haben präzise und zeigt auf einen Punkt auf der Karte. Der Offizier ist erstaunt.


    „Das kann unmöglich sein. Das ist in Argentinien“
    „Ich bin mir absolut sicher, Senor“
    „Kein Mensch ohne Ausbildung und Ausrüstung kann 80 Kilometer durch das Hochgebirge wandern.“
    „Wir müssen es getan haben, sonst wären wir nicht hier“


    In diesem Augenblick wird Nando der tragische Irrtum bewusst, dem sie aufgesessen waren. Sie hatten sich auf die Aussagen des Kopiloten verlassen, der am Tag nach dem Absturz an seinen Verletzungen gestorben war. Die Piloten glaubten, die Anden bereits hinter sich gelassen zu haben und waren dann viel zu früh nördlich abgebogen, in dem Glauben auf den Zielflughafen zuzufliegen. Stattdessen flogen sie geradewegs in den östlichen Teil des Hochgebirges hinein. Genau diese Fehleinschätzung war dafür verantwortlich, dass Nando und Roberto in die falsche Richtung aufgebrochen waren. Wären sie nach Osten, Richtung Argentinien gewandert, dann hätten sie bereits nach 2-3 Tagen zivilisiertes Gebiet erreicht. Sie glaubten aber auf der westlichen Seite der Anden in Chile zu sein und marschierten geradewegs in das Hochgebirge, in eine schier endlose weiße Wüste hinein.


    Während das Militär Rettungshubschrauber herbeischafft, bekommen sie warme Suppe und stellen sich den Fragen der Presse. Ein Journalist befragt Fernando.


    „Gibt es einen Angehörigen, dem sie in diesem Moment etwas mitteilen möchten?“
    Eine Pause. Nando muss sichtlich mit der Antwort kämpfen.
    „Meinem Vater. Er braucht mich jetzt. Und ich brauche ihn. Vater, ich freue mich bald bei dir zu sein.“
    „Gibt es noch weitere Angehörige?“
    Wieder eine Pause. Etwas länger als beim ersten Mal. Nando fasst sich aber schnell:
    „Meine Mutter und meine Schwester, sie waren mit in der Maschine. Sie sind beide gestorben… Ich habe noch eine weitere Schwester“


    Ein anderer Journalist fragt Roberto
    „Wovon haben Sie die ganze Zeit gelebt?“
    Ein kurzes Zögern.
    „Wir …“
    Nando fällt ihm ins Wort.
    „Dazu wollen wir nichts sagen“.
    Als die Journalisten weiter nachhaken sagt Roberto schließlich doppeldeutig.
    „Die Anderen haben uns ihre Ration mitgegeben, damit wir den Weg schaffen.“


    Die Hubschrauber sind eingetroffen. Nando wird in einen hineingebeten, er möge ihnen die Unglücksstelle zeigen. Er bekommt Helm und Kopfhörer aufgesetzt und sie heben ab.


    -


    Am Wrack ist die Stimmung immer noch euphorisch. Man wartet ungeduldig auf die Suchtrupps. Carlito macht sich inzwischen Gedanken über die Toten. Sie beschließen, ihre Überreste im Halbkreis geordnet zu platzieren. Das Maximum an Würde, das sie ihren toten Kameraden noch geben können. „Wir haben nichts zu verbergen“, sagt Carlito, „die Welt soll es sehen und über uns richten.“


    -


    Der Hubschrauber fliegt ins Hochgebirge. Er gerät hart an die Grenze seiner Belastbarkeit. Er ist für solche Höhen nicht ausgelegt. Dann schreit Nando in sein Mikrofon.


    „Auf der Rückseite dieser Bergwand, da muss es sein“
    „Da kommen wir unmöglich drüber, das sind über 5000 Meter“
    Er versucht es dennoch. Knapp über der Oberfläche passiert der Hubschrauber den Grat. Nando ist sich sicher:
    „Ja, da ist es. Das ist das Tal.“
    „Ich erkenne nichts. Hier ist nichts“


    An einem Felsvorsprung ein weißer Flugzeugrumpf. Nicht auszumachen für den Piloten. Aber Nando bleibt hartnäckig:
    „Dort, fliegen Sie zu diesem Felsvorsprung“
    Wenige Sekunden später tönt es aus dem Kopfhörer.
    „Sagen sie nichts mehr. Wir haben sie.“


    -


    Carlito, Tintin, Eduardo, Fito und die Anderen hören das Geräusch von fern, hinter der Felswand.


    Rap-rap-rap-rap-rap-…


    Sie schauen sich an, ein breites Lachen in den Gesichtern. Die Rettung ist nah. Aber noch ist nichts zu sehen. Das Geräusch wird leiser und verstummt. Entsetzten. Doch dann erscheint der Hubschrauber plötzlich wie von Geisterhand klar sichtbar vor dem strahlend blauen Himmel. Und wieder hören sie das


    Rap-rap-rap-rap-rap-…,


    das immer lauter wird.


    Als Carlito den Hubschrauber landen sieht, glaubt er Nando hinter der Scheibe zu erkennen. Männer in roten Anzügen springen aus dem Fluggerät. Aber wo ist Nando? Die augemergelten Männer fallen ihren Rettern in die Arme. Jubelrufe ertönen. „Viva Chile“, „Viva Uruguay“.
    Die Bergung der Männer erfolgt Stück für Stück. Als die ersten der Geretteten in den Hubschrauber gehievt werden, erkennen sie Nando, der hinten sitzt, zusammengekauert, mehr tot als lebendig aber mit einem Strahlen im Gesicht. Sie umarmen sich.
    „Nichts wie weg hier“,
    sagt Nando und schließt selbst die Hecktür.


    Carlito nimmt den Offizier der Rettungsmannschaft an den Arm und führt ihn zu den Überresten der Toten. Er zeigt auf jeden Einzelnen und nennt ihn beim Namen. Das ist der, dieses ist Jener.
    „Das ist nicht wichtig“,
    sagt der Offizier beruhigend, obgleich er erkennt, was mit den Toten geschehen ist.
    „Doch das ist wichtig“
    Der Hubschrauber hebt vom Boden ab. Carlito hält die Hand als schützendes Dach über seine Augen und beobachtet wie die ersten Geretteten in den blauen Sommerhimmel verschwinden.


    „Das ist sehr wichtig“.

  • Die Ereignisse aus den beiden Geschichten haben einen authentischen Hintergrund, der in verschiedenen schriftlichen wie filmischen Publikationen und Dokumentationen behandelt wird. Meine Darstellung der Ereignisse wurde maßgeblich von zwei Filmdokumentationen zu diesem Thema beeinflusst. Ich habe mir diese Videos in Vorbereitung des Wettbewerbsbeitrags und der Fortsetzungsgeschichte mehrfach angeschaut und danach meine Texte aus dem Gedächtnis formuliert bzw. inTeil2 auch rekonstruiert. Ich verwende dabei sinngemäß aus dem Gedächtnis zitierte Originaltöne der Beteiligten, wie sie in diesen Reportagen gefallen sind und bringe sie hier in erzählerischer Form an.
    Die erste Referenz ist der Film Das Wunder der Anden


    Besteht nur aus O-Tönen der Beteiligten und eingeblendeten szenischen visuellen Bruchstücken. Man hat von Anfang an einen Kloß im Hals und wird ihn 2 Stunden lang nicht los, bis einem am Ende die Tränen aus den Augen treten. Lief 2010 bei Arte und 2011 bei Phoenix, wo ich mitgeschnitten habe. Sehr ausführliche Interviews u.a. mit Roberto Canessa, der offenbar ein absolut wundervoller, intelligenter Mensch ist und sehr eindrucksvolle Worte und Beschreibungen findet, den ich in meiner Geschichte den Monolog halten lies und natürlich Fernando Parrado, genannt Nando , der Mann der für mich der Held dieser ergreifenden Geschichte ist. Und nicht nur der Held dieser Geschichte sodern der Held schlechthin. Er zeigt uns, was ein Mensch zu leisten in der Lage ist, wie er über sich hinaus wachsen und dem Tod trotzen kann, wenn es darauf ankommt.


    Die zweite Quelle ist eine Dokumentation „Flugzeugabsturz in den Anden“. Hier wird die Geschichte eher dokumentarisch, weniger emotional, aber dennoch absolut packend erzählt. Könnt ihr euch auf Youtube anschauen in drei Teilen. Teil 1 kann gesucht werden unter 09xrHVpLPjM , die andern Teile sind dann als Referenz zu finden. Das für alle, die jetzt sofort mehr wissen wollen.

  • Durch die Verfilmung ist der Vorfall wahrscheinlich noch am präsentesten. Mir war er jedenfalls dadurch geläufig.


    Es gab ja in der Geschichte schon mehrfach Gegebenheiten, während der Menschen in Extremsituationen das Jäger- oder Zigeunerschnitzel wörtlich nahmen.


    Ein sehr bekannter Fall ist auch jener der schiffbrüchigen Walfänger im 19. Jahrhundert. Oder der Soldaten auf einer (japanischen?) Insel kurz nach dem 2. Weltkrieg.


    Vom 30-jährigen Krieg ganz zu schweigen.

    :flowersIf you don't succeed at first - try, try again.



    “I wasn't born a fool. It took work to get this way.”
    (Danny Kaye) :flowers

  • Danke Arter. :-)


    Ich hab das Buch dazu als Jugendliche gelesen und dann auch den Film gelesen, hat mich damals richtig fertig gemacht. Später noch mehrmals gelesen und gesehen. Berührt sehr. Eine Reportage dazu habe ich letztes Jahr auf ntv gesehen. Unfassbar was Menschen erleiden und überleben können.

  • Schön machet. Teil 2 habe ich angefügt, weil Teil 1 für sich vielleicht zu frustrierend ist. Und damit die, die davon noch nie was gehört haben einen Hinweis kriegen. Ich muss Misskazumi voll zustimmen. Ich habe mir diese Reportagen schon so oft angeschaut und jedes mal ergreift es mich wieder.


    Ach so, Fehler in Teil 2: Er heißt Carlitos Paez, nicht Carlito. Ich habe ein s unterschlagen. :bonk

  • Zitat

    Original von MissKazumi
    :-)
    Unfassbar was Menschen erleiden und überleben können.


    Ich kenne diesen Film auch und schon da habe ich immer überlegt, was ich tun würde, wie ich reagieren würde. Ich glaube, wäre ich in einer so ausweglos erscheinenden Situation (begrenzte Nahrung, Tote, Verwundete, Kälte, Suche nach dem Flugzeug abgebrochen), würde ich einfach aufgeben. Gerade deswegen finde ich diesen Mut und diese Kraft und den Willen der Verzweifelten so unglaublich!!


    Aber das ist alles Theorie!!


    Danke Arter!!