'Die andere Hälfte der Hoffnung' - Seiten 001 - 080

  • Dann mal los:


    Ich bin sofort drin in der Geschichte. Interessant und gut gemacht finde ich die Wechsel zwischen den Handlungsebenen, die uns die Figuren vorstellen.
    Ich glaube, dass es im vorletzten, also im 8. Kapitel ist, dass sich die Ebenen kreuzen.


    Besonders intensiv empfinde ich beim lesen der Abschnitte aus der Entfremdungszone. Allein schon dieses Wort, aber wahrscheinlich ist das exakt so aus dem Russischen übersetzt, würde jedenfalls passen. Walentyna ist allein, ganz allein mit ihren Gedanken und ihren Tagebuchaufzeichnungen an Kateryna, von der wir später erfahren, dass sie ihre Tochter ist, die zum Studienaustausch nach Deutschland ging und verschwand.


    Leonid, und ich muss immer an Breschnew denken, wenn ich seinen Namen lese, begibt sich nach Deutschland, unter anderem um sie zu suchen. Es sind so viele junge Frauen nie wieder aufgetaucht. Wir als Leser wissen, wo sie sind, gepresst in die Zwangsprostitution.


    Am nähesten nach Walentyna kommt mir Matthias, der Alte, die junge Frau, Tanja, bei sich aufnimmt, aus der Not heraus, unfreiwillig, weil er eben nicht anders kann. Dieses Bedürfnis macht ihn so unheimlich menschlich. Obwohl er sich in seiner Einöde gestört fühlt...Es ist, als wäre da endlich seit langem mal wieder jemand, der ihn braucht.


    Wie gesagt, was Walentyns in ihrem Tagebuch Kateryna zu erzählen hat, greift mich am meisten an, die Geschichten der Eltern, Großeltern, die Repressalien der kommunistischen Zeit. Das gab es in allen sozialistischen Staaten, aber in der Sowjetunion war es wohl am schlimmsten.


    Ich werde mit Begeisterung weiter lesen! Ein intensives Buch, gemacht, um zu fesseln, vielleicht auch zu erschüttern.

  • Mich hat der Abschnitt gestern auch ziemlich gepackt. Die Figuren sind sehr lebendig geschildert und man kommt ihnen ziemlich nah.


    Die Entfremdungszone begegnet mir nun schon zum zweiten Mal innerhalb kurzer Zeit. Im letzten Monat habe ich Baba Dunjas letzte Liebe gelesen, das ebenfalls dort spielt. Die Vorstellung, in einer derart verseuchten Zone zu leben, finde ich beängstigend. Ich kann mich noch gut erinnern, wieviel Schrecken Tschernobyl ausgelöst hat, selbst hier, trotz der Entfernung, an die Unsicherheit, was man noch essen und trinken darf und was man besser weglässt.


    Die Geschichte mit der jungen Ukrainerin, die vor ihren Zuhältern flieht, macht auch betroffen. Die Vorstellung, dass junge Frauen mit großen Hoffnungen in den Westen gehen, um dann so ausgebeutet und missbraucht zu werden, ist natürlich nicht neu, aber immer wieder erschreckend. Vor ein paar Jahren gab es da mal eine sehr interessant gemachte Kurzserie (Im Angesicht des Verbrechens - Thema Russenmafia in Berlin) auf Arte. Da ist das Thema auch ziemlich drastisch behandelt worden. Hat die jemand von euch gesehen?

  • Ellemir, ich habe Baba Dunja auch gelesen und fühlte mich gleich an sie erinnert.
    Bei alten Menschen kann ich gut verstehen, dass sie in ihre Heimat zurückgehen. Trotz Strahlen. Was haben sie schon noch zu verlieren?
    Das Leben in den schnell hochgezogenen Plattenbauten, die nach 20 Jahren schon völlig verrottet waren, ist auch keine Alternative.


    Matthias ist offenbar nach dem Tod seiner Frau ein ziemlicher Einzelgänger geworden und bleibt lieber für sich. Gut für die junge Frau, da ist es leichter, verborgen zu bleiben.
    Gut fand ich, dass seine Zweifel, ob er sie überhaupt aufnehmen soll, geschildert wurden, das macht ihn glaubwürdiger.


    Diese Serie habe ich nicht gesehen, Ellemir. Es gibt ja immer mal wieder aufrüttelnde Berichte und es ist eine Schande, dass nicht noch viel härter durchgegriffen wird. Es braucht eben unendlich viel Ermittlungsarbeit und Geduld, um den Menschenhändlern das Handwerk zu legen.

  • Es ist ja nicht nur unbedingt Heimweh, sondern auch oft Alternativlosigkeit. In der Plattenbauwohnung konnte sie ja Heizung, Strom und Wasser nicht mehr bezahlen. Kaum vorstellbar für uns, dass so etwas Elementares wie ein Dach über dem Kopf, Wasser und Strom nicht finanzierbar sind. Rückt doch manchmal die eigene Unzufriedenheit wieder in die richtige Perspektive...


    Das wirklich schlimme bei den Zwangsprostituierten hier in Deutschland finde ich die Tatsache, dass sie sich nirgendwohin wenden können. Ohne Papiere stehen sie dumm da und selbst, wenn sie an ihre Papiere herankommen, droht ihnen sowieso nur die Abschiebung. Zurück in dieselbe Armut und dazu kommt dann noch die Verachtung der dortigen Mitmenschen. Dort haben sie auch keinen Platz mehr.


    Seite 71:
    Aber manchmal kommt eine zurück, und die Familien nehmen sie nicht mehr. Man sagt, im Westen verderben sie. Sie werden maßlos und wollen schnell viel Geld verdienen, aber ... aber man hört auch, dass das mit dern schönen Arbeit oft nicht stimmt.

  • Zitat

    Original von Rumpelstilzchen
    Ellemir, ich habe Baba Dunja auch gelesen und fühlte mich gleich an sie erinnert.
    Bei alten Menschen kann ich gut verstehen, dass sie in ihre Heimat zurückgehen. Trotz Strahlen. Was haben sie schon noch zu verlieren?
    Das Leben in den schnell hochgezogenen Plattenbauten, die nach 20 Jahren schon völlig verrottet waren, ist auch keine Alternative.


    Die Abschnitte mit Walentyna berühren mich sehr Wahrscheinlich wird es mit dem Alter auch immer wichtiger, wo die wirkliche Heimat ist. Die alten gehen zurück. Was hat W. schon zu verlieren. Um ihre Gesundheit und die Strahlenbelastung macht sie sich sicher keine Gedanken mehr.


    Zitat

    Matthias ist offenbar nach dem Tod seiner Frau ein ziemlicher Einzelgänger geworden und bleibt lieber für sich. Gut für die junge Frau, da ist es leichter, verborgen zu bleiben.
    Gut fand ich, dass seine Zweifel, ob er sie überhaupt aufnehmen soll, geschildert wurden, das macht ihn glaubwürdiger.


    Ich mag es, wie er mit seinen Tieren spricht, wie in der ganzen Zeit der Einsamkeit nach dem Tod seiner Frau. Einerseits traurig, aber auch schön, irgendwie tröstlich.
    Ich denke, dass es noch zum großen Problem werden kann, dass er das Mädchen bei sich verbirgt.

  • Mich hat das Buch auch von der ersten Seite an gefesselt, ich kann gar nicht sagen, welcher Handlungsstrang mich am meisten berührt, sie sind alle fesselnd und erschütternd, das Leiden der jungen Mädchen, die so voller Hoffnung nach Deutschland gekommen sind, genauso wie der Bericht von Walentyna über die Repressalien in der Sowjetunion.
    Auch die beiden Männer Matthias und Leonid sind mir direkt sympathisch.
    Leonid ist wohl auf eigene Faust nach Deutschland gereist, um weiter nach den Mädchen zu suchen, da er zu Hause ja suspendiert wurde, nachdem er erste Ermittlungserfolge verbuchen konnte.

  • Die ARD-Serie über die Russen-Mafia hatte ich auch gesehen und fand sie recht gut. Von Baba Dunja werde ich mir mal die Leseprobe ansehen.



    Zitat

    Original von Clare
    Wie gesagt, was Walentyns in ihrem Tagebuch Kateryna zu erzählen hat, greift mich am meisten an, die Geschichten der Eltern, Großeltern, die Repressalien der kommunistischen Zeit. Das gab es in allen sozialistischen Staaten, aber in der Sowjetunion war es wohl am schlimmsten.


    Und es hat sich in den ländlichen Teilen Russlands anscheinend kaum was geändert. Hier wird ja das Jahr 2010 beschrieben. Alles schon sehr erschütternd. Der hauptsächliche Zeit des Tages muss dafür genutzt werden, dass eigene Überleben zu sichern.

  • Zitat

    Original von Zwergin
    Mich hat das Buch auch von der ersten Seite an gefesselt, ich kann gar nicht sagen, welcher Handlungsstrang mich am meisten berührt, sie sind alle fesselnd und erschütternd, das Leiden der jungen Mädchen, die so voller Hoffnung nach Deutschland gekommen sind, genauso wie der Bericht von Walentyna über die Repressalien in der Sowjetunion.
    Auch die beiden Männer Matthias und Leonid sind mir direkt sympathisch.
    Leonid ist wohl auf eigene Faust nach Deutschland gereist, um weiter nach den Mädchen zu suchen, da er zu Hause ja suspendiert wurde, nachdem er erste Ermittlungserfolge verbuchen konnte.


    :write


    Ich helfe ehrenamtlich in einer Flüchtlingsunterkunft und erlebe das Zusammentragen der Papiere, um Angehörige nachzuholen, dort sehr intensiv.
    Selbst wenn Studienplatz, Deutschkurs und Gastfamilie gefunden sind, scheitert es oft an einem Bürgen oder dem Einrichten eines Sparkontos. Die Versuchung, nach jedem Strohhalm zu greifen, ist groß.
    Menschenhändlern sind damit Tür und Tor geöffnet.


    Borrmann schafft es wieder einmal, ein brandanktuelles Thema aufzugreifen und darüber zu schreiben, ohne dass es aufgesetzt wirkt oder nur oberflächlich bleibt.

    Die eigentliche Geschichte aber bleibt unerzählt, denn ihre wahre Sprache könnte nur die Sprachlosigkeit sein. Natascha Wodin

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  • Zitat

    Original von Zwergin
    Mich hat das Buch auch von der ersten Seite an gefesselt, ich kann gar nicht sagen, welcher Handlungsstrang mich am meisten berührt, sie sind alle fesselnd und erschütternd, das Leiden der jungen Mädchen, die so voller Hoffnung nach Deutschland gekommen sind, genauso wie der Bericht von Walentyna über die Repressalien in der Sowjetunion.
    Auch die beiden Männer Matthias und Leonid sind mir direkt sympathisch.
    Leonid ist wohl auf eigene Faust nach Deutschland gereist, um weiter nach den Mädchen zu suchen, da er zu Hause ja suspendiert wurde, nachdem er erste Ermittlungserfolge verbuchen konnte.


    :write
    Mir geht es genauso. Das ist mein erstes Buch der Autorin und es fällt mir schwer, es aus der Hand zu legen. Abgesehen davon, dass mich das Schicksal von Walentyna, ihrer Tochter, aber auch allen anderen sehr berührt, finde ich die Mischung der einzelnen Perspektiven sehr gelungen. Walentynas Erzählstrang wirkt dabei noch intensiver auf mich, was wahrscheinlich an der Erzählform im Präsens liegt. Ich fühle mich also auch von der Sprache sehr gefesselt.


    Ich habe übrigens "Baba Dunjas letzte Liebe" auch gelesen und natürlich musste ich sofort an sie denken. Allerdings finde ich die Beschreibungen hier viel erschütternder. Mechthild Borrmann vermittelt mir das Gefühl, dass sie sich mit dem Leben und den Menschen dort sehr intensiv beschäftigt hat. Das ist fast so, als würde man eine Reportage in Romanform lesen.