'Der geteilte Himmel' - Kapitel 01 - 09

  • Auch wenn nicht "Prolog" drüber steht, nimmt mich die dem ersten Kapitel vorangestellte Seite sofort mit. Ich rieche die Luft in der DDR-Chemiestadt, sehe den grauen Nebel, spüre die Beklemmung.
    Will ich wirklich schon wieder ein Stück DDR-Literatur lesen?
    Ich will.


    Ich überlege die ganze Zeit, welche Stadt der Handlungsort sein könnte. Ich dachte an Merseburg, vielleicht Halle, aber eher die erste. Vielleicht ist die Stadt aber auch fiktiv.
    Ist schon eine seltsame Beziehung, die Manfred und Rita da führen, beide auf ihre eigene Art gehemmt, beide trotzdem mit Erwartungen. Beiden hängt die Geschichte, ihre eigene bzw. die der Eltern im Nacken. Wie weit so etwas uns doch prägt...
    Besonders beklemmend muss es für M. sein. Er spricht von seinem "Lebenssarg" und meint das Elternhaus. Ich staune, wie Rita es dort aushält, aber wie viele andere Möglichkeiten hatten sie denn... Ich bin nicht sicher, wie es in den 60ern war, aber eine Wohnung zu bekommen, war nicht einfach.


    Hat sich Rita vor die Wagons fallen lassen oder wurde sie wirklich ohnmächtig? Das ist noch unklar. Ich halte beides für möglich.


    Mal schauen, wie es weiter geht.

  • Aber ist der Inbegriff der Chemie-Kloake in der DDR nicht eigentlich Bitterfeld? Mich erstaunte aber, dass überhaupt die Umweltverschmutzung erwähnt werden durfte ... und sie scheinbar schon in den 60ern spürbar war. So früh schon? Die Sprache des Buches empfinde ich derzeit noch als kleines Lesehindernis. Richtig vereinnahmt werde ich dadurch nicht, sondern eher ein klein wenig gelangweilt. Stumme Personen bzw. arg reduzierte oder passive Dialoge sind nicht mehr so ganz zeitgemäß. Überhaupt hatte ich bei Rita und Manfred eher das Gefühl, sie leben irgendwann im 19. Jahrhundert. Nach dem 20. Jahrhundert klingt das nur selten mit diesem verkrustet anständigem Verhalten. Im Westen gab es da doch schon ein wenig Flower Power, dies hier klingt aber eher nach Biedermeier und Bismarck. :gruebel


    Ich bin daher bei meinem ersten Eindruck ganz bei Clare:


    Zitat

    Original von Clare
    Mal schauen, wie es weiter geht.

  • Mir fällt der ktasse Unterschied zwischen Prolog und Kapitel 2 auf. Zuerst die Stadt mit ihren Fabrikschornsteinen, düster nicht nur wegen dem Rauch. Es wirkt bedrohlich und fordernd.
    Die ersten Sätze sind schon wirklich bemerkenswert.


    Dagegen ist das Dorf in Kap.2 fast eine Idylle, blauer Himmel, klare Morgenluft. Rita fühlt sich hier sicher und wohl, verständlich wenn es eine Heimat nach Flucht und Vertreibung Ende des Krieges bot.


    Was ich mich frage: wer erzählt hier eigentlich? Anscheinend ein Kollektiv. Ist das die Gesellschaft, gar der Staat? In Kapitel 2 sogar ein "Ich" aus diesem Kollektiv, nehme ich an.

  • Ich habe auch ein paar Kapitel gebraucht, um mich an die "altbackene" Sprache zu gewöhnen. Mittlerweile (ich bin jetzt kurz vorm Ende des ersten Abschnitts angekommen), finde ich sie stellenweise sogar sehr schön.


    Mein erster Gedanke war übrigens, wie trostlos das doch alles ist. Das Buch passt irgendwie zum Novemberwetter. Zwischendurch gibt es dann aber auch schöne Eindrücke. Ritas Beschreibung des Bildes in ihrem Sanatoriumszimmer beispielsweise, den schönen Himmel, den nur der Maler gesehen hat und nicht die Figuren auf dem Bild.

  • Laut Wikipedia:


    Die Erzählung, die von der neunzehnjährigen Rita Seidel und ihrem Freund Manfred Herrfurth handelt, spielt kurz vor dem Johannistag (24. Juni) des Jahres 1961, also kurz vor dem Mauerbau.
    Rita und Manfred, grundverschieden – sie vom Lande, er aus der Stadt, sie schwärmerisch, er technisch-rational –, begegnen sich beim Dorftanz und werden ein Paar. Sie leben dann gemeinsam bei seinen Eltern in Halle, Manfred arbeitet als Chemiker und Rita besucht das Lehrerseminar und arbeitet als Teil ihrer Ausbildung in einer Sozialistischen Brigade des Waggonbauwerks Ammendorf.

  • Zitat

    Original von xexos
    Stumme Personen bzw. arg reduzierte oder passive Dialoge sind nicht mehr so ganz zeitgemäß.


    Das Gefühl kann ich nachvollziehen bzw. teile es ein wenig. Tante Christa schwelgt in einem Stil, der heute gedatet wirkt.
    Auch wenn man mal einen Ausschnitt aus der gleichnamigen Verfilmung ansieht, das wirkt sehr bieder und wie aus vergangenen Zeiten. (die es ja auch sind)


    Ich bin ein Bewunderer von Christa Wolfs sehr autobiographischen Spätwerk “Stadt der Engel”, “Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert”, “Was bleibt”, “Leibhaftig”. Da ist dieses Gefühl des altmodischen Stils nie da, es wirkt zeitlos!

  • Das ist mein erstes Buch von Christa Wolf und in der DDR-Literatur bin ich auch nicht bewandert.
    Nach den ersten paar Sätzen war ich ein bisschen erschrocken ob der Sprachgewalt, so was finde ich auf die Dauer anstrengend, aber das hat sich glücklicherweise schnell gelegt :-].
    Die Geschichte lässt sich erstaunlich gut lesen. Ich hatte bisher einen ziemlichen Respekt vor Christa Wolf und ihren Werken (ohne auch nur eines zu kennen) und bin angenehm überrascht - und gefesselt.


    Mit der Sprache hab ich kein Problem. Vielleicht ist sie nicht mehr zeitgemäß, aber die Geschichte spielt in den 60er Jahren, mir scheint sie da recht gut zu passen und gerade die eigenwilligen Dialoge zwischen Rita und Manfred gefallen mir.


    Zitat

    Original von Clare
    Besonders beklemmend muss es für M. sein. Er spricht von seinem "Lebenssarg" und meint das Elternhaus.


    Diese Formulierung fand ich auch krass. Und dann geht es ja noch weiter: "Eingeteilt in Wohnsarg, Eßsarg, Schlafsarg, Kochsarg" :wow. Furchtbar!
    Am Ende des Abschnitts erfährt man dann auch wo diese Sichtweise und die melancholische Gleichgültigkeit Manfreds herrühren. Ob Rita ihn da nachhaltig rausholen kan? Ich fürchte eher nicht - und irgendetwas muss dann ja auch sie aus der Bahn geworfen haben.

  • Oh, ihr seid alle schon so weit.:wow
    Ich habe erst heute abend mit dem Lesen begonnen und bin so bei der Mitte des ersten Abschnittes.
    Für mich ist es auch das erste Buch von Christa Wolf welches ich lese. Ich hatte bis jetzt auch ein wenig Respekt vor ihrem Werk. Ich habe also auch keine Vergleichsmöglichkeiten zu ihren anderen Büchern.
    Am Anfang hatte ich etwas Probleme mit dem Stil und habe ein paar Seiten gebraucht, bis ich mich damit anfreunden konnte. Jetzt gefällt es mir eigentlich ganz gut. Auch wenn ich das Gefühl habe, das Buch nicht schnell lesen zu können und immer mal wieder Pausen einlegen muss. Altmodisch finde ich den Stil jetzt eigentlich nicht so, eher etwas distanziert.


    Zitat

    Original von Saiya


    Mein erster Gedanke war übrigens, wie trostlos das doch alles ist. Das Buch passt irgendwie zum Novemberwetter. Zwischendurch gibt es dann aber auch schöne Eindrücke. Ritas Beschreibung des Bildes in ihrem Sanatoriumszimmer beispielsweise, den schönen Himmel, den nur der Maler gesehen hat und nicht die Figuren auf dem Bild.


    Ich finde auch, dass das Buch perfekt für einen grauen Novembertag passt. Die Stimmung ist schon recht bedrückend. Mit Manfred und seiner Art kann ich mich noch gar nicht anfreunden.


    Was mir total gut gefallen hat war die Beschreibung des Zimmers, in dem die beiden dann wohnen und der Vergleich mit der Gondel einer riesigen Schaukel, die in der blauschwarzen Himmelskuppel festgemacht ist. ( bei mir ist das auf S. 25 ). Diese Sätze habe ich gleich mehrmals hintereinander gelesen, weil sie mir so gut gefallen haben. :-]

  • Die Sprache bzw. die Wortwahl ist mir auch nicht zu altmodisch. Distanziert und passiv und damit anders als modernere Literatur. Altmodisch empfinde ich eher das Verhalten der beiden. Das wunderte mich dann doch,. dass bei den beiden noch so ein antiquiertes Verhalten vorherrscht. Manni wohnt mit 30 noch zu Hause und für die unsterbliche Liebe reicht ein stummes Tänzchen, wobei Rita sehr unterwürfig ist.


    Interessant fand ich, wie selbstverständlich sie nach dem Tanz auf seinen Brief wartet. Und der trifft dann auch prompt nach ein paar Tagen ein. Da funktionieren noch die gesellschaftlichen Konventionen. :grin

  • Zitat

    Original von Saiya
    Ich habe auch ein paar Kapitel gebraucht, um mich an die "altbackene" Sprache zu gewöhnen. Mittlerweile (ich bin jetzt kurz vorm Ende des ersten Abschnitts angekommen), finde ich sie stellenweise sogar sehr schön.


    Mein erster Gedanke war übrigens, wie trostlos das doch alles ist. Das Buch passt irgendwie zum Novemberwetter. Zwischendurch gibt es dann aber auch schöne Eindrücke. Ritas Beschreibung des Bildes in ihrem Sanatoriumszimmer beispielsweise, den schönen Himmel, den nur der Maler gesehen hat und nicht die Figuren auf dem Bild.


    Ja, das ist wohl ein Novemberbuch, wie passend wir das ausgesucht haben...


    Rita ist für mich diejenige, die noch staunt, das Positive sieht und sehen will, den Optimismus, das Vorwärts, die noch nicht aufgibt und sich entwickeln will und sich entwickelt.

  • Zitat

    Original von xexos
    Aber ist der Inbegriff der Chemie-Kloake in der DDR nicht eigentlich Bitterfeld? Mich erstaunte aber, dass überhaupt die Umweltverschmutzung erwähnt werden durfte ... und sie scheinbar schon in den 60ern spürbar war. So früh schon? ...


    Glaub mir, Merseburg passt auch perfekt, so in der unmittelbaren Nähe von Leuna. Ich habe da mal studiert, eine Weile, zur DDR-Zeiten, und den Chemienebel, durch den man bei schlechter Wetterlage keine 10 Meter sehen konnte, kann ich noch heute riechen. Von der Größe passt Merseburg auch. Sie erwähnt doch irgendwo auch einen Dom, den Bitterfeld, wenn ich mich recht erinnere, nicht hat.


    Wenn ich mir überlege, was in Chemiebetrieben und Unis so alles durch den Ausguss weg kam...Es gab kein Bewusstsein für diese Umweltverschmutzung. Im Westen aber vielleicht auch nicht damals? Heute kann man sich das gar nicht mehr vorstellen.

  • Zitat

    Original von Rouge
    ...
    Was mir total gut gefallen hat war die Beschreibung des Zimmers, in dem die beiden dann wohnen und der Vergleich mit der Gondel einer riesigen Schaukel, die in der blauschwarzen Himmelskuppel festgemacht ist. ( bei mir ist das auf S. 25 ). Diese Sätze habe ich gleich mehrmals hintereinander gelesen, weil sie mir so gut gefallen haben. :-]


    Das mochte ich auch. Rita sieht so etwas, fühlt es, die Geborgenheit, die sie bei Manfred sucht und wohl auch findet.
    Und ich werde mit ihm auch nicht warm, genau wie du.

  • So, ich bin mit dem ersten Absatz auch durch. Gar nicht so einfach, aber mir gefällt das Buch. Die Sprache macht es einem nicht so leicht, in die Geschichte einzutauchen, sie ist halt schon sehr weit weg von der eigenen. Ich finde es auch nicht immer leicht, herauszufinden, aus welcher Perspektive erzählt wird. Die fehlenden Anführungsstriche bei wörtlicher Rede/Gedanken machen es auch nicht wirklich leichter.


    Man wird im ersten Kapitel ziemlich unvermittelt in die Geschichte hineingeschmissen. Rita liegt nach einem Arbeitsunfall im Krankenhaus. Aber war der Unfall wirklich ein Unfall? Wahrscheinlich nicht, selbst der Arzt scheint ja daran zu zweifeln und versucht, herauszubekommen, was die junge Frau so unglücklich macht. Also ein Selbstmordversuch?


    Die Beziehung zwischen Rita und Manfred ist ein wenig verwirrend. Sie ist ein eher lebensbejahender Mensch, scheint auch nicht unbedingt regimekritisch (ob es daran liegt, dass sie noch sehr jung ist, auf dem Dorf großgeworden ist und einfach noch keinen Grund dafür hat, oder ob sie wirklich überzeugt ist, kann ich noch nicht sagen). Manfred dagegen ist eher zynisch, lässt außer Rita scheinbar keinen an sich ran und ist geprägt von seinem Elternhaus und seiner Jugend in der NS-Zeit. Da merkt man die paar Jahre Altersunterschied zwischen den beiden deutlich. Dazu kommt der Vater, der ihm vor Augen führt, dass sich scheinbar jedes System so ausnutzen lässt, dass Menschen, die ausreichend skrupellos sind und ihren eigenen Vorteil (oder schäbige Rache - wie im Fall Meternagel) in den Vordergrund stellen, damit durchkommen. Und die Mutter ist ja auch eher Teil des Problems als Teil der Lösung.

  • Zitat

    Original von xexos
    Die Sprache bzw. die Wortwahl ist mir auch nicht zu altmodisch. Distanziert und passiv und damit anders als modernere Literatur. Altmodisch empfinde ich eher das Verhalten der beiden. Das wunderte mich dann doch,. dass bei den beiden noch so ein antiquiertes Verhalten vorherrscht. Manni wohnt mit 30 noch zu Hause und für die unsterbliche Liebe reicht ein stummes Tänzchen, wobei Rita sehr unterwürfig ist.


    Interessant fand ich, wie selbstverständlich sie nach dem Tanz auf seinen Brief wartet. Und der trifft dann auch prompt nach ein paar Tagen ein. Da funktionieren noch die gesellschaftlichen Konventionen. :grin


    Ich kenne mich in den Lebensverhältnissen der jungen Leute zur damaligen Zeit in der ehemaligen DDR nicht aus. Aber es verwundert mich nicht. Das war doch damals auch bei unseren Eltern noch so, dass man sich zum Tanztee traf und schaute, was passierte. :grin


    Warum Manfred noch zu Hause wohnt, habe ich mich allerdings auch gefragt. Er ist 30, mit dem Studium und der Doktorarbeit fertig und hat, wenn ich das richtig gelesen habe, eine gute Anstellung. Oder reichte der Verdienst damals nicht für eine eigene Wohnung aus? Gab es überhaupt welche, wurden sie zugeteilt?


    Ich finde Manfred als Figur übrigens viel spannender als Rita. Rita ist jung, hat den Krieg und den Verlust des Vaters und der Heimat als kleines Mädchen erlebt und hatte dazu eine liebende Mutter und bei der Tante ein Zuhause. Ich glaube, dass es ihr vor allem emotional - bis auf den fehlenden Vater - an nichts gefehlt hat. Deshalb sieht die Welt um sich herum auch mit viel "bunteren" Augen (manchmal etwas naiv) als Manfred.


    Manfred steht doch für viele Kriegskinder, die zu jung sind, um verantwortlich zu sein, die erschütternd feststellen und damit leben müssen, dass ihre eigenen Eltern das Nazi-Regime unterstützt haben oder sogar SS-Mitglied waren. Hinzu kommt, die lieblose egoistische Art und Weise, in der er großgezogen wurde. Seine Wut und seinen Zynismus kann ich sehr gut nachvollziehen. Dass er nicht, der strahlende gute Mann ist, den Rita sich wünscht, der sich um sie kümmert und evtl. sogar den viel zu früh verstorbenen Vater ein wenig ersetzt, dürfte klar sein. Das kann er ja gar nicht. Im Prinzip ist er doch genauso traumatisiert, wie viele, junge Menschen, die den Krieg erleben mussten. Dass er sich aber in seiner "Schwarz-Weiß-Tristesse" zu Rita hingezogen fühlt und sie als Lichtblick empfindet, finde ich logisch. Dass er sie in all seinen Ängsten und dem Gefühl vom Umfeld erdrückt zu werden, irgendwann verlässt, aber auch.


    Ich finde es sehr interessant, das Christa Wolf dieses Thema hier 1973 schon aufgegriffen hat.

  • Zitat

    Original von Saiya
    Warum Manfred noch zu Hause wohnt, habe ich mich allerdings auch gefragt. Er ist 30, mit dem Studium und der Doktorarbeit fertig und hat, wenn ich das richtig gelesen habe, eine gute Anstellung. Oder reichte der Verdienst damals nicht für eine eigene Wohnung aus? Gab es überhaupt welche, wurden sie zugeteilt?


    Es gab da wohl schon eine arge Wohnungsnot. Auch aus diesem Grund wurde in der DDR ja recht früh geheiratet, um dann eine größere Chance auf die Zuteilung einer gemeinsamen Wohnung zu haben.

  • Zitat

    Original von xexos


    Es gab da wohl schon eine arge Wohnungsnot. Auch aus diesem Grund wurde in der DDR ja recht früh geheiratet, um dann eine größere Chance auf die Zuteilung einer gemeinsamen Wohnung zu haben.


    Das kenne ich natürlich aus der neueren Geschichte der DDR. Ich frage mich beim Lesen deshalb oft, ob das auch zu Beginn des Regimes, also nach dem Krieg und vor dem Mauerbau schon so war.