Was mich gleich zu Beginn irritiert hat, ist die Bemerkung, daß der Gräfin Viktoria ihr Kleid so eng geschnitten ist. Mich hat nun Mode noch nie sonderlich interessiert noch hätte ich Wert darauf gelegt, aber durch meine Jane Austen Lektüre weiß ich (zumindest für England), daß zu ihrer Zeit (also um 1800) die Kleider der Frauen noch relativ weit geschnitten waren, Korsetts wurden erst später Mode.
Alina schafft es also in der Tat zu fliehen - das hätte ich ihr gar nicht zugetraut. Und Matteo ergreift die Gelegenheit beim Schopf, sich gesellschaftlich - ohne Arbeit versteht sich - zu etablieren und ein paar Stufen empor zu steigen. Er will sogar den Segen ihrer Eltern haben und setzt ganz auf seinen Charme. Bei der Gräfin hätte er wohl auf Granit gebissen, aber muß dem eigentlich alles gelingen? Probleme, also richtige Probleme, wird er wohl erst bekommen, wenn er tatsächlich versucht, die Gebäude des Grafen zu bauen - ohne Francesco im Hintergrund.
Für Zoja gab es mMn eigentlich nur zwei Möglichkeiten: entweder sie gibt sich völlig auf, siecht eine unbekannte Zeit dahin und stirbt - oder es gibt einen „Vulkanausbruch“. Letzteres passiert und Micail erhält seine verdiente Strafe. Und die Gräfin, die in ihrer Wut Zoja erschlagen will, gleich dazu. Und damit erhält Matteo freie Bahn. Manchen gelingt einfach alles...
Bleibt nur zu hoffen, daß Zoja nun ein besseres Leben bevorsteht.
Francesco heiratet schließlich doch noch Chiara, auch wenn diese immer noch Matteo nachtrauert. Mit seinem Tod habe ich, ehrlich gesagt, überhaupt nicht gerechnet. Und - das sei offen vermerkt - der brachte für mich auch einen düsteren Schatten über das Buch. Marion Zimmer Bradley hat einmal zum Tod einer Hauptfigur in ihrem Darkoverbuch „Hasturs Erbe“ geschrieben, das sei ihr größter Fehler in den Darkover-Büchern gewesen. An diese Äußerung mußte ich denken, als Francesco starb, denn es erschien mir falsch.
Sein Tod zieht den von Chiara nach sich, und das Kind ist ganz alleine auf der Welt. Was für ein Glück, daß Kostja sich seiner annimmt. Der wird den Jungen schon groß ziehen können.
Mir war nicht bewußt, daß schon unter Zar Peter die Methode der „verbrannten Erde“ angewandt wurde. Wie ich auch überrascht war (in diesem Teil der Historie kenne ich mich erschütternd wenig aus), daß Schweden tatsächlich dachte, Rußland unter seine Kontrolle bringen zu können. Das mußte scheitern - man muß sich nur mal die Landkarte ansehen. Aber das taten später auch Napoleon und ein gewisser Hitler nicht. Ergebnis ist bekannt.
Wenigstens hat sich Helenas Warten, auch wenn sie am Ende auf Drängen ihrer Eltern aufgegeben hatte, gelohnt und Erik erscheint gerade noch rechtzeitig. Die Szene, in der sie mit ihm bei ihren Eltern aufkreuzt, hätte mich interessiert, das war sicher ... interessant. Immerhin ist diesen beiden ein Happy End gegönnt, sonst wäre das Buch für meine Begriffe allerdings auch zu düster zu Ende gegangen.
Willem erkennt, was er für einen Fehler gemacht hat. Am Ende des letzten Kapitels heißt es, er will es bei Paula versuchen. Im Epilog steht als Aussage des Zaren auf Seite 501, daß Dr. Albrecht seine Töchter hervorragend verheiratet habe. Auf Seite 507 ist jedoch von Willem bzw. einem Ehemann von Paula keine Rede. Ich will mal hoffen, daß Willem sich beim Rundblick des Zaren nur gerade gebückt hatte, so daß der ihn nicht sehen konnte.
Der Zar ist eine widersprüchliche Persönlichkeit. Einerseits ganz Kind seiner Zeit und Tradition (Peitsche und Knute), andererseits (für seine Zeit) hochmodern. Der Umgang mit ihm muß schwierig gewesen sein. Jedenfalls eine schillernde Person, mit der ich mich sicher noch einmal näher befassen werde.
Insgesamt hat mir das Buch gut gefallen. Wie im letzten Abschnitt erwähnt, hätte es gut und gerne mindestens 200 Seiten mehr vertragen, denn so erschien es bisweilen etwas „einzelszenenhaft“, das ist aber Meckern auf hohem Niveau. Im letzten Abschnitt hatte ich das Gefühl übrigens nicht, der erscheint mir wie aus einem Guß.
Was mich immer noch erstaunt (und die Bewunderung für die Menschen damals um so größer werden läßt) ist, daß sie es geschafft haben, diese Stadt in sumpfigem Gelände zu erbauen. Ich entsinne mich, als vor Jahren bei Hanau die BAB 66 Richtung Frankfurt neu gebaut wurde - das gab ziemliche Probleme wegen sumpfigem Gelände. Ich weiß nicht mehr wie, aber es war nicht einfach, die zu lösen. Wie viel weniger technische Mittel hatten die Menschen damals!
ZitatOriginal von Lumos
Auch diese Szene fand ich großartig erzählt. Und ein wirklich kluger dramaturgischer Schachzug für mein Empfinden. Alle Figuren können in einem so aufgebauten Roman nicht überleben, das würde irgendwie die Glaubwürdigkeit nehmen.
Es gibt Romane, in denen das so ist. Hier war es zu befürchten, dennoch kam es mit Francesco für mich völlig unerwartet und unfair (aber wer hat gesagt, daß das Leben fair sei?). In dem Roman, den ich jetzt zu lesen beginne, wird in dritten Band (von vieren) auch eine der Hauptpersonen sterben (da ich das Buch zum zweiten Mal lese, weiß ich das schon), aber dort ist das zum Einen situationsbedingt abzusehen und ergibt sich zweitens fast schon zwangsläufig aus dem geschilderten Kriegsverlauf (2. Weltkrieg), so daß ich (als Leser) mit dem Tod dort „meinen Frieden“ schließen konnte, hier ist das - zumindest bisher - nicht der Fall.
ZitatOriginal von Tina
Ich werde eher keinen Roman schreiben, in dem am Ende alles auserzählt ist. Ich lasse gern Raum für die Frage, ist das nun ein Happy End oder nicht?
So gesehen wundert es mich, daß ich die Bücher, die ich bisher von Dir gelesen habe, alle mochte. Denn so ein Ende ist die beste Voraussetzung dafür, daß mir ein Buch nicht gefällt. Und ich möglicherweise sogar nie mehr ein Buch eines Autors (bzw. -in) lesen werde. In anderem Zusammenhang habe ich einmal geschrieben, daß ein Buch (bzw. genauer die darin erzählte Geschichte) für mich einen Anfang, eine Mitte und ein Ende haben muß. Wenn das Ende fehlt (und ein offenes Ende ist für mich ein fehlendes Ende), fühle ich mich, um es hart auszudrücken, um einen Teil der Geschichte betrogen. In einem Mehrteiler ist es klar, daß es am Ende der ersten Bände mehr oder weniger viele offene Enden gibt, im letzten Band jedoch sollten alle Fäden verknüpft und die Geschichte hinreichend auserzählt sein.
Um aber nicht mit einer Kritik zu enden: ich habe einige von Tinas Romanen gelesen, dieser hier - wie formuliere ich das jetzt diplomatisch, wenn mir Diplomatie nicht liegt? - erscheint mir aber von allen, ohne daß ich das rational begründen könnte, als der stilistisch am meisten entwickelte. Relativ bald beim Lesen hatte ich das Gefühl, daß sich der Verlagswechsel (und damit vermutlich auch Lektoratswechsel) gelohnt und dem Buch gut getan hat. Ich empfinde den Schreibstil wesentlich „runder“ und (für mich) besser und flüssiger lesbar als etwa in der Wolga-Trilogie. Ich habe es gerne „ausufernd“ in Büchern, diesem meinem Lesebedürfnis hat das Buch weitgehend entsprochen. Wie gesagt, ich kann es weder rational begründen noch an irgend etwas genau festmachen. Aber ich analysiere einen Stil beim Lesen ohnehin nicht, sondern warte ab, wie das Gelesene auf mich wirkt. Und das tat es hier sehr gut.