Beiträge von Buecherturm

    Per aspera ad astra

    Das Buch hat mich beeindruckt. Zuerst fühlte es sich wie ein Coming-Of-Age doch steckt viel mehr dahinter. Ein Mädchen, das einem Lehrer ins Gesicht schlägt, oder das Haushaltsgeld entwendet, um ihre Gesangsstudien zu bezahlen, stundenlang tagtäglich vor einem Gebäude steht in der Hoffnung im Chor mitsingen zu dürfen, bis sie tatsächlich ihr Ziel erreicht. Ihre Beharrlichkeit ist bewundernswert. Wenn sie von einem Jungen angegriffen wird,der zu “den Jungs mit geschwollenen Kehlköpfen” 8s. 151) gehört, sehen Mädchen aus Molls Klasse tatenlos zu, lassen sie allein, drehen sich weg. Doch Moll kann sich wehren und schlägt zurück. Moll weigert sich mitzusingen, als der Chorleiter einen Jungen wegen seiner Leibesfülle mobbt.

    Molls Weigerung den Verlust ihrer Mutter anzuerkennen ist konstant, zieht sich wie ein roter Faden durch das Buch, bis wir erfahren, was eigentlich passiert war als “Mutter kurz weggegangen ist” (S. 168). Nun verstehen wir auch, wieso sie dem Lehrer eine blutige Nase verpasst hat

    Am schönsten fand ich die Idee, dass Ludvig van Beethoven eine Frau gewesen ist. Und nur die Nachwelt sich beharrlich weigert, diese Tatsache anzuerkennen.

    Kloeble versteht es meisterhaft, die Gestalten im Roman vor unseren Augen mit Leben zu füllen. Der Vater, der in seiner Trauer versinkt und seine Tochter vernachlässigt, findet erst allmählich und durch Moll zum Leben zurück, Molls Mutter, unangepasst, in der Dorfgemeinschaft immer aneckend, liebt ihre Tochter über alles. Bernhardina, die alte Frau, Molls einzige Freundin nach dem Weggang der Mutter, Lehrer und Bewohner aus der Schule. Die Jungen im Knabenchor, die drei Chorleiter, die in ihrer Art Moll fördern und unterstützen. Sie alle bewegen, handeln, reden in den Buchseiten, bilden dabei den Rahmen, in dem Arkadia Fink, genannt Moll, von ihrem Leben erzählt. Sie ist dreizehn Jahre alt, kennt den Schmerz, den kein Kind je erleben sollte, ist erfüllt von einer Musik, die nur sie hören kann, will unbedingt in einem berühmten Knabenchor mitsingen und schafft es auch. So wie sie sich die Welt zurecht deutet muss man ihr Recht geben. Moll akzeptiert kein Nein. Sie will im Knabenchor singen und setzt es durch. Wenn andere sie angreifen, setzt sie sich zur Wehr. Man sagt ihr, sie habe kaputte Ohren, nun, sie schafft dem direkt Abhilfe, auch wenn es nichts nützt. Noch kann sie mit ihren Gefühlen nicht umgehen, sie muss das erst lernen, ein langwieriger und schmerzhafter Prozess. Der Tiefgang, der dabei zu Tage tritt, ist berührend. Kein Kitsch, kein Pathos, einfach ein Mädchen mit der unstillbaren Sehnsucht nach der Mutter, allein gelassen, bekommt Hilfe von unerwarteter Seite. Wie es der Titel schon sagt, muss Moll sich durchkämpfen, allein durchkämpfen, bis sie endlich die Unterstützung erhält, die sie braucht, um nach den Sternen zu greifen.

    Die Sprache ist schlicht, doch voller Bilder, weckt unsere Neugier, der Leser will weiter und weiter lesen. Das Ende ist viel zu schnell da. Wir würden Arkadia, genannt Moll, zu gerne weiterhin begleiten, vielleicht nach Tokio, zu anderen Konzerten, hinaus ins weite Leben.


    ASIN/ISBN: 3608966579

    na ja, hast Du es schon gelesen, Herr Palomar? Der Mord geschieht zwar in der Gegenwart, aber die Ursachen und Gründe des Mordes reichen weit zurück in eine unrühmliche Zeit der Schweizer Geschichte. Damals hatten die Eidgenossen ein sehr ambivalentes Verhältnis zu dem NS Regime aus Berlin.

    Also, wie Du meinst, zeitgenössisch ist auch OK.

    Das Leben ist ein langes Heute (S. 236)

    Ein Titelbild wie ein Stillleben altflämischer Meister, wenn der Vogelkopf nicht aus dem Rahmen hängen würde, und dadurch stutzig macht. Die Handlung beginnt zunächst gradlinig: ein Junge entdeckt in einem winterlich zugefrorenen See beim Eislaufen eine Leiche, ein Polizist bittet einen befreundeten Archivar auf den See hinaus zu gehen und die Meldung zu überprüfen und zu bestätigen, ob es sich tatsächlich um einen toten Menschen handelt. Ab jetzt teilt sich die Handlung in zwei parallel verlaufenden Strängen: einerseits der Archivar und sein Kreis, hauptsächlich bestehend aus Rosa, einer alten Frau die in einem Wohnwagen unweit des Ufers des Sees lebt, und dem Archivar Schibig selbst, mit Episoden artigen Auftritten anderer, wie da wären Boll oder die Tochter der alten Frau.

    Und andererseits Kern, reich, verheiratet mit Hanna, und Sohn der fast hundertjährigen Frau Kern-Kübler, die ihrerseits tief in die Machenschaften ihres Vaters verstrickt ist. Der Vater, einstiger Großbauer, hatte sich mit den Nazis aus dem Nachbarland eingelassen und kam so zu Reichtum und vermehrte den nach den Krieg weiter, hielt die Gesinnungsfahne hoch, verkehrte in den rechten Kreisen und seine Tochter ebenso. Kern selbst möchte das nicht, fühlt sich machtlos, sowohl der alles bestimmenden Mutter gegenüber als auch den gesellschaftlichen Kreisen, in denen er dank seiner Position verkehren muss.

    Wenn’s um Geld geht, hört die Neutralität auf. Die Schweiz hat sich ihre Neutralität schwer bezahlen lassen. Flüchtende Juden, denen in Deutschland der Tod drohte, mussten schweres Geld für sich und ihre Familienangehörigen zahlen, um aufgenommen zu werden. Die Investitionen der reichen Nazigrößen in der Schweiz wurden gerne und ohne Fragen angenommen und getätigt, wie auch die Gelder der Potentaten und Despoten nach dem zweiten Weltkrieg. Ceausescu hatte hier geheime Konten, Imelda und Ferdinand Marcos, Putin und seine Oligarchen, arabische Machthaber, Die Liste ist endlos. Banken und Wirtschaft sind eng miteinander verzahnt. Der Rubel muss rollen.

    Es ist diese unerwartete Offenlegung einer bisher totgeschwiegenen Vergangenheit und ihre Fortführung in der Gegenwart, die uns überrascht. Die Greisin hält die Zügel fest in der Hand, terrorisiert ihren Sohn und Schwiegertochter, lästert über ihre Pflegerin, doch es steckt viel mehr dahinter, sie hat finstere Pläne.

    Am Ende des Romans sagt Rosa zu Schibig: “- Und jetzt machst du ohne mich weiter, erfinde dich neu, lebe und liebe im Jetzt" (S. 326), um mit der Vergangenheit abzuschließen. “- Das Leben ist ein langes Heute. Und seine vielen Möglichkeiten sind das Schönste daran. Reise, Schibig, und verlieb dich, ja, verlieb dich! Das ist sowieso zu empfehlen, sooft und solange man nur kann,” (S. 326)

    Clavadetscher offenbart viel, indem sie es nicht ausspricht. Wir verfolgen teilweise den inneren Monolog einiger Gestalten, der manchmal Züge des Bewusstseinsstroms annimmt. Das erlaubt uns, näher an diese Personen zu kommen, sie besser zu verstehen.

    Die zwei Handlungsstränge vereinigen sich nicht wirklich im Roman. Es gibt ein paar punktuelle Berührungen, die uns das ganze Ausmaß des Ungesagten erahnen lassen, aber es gibt am Ende keinen großen gemeinsamen Fluss. Die Welten der Protagonisten sind zu verschieden, um zusammenkommen zu können, und das ist gut so.

    War und ist die Schweiz wirklich so neutral, wie sie immer tut?


    ASIN/ISBN: 3406836984

    In Skandinavien-Krimis kommt nie Langeweile auf

    Dieser Politthriller handelt von der Wahl in Norwegen. Aber für meinen Geschmack ist die Handlung ein wenig “too close to home”, solche Szenarien wären auch bei uns denkbar. Hüben wie drüben ist die Demokratie in Gefahr. (Danke AFD).

    Im Buch führen parallele Handlungsstränge dann zum Ende hin zusammen, alle Puzzleteile fallen an ihre richtigen Stellen und uns ergibt sich das ganze Bild.

    • Zuerst einmal der Wahlkampf der Arbeiterpartei, der kurz vor den Wahlen in die heiße Phase gerät und alle Bandagen fallen gelassen werden. Vorsitzender der Partei, seine Stellvertreterin, der juristische Berater, diverse andere Personen, die alle mitmischen, konzertiert oder auf eigene Faust.
    • Eine obskure Firma, die vorgibt, mittels KI die Trends der Wahlen bestimmen zu können, aber eigene Ziele verfolgt und die die Arbeiterpartei für eigene Zwecke manipuliert.
    • Im Hintergrund ermittelt die Anti-Terror-Einheit fieberhaft, weil sie Kenntnisse über einen Anschlag mit Rizin erhalten haben.(Rizin ist hochgiftig und wird aus der Rizinuspflanze extrahiert. In Deutschland ist die Rizinuspflanze nicht verboten und kann sogar gekauft werden, für etwa 5 Euro. Das nur so nebenbei bemerkt)
    • Zu guter Letzt die Terroristen, die vor nichts zurückschrecken, die das Rizin erst mal an ihren Opfern ausprobieren, eine schwangere Frau mit Explosiven bestückt in das Polizeipräsidium schicken, Menschen auf offener Straße erschießen. Alles nur um Norwegen von Ausländern zu befreien, die Rasse rein zu erhalten, und dergleichen hehre und selbstlose Ziele mehr.

    Das Buch ist ein richtiger Page-Turner, gespannt liest man bis zum Ende. Die einzelnen Kapitel sind nach der Anzahl der Tage bis zur Wahl genannt, so dass wir der Wahl und dem großen Anschlag entgegenfiebern. Dass die Anti-Terror-Ermittler buchstäblich in letzter Sekunde diesen verhindern können, erhöht die Spannung und hält die Leser bei der Stange. Gut gemacht.


    Fazit: Gut inszenierter Politthriller der sehr plausibel wirkt


    ASIN/ISBN:
    ISBN 9783426562680

    Ein Frettchen als Schmusetier

    Diese Frau war mir von Anfang an sympathisch. Dass sie ausgerechnet ein Frettchen als Haustier hat, macht sie noch sympathischer! Auch ihre witzigen Schlagabtausche mit ihren Mitmenschen lassen sie in meinen Augen steigen. Isabel Flores hat den Polizeidienst quittiert, ist Inhaberin einer Immobilienfirma auf Mallorca, kennt Gott und die Welt persönlich. Für einen Fall einer Kindesentführung wird sie inoffiziell von der Polizei wieder angeheuert. Dass sie das Kind wieder wohlbehalten ihrer Mutter übergeben kann und so nebenbei eine Serie von Morden restlos lösen kann, verdankt sie ihrer Intuition, Beobachtungs- und Kombinationsgabe. Geschickte Gesprächspartnerin, gelingt es ihr immer alle benötigten Informationen von ihrem Gegenüber zu erhalten.

    Eines der Pluspunkte des Buches ist die Beschreibung des mallorquinischen Essens. Ob es nur Aioli, Brot und marinierte grüne Oliven sind, oder Brot mit Olivenöl beträufelt, oder “dicke geröstete Brotscheiben bestrichen mit frischem Tomatenpüree und Olivenöl.” (S.220) oder Gebäckspezialitäten aus der Bäckerei,jedes Mal läuft mir das Wasser im Mund zusammen.

    Mit langatmigen Beschreibungen der Menschen, ihrer Gedanken, oder der Natur Mallorcas hält sich Anna Nicholas nicht auf. Das Buch besteht fast nur aus Action und Dialogen. und das schätze ich an diesem Krimi.


    Linear erzählter Krimi der im 17. Bundesland spielt und von der netten und sympathishen Polizistin zu einem guten Ende geführt wird.


    ASIN/ISBN:
    ISBN 9783257301137

    Die Liebe neu erfinden

    Bei allen Kriegshandlungen seit dem Krimkrieg Mitte des 19. Jahrhunderts kamen die todbringenden Minen zum Einsatz. Perfide Waffen, die nicht nur Soldaten, sondern auch Zivilisten gnadenlos töten. In Claire Deyas Buch begleiten wir eine Minenräumtruppe bei ihrer schrecklichen und gefährlichen Arbeit. Keiner von ihnen hat dafür je irgendeine Ausbildung erhalten. "Learning by doing” ist die Devise. Es sind lauter Laien, die aus diversen Gründen sich haben anheuern lassen, diesem Krieg nach dem Krieg beizutreten. Bessere Bezahlung, mehr Bezugsscheine, sind für diejenigen, die Familien mit Kindern oder die Eltern unterstützen, mit ein Grund, sich da anwerben zu lassen.

    Fabien ist der Anführer der Gruppe. Ein ehemaliger Résistancekämpfer, bemüht er sich nun aus den vereinzelten Mitgliedern seines Kommandos ein Team zu bilden, sie zu einer richtigen Truppe zusammenzuschweißen. Denn das Leben aller hängt davon ab, wie gut sie kooperieren können, wie gut sie aufeinander eingehen können. Wer im Alleingang Minen räumen will stirbt und reißt andere mit in den Tod. Er weiß, dass Odette, seine Frau von den Deutschen getötet wurde, er hat außer seinem Leben hier nichts mehr zu verlieren.

    Vincent, Arzt, deutscher Kriegsgefangener, bricht aus dem Lager aus und schafft es in den letzten Kriegstagen bis an die Cote d’Azur zu kommen. Er sucht verzweifelt nach der Frau, die er liebt, Ariane, die aber seit zwei Jahren verschollen ist. Um sie zu finden, bleibt er nicht in Marseille, sondern zieht nach Hyéres und beginnt Minen zu räumen, weil hier auch deutsche Häftlinge, ehemalige Besatzer, arbeiten. Es sind Häftlinge die vielleicht Ariane während des Krieges gekannt haben.

    Lukas ist Kriegsgefangener der Franzosen. Dabei liebt er Frankreich, die französische Sprache und die Kultur. Aber der Hass, der ihm und seinen Mithäftlingen seitens der Bevölkerung entgegen schlägt, ist enorm. Einen deutschen Gefangenen zu töten, ist “nachträgliche Notwehr” (S. 117). Den Deutschen soll nun das widerfahren, was sie so lange den Franzosen angetan hatten: “... so wie die Deutschen gelyncht hatten, wie sie massakriert, aufgehängt, niedergeschossen, vergewaltigt, abgefackelt, exekutiert, terrorisiert und gefoltert hatten. Endlich! Es war an der Zeit, dass sie dafür bezahlten” (S. 116 - 117)

    Vincent und Fabien sind die einzigen, die dazwischen gehen als ein französischer Bauer auf Lukkas einschlägt und ihn retten. Dabei sind die deutschen Kriegsgefangenen lebenswichtig. Sie müssen nach dem Räumen das Feld systematisch begehen, den sicheren Tod vor Augen, falls eine Mine doch übersehen wurde.

    Im Roman gibt es auch Frauengestalten, die in ihrer Art Licht ins desolate, dunkle Dasein der Männer bringen. Ariane, die Geliebte und Gesuchte, die verschollen bleibt, Odette, tot und unvergessen. Und da, in Hyéres gibt es Lena, die Café Besitzerin mit dem Herz am rechten Fleck, die sich Fabiens annimmt, und Saskia, aus einem deutschen Vernichtungslager zurückgekehrt, ihr Elternhaus von Fremden bewohnt, ihre Eltern und Schwester in Deutschland vergast und getötet, sie steht buchstäblich vor dem Nichts. Vincent rettet sie, bringt sie zu sich nach Hause, lässt sie da wohnen, ohne von ihr das Geringste zu verlangen oder erwarten.. Saskia fragt sich, wieso und wer ihre Familie bei den Deutschen denunziert haben könnte. Und was sind die Gründe dafür? “Aus Eifersucht, aus Rache oder um sich ein Geschäft unter den Nagel zu reißen? Vielleicht sogar aus keinem besonderen Grund, nur aus Gewissenlosigkeit, aus Freude am Verrat, um sich endlich einmal allmächtig zu fühlen?” (S. 162) Nicht einmal die Behörden wollen Saskia helfen. Die Familie, die ihr Haus besetzt hat, zählt zu den ehemaligen Kollaborateuren, es wurde ihr zwar der Prozess gemacht, aber es gelang ihr, die nötigen Persilscheine vorzuweisen und steht nun, nach dem Krieg, ebenso gut da wie während der deutschen Besatzung. Erst als Saskia und Vincent den Brief finden, der Saskias Familie denunziert hatte, findet sie heraus, wer so viel Leid und Not über Saskia heraufbeschworen hatte. Und auch, weshalb er dies getan hat. Er wollte nicht, dass sein Sohn Saskia heiratete, denn sie waren verlobt. Vincent stattet dem ehrenwerten Monsieur Jean-Robert Delambre-Rebattet einen Besuch ab und zwingt ihn, Saskias Haus von den unrechtmäßigen Besatzern zu befreien.

    Vincent findet Ariane, mit Hilfe Fabiens und Lukas’. Aber Ariane hat sich im Krieg verändert. Sie lebt in Italien, in einem Dorf, das nur aus Frauen zu bestehen scheint, ihre Liebe zu Vincent hat sich verändert und ist geschwisterlicher Zuneigung gewichen. “Sie beide [Ariane und Vincent] hatten nicht den Krieg überlebt, um der Tragödie weitere Akte hinzuzufügen. Das Chaos, das sie durchlebt hatten, musste wenigstens für eines gut sein: Größe zu zeigen, indem sie Rimbauds Aufforderung folgten und die Liebe neu erfanden” (S. 426)


    Wenn der Krieg nach dem Friedensschluss weitergeht, um den Frieden zu sichern, was dann?


    ASIN/ISBN: 3458644903

    Mörderinnen? Opfer der Umstände?

    Das Buch beginnt für Evie, die junge Nachhilfelehrerin, mit einem Albtraum. Zuerst findet sie ihre Arbeitgeber ermordet im Garten vor, danach entdeckt sie im Haus eine gefesselte junge Frau. Als die Tochter des Hauses Evie schreiend angreift, wehrt sich Evie und tötet dabei das Mädchen. Was für Evie eine schreckliche Lage ist, ist für uns, die Leser, eine sehr spannende Ausgangssituation.

    Es beginnt eine rasante Flucht, kreuz und quer durch die USA und nach Kanada. Sie versuchen möglichst unter dem Radar zu bleiben, werden aber immer wieder entdeckt und müssen weiter fliehen. Empörend fand ich, dass die Männer, die die beiden jungen Frauen entdeckten, sich danach vor Polizei und Presse als Opfer aufspielten, zahlreiche Interviews in dieser Rolle gaben. Die Nachrichtensender griffen diese gefakten Geschichten auf, bauschten sie auf, machten aus der Mücke nicht einen Elefanten, sondern gleich eine ganze Elefantenherde. Das ganze Land blies zum großen Halali, zur Hetzjagd auf “Bonnie und Bonnie”.

    Evie wird zuerst verhaftet, in Kanada, wo sie eigentlich kein Verbrechen begangen hat. Sie wird in die USA überstellt, wo sich gleich mehrere Bundesstaaten um sie bemühen. Es geht soweit, der Gouverneur von Kalifornien will Evie eine lebenslange Haftstrafe verdonnern noch vor der Beginn der Verhandlung und der Gouverneur von Florida antwortet tags darauf: “Keine Sorge, mein Freund. Wenn ihr sie in eurem Staat nicht umbringen dürft, machen wir das.” (S. 362-363) Dies alles bevor Evie angehört wurde, bevor ein Gericht sie für schuldig befunden hatt. Diese Vorverurteilung ist entsetzlich. Verhöre, Haft, erneut Verhöre, Isolation in der Haft, Evie erträgt alles stoisch und sagt kein Wort über Jae. Auch nachdem sich Jae gestellt hat und sämtliche Verbrechen auf sich genommen hat, ist Evie Gordon in den Augen der Öffentlichkeit immer noch schuldig.

    Nach ihrer Entlassung aus dem Gefängnis geht die Hetze weiter: “In den ersten drei Wochen fanden auf der Straße vor dem Haus Demonstrationen statt. Wenn man einmal einen Mob geschaffen hat, wird man ihn nur schwer wieder los. Der Hass auf mich war zur Religion geworden: Vielen Menschen schenkte er eine Aufgabe und ein Gefühl, einer Gemeinschaft anzugehören, sogar Freundschaften entstanden - vielleicht sogar Romanzen. Ich bin sicher, dass einige Affären mir zu verdanken waren, zum Beispiel wenn ein Verfechter von #EvieDidIt, ein deprimierter, einsamer Blödmann, seiner wund gerubbelten rechten Hand überdrüssig, seinesgleichen vor meinem Haus begegnete.” (S.377). Nach einem Monat kampierten nur noch fünf Demonstranten vor Evies Haus, lauter Anhänger der evangelikalen Kirche, die dann letztlich auch aufgaben. Evie konnte nirgends Arbeit finden, das angefangene Studium musste sie aufgeben, als bekannt wurde, wer sie ist.

    Im letzten Teil wird das Ganze abwechselnd aus Evies und Jaes Perspektive erzählt, kommentiert und interpretiert, das fand ich auch interessant. Zwei Blickwinkel und doch so ähnlich in manchen Punkten.

    Der Thriller lebt von rasanten Fluchten, Niederschlagen von Männern, die sie erkannt haben und daraus Kapital schlagen wollen, unglaublichen Überlebensstrategien (leerstehende Häuser, Bankrott gegangene Möbelläden, Baumärkten, Motels, usw. und der Liebesgeschichte zwischen den beiden Protagonistinnen, Evie und Jae. Aber irgendwann wird es etwas langatmig, die Verschnaufpause für die beiden Frauen und implizite für uns, die Leserschaft, ist etwas zu lang. Doch dann bringt eine erneute Flucht wieder Energie in das Geschehen.


    Fazit: Zwei intelligente Frauen auf einen wilden und manchmal bizarren Roadtrip


    ASIN/ISBN:
    ISBN9783471360873

    Türen, die sich öffnen und schließen, sich drehen und wenden, neue Perspektiven eröffnen.


    Unglaublich stimmungsvoller Roman. Ob im kolonialen Südostasien der 20er Jahre oder in Südafrika Mitte des 20. Jahrhundert, Tan Twan Eng fängt die Atmosphäre wunderbar filigran ein, zeigt uns eine längst untergegangene Welt voller Exotik und Schönheit.

    Es ist auch eine Welt voller Schmerz und Tränen. Persönlicher Schmerz, Menschen die von den Konventionen der Zeit gezwungen, in lieblosen Ehen gefangen sind. “Schweigend saßen wir da und verbargen unsere wahren Gedanken. Das, was eine Ehe aufrecht erhielt, was sie Jahr für Jahr weiter bestehen ließ, waren die Dinge, die unausgesprochen blieben, die Wahrheiten, die wir so gern offenbart hätten, aber hinunterschluckten, zurückdrängten in die tiefsten, dunkelsten Winkel unserer Herzen.” (S. 296)

    Aber auch der soziale Schmerz der Kolonialzeit kommt zur Sprache. Die Briten fühlen und führen sich wie die Herren auf, alles muss ihnen unterstehen. Und die Sultanate Malaysias, die nicht von Briten besetzt sind, müssen britische Berater dulden.

    Eine historische Person ist Ethel Proudlock, deren Geschichte damals, 1910 die Politik bewegte: Eine weiße Frau erschießt ihren Liebhaber, wird von einem englischen Gericht in Kuala Lumpur zum Tode verurteilt, doch der Sultan begnadigt sie, mit der Bedingung, das Land sofort zu verlassen. Die Kolonialzeit hat seltsame Blüten getrieben. Der Sultan darf die Frau zwar begnadigen, aber nicht über sie richten. Die Geschichte ist vielleicht auch deshalb von Bedeutung, weil ein berühmter englischer Schriftsteller sie literarisch verarbeitete.

    Wir erfahren etwas aus dem Leben des britischen Schriftstellers William Somerset Maugham, der auf seinen ausgedehnten Reisen in Südostasien auch in Malaysien einige Zeit verbracht hat. Mit ihm beginnt auch der Roman, genauer gesagt, mit einem Ausspruch von ihm: “Eine Geschichte kann einen Namen über die Wolken, ja über die Zeit hinaustragen wie ein Vogel der Berge”.

    Eine andere verbriefte historische Persönlichkeit im Roman ist Dr. Sun Yat Sen, der sich nichts geringeres als Lebensziel gesetzt hatte, als den chinesischen Kaiser zu stürzen und wurde erster provisorischer Präsident Chinas. Während seiner Zeit als Revolutionär und von den chinesischen Machthabern verfolgt, hielt Sun Yat Sen vor den in Malaysia ansässigen Chinesen etliche Vorträge, getarnt als Vorlesungen über chinesische Literatur, hauptsächlich über “Geschichten über Rebellionen und Verschwörungen zum Sturz von Kaisern” (S. 135). sozusagen ein Wink mit dem Zaunpfahl, gegen den jedoch die chinesische Botschaft nichts einwenden konnte.

    Das Buch ist in Ich-Form geschrieben. Leslie Hamlyn erzählt von ihrem Leben in Penang, im Kasuar Haus, von ihrer zunehmend lieblosen Ehe mit dem Rechtsanwalt Robert Hamlyn, von ihrer Liebe zu dem Chinesen Dr. Arthur Loh, einem Freund und Unterstützer von Sun Yat Sen.

    Die Häuser spielen im Roman eine große Rolle. einmal das Kasuar Haus in dem Leslie mit ihrer Familie wohnt, umgeben von einem großen Garten, eine Veranda, die zum Verweilen einlädt, Gästezimmer für Somerset Maugham und seinem Sekretär und Liebhaber, die Kinderzimmer, Wohnzimmer, Frühstückszimmer, kurz, allen Annehmlichkeiten eines englischen Landhauses in Fernost. Oder, mein Favorit, das Haus der Türen von Arthur Loh. An den Wänden und in den großen Räumen hängen alte Holztüren von Tempeln oder alten Häusern. “Langsam drehten sich die Türen in der Luft wie im leichten Wind um sich selbst trudelnde Blätter, endlos fallend, nie die Erde berührend.” (S. 211)

    Unglaublich schöne Sprachbilder (gekonnt übersetzt von Michaela Grabinger) nehmen die Leser gefangen, lassen sie innehalten und das Gesagte visualisieren: “Libellen mit Buntglasflügeln steppten unsichtbare Nähte in die Luft.” (S. 290). Eines der schönsten Bilder ist die Szene im Meer: “Das Wasser war warm wie Blut…Als ich mich umdrehte, waren das Haus und der Strand in einer Falte der Nacht verschwunden… Plötzlich schwammen wir im kobaltblauem Feuer, und jeder Beinschlag, jede Armbewegung entzündete die ringsum wirbelnden Planktonstürme. Mein Lachen zerriss die lautlose, windstille Nacht, und Willie stimmte ein. Wir tauchten die Köpfe in das flackernde Meer, und wenn wir sie wieder nach oben brachten, spritzte Feuer von unseren Lippen… Ich schöpfte das Meer mit den Händen und staunte über die Feuerschlangen, die sich an meinen Armen hinunterwanden. Wir grinsten uns voller alberner, kindlicher Freude an. Unsere nackten Körper waren im Wasser zu sehen, doch wofür hätten wir uns schämen sollen? Wir waren ja nur zwei in Bernstein eingeschlossene Insekten.” (s. 307-308).

    “In dieser Nacht glitten wir Seite an Seite zwischen den Seesterngalaxien dahin, während hoch über uns die Asterisken aus Licht die Fußnoten auf der Seite der Ewigkeit kennzeichneten.” (S. 309).

    Es sind diese Bilder, die zusammen mit den behandelten Themen das Buch unvergesslich für mich machen.


    ASIN/ISBN:
    ISBN 978375580018-7 [buch]

    Geballtes und kompaktes Wissen in einem Comic

    Zugegeben, es war riskant, solch ein in die Tiefe gehendes Sachbuch in einen Comic zu pressen. Aber mir scheint, die Autoren haben die Aufgabe bravourös bewältigt.

    Der Aufbau ist ein gelungener Mix aus gegenwärtiger Forschung, dargestellt von dem Autorenpaar Cline und Fawkes, beginnend mit den Archäologen und Geschichtswissenschaftlern, die seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis heute im ganzen vorderen Orient an der Thematik arbeiten einerseits und andererseits die zwei jungen Zeitgenossen der Bronzezeit Pel und Schescha, die uns, die Leser, aufmerksam und voller Fakten durch die Jahrhunderte begleiten. Im ganzen Buch werden keine Behauptungen aufgestellt, die nicht durch Ausgrabungen oder Tontafeln oder andere Belege untermauert werden. Was in ägyptischen Inschriften dargestellt wird, wird mit hethitischen, sumerischen, ugaritischen, mykenischen, hebräischen,usw. Texten verglichen und “ins Kreuzverhör" genommen.

    Ich kannte die Problematik der exakten Kartierung und Datierung des Troja des Priamos schon und fand es hier im Comic wieder bestätigt. Die Wissenschaft ist sich bis heute nicht einig, welche der vielen Schichten des antiken Troja die Schicht des großen Krieges war.

    Die weit verzweigten und intensiven Handelsbeziehungen rings um das Mittelmeer der Bronzezeit waren für unser heutiges Verständnis unglaublich. Ohne Kompass, ohne Sextanten, ja, sogar ohne GPS (!) wurden alle Häfen rings ums Mittelmeer und darüber hinaus angesteuert und reger Handel getrieben.

    Etwas anderes fiel mir auf:die alten Griechen nannten alle, die nicht in einer griechischen Polis geboren waren, “Barbaren”, unzivilisierte Fremde. Und genau das sind aber die griechischen Stämme, alle “Seevölker von den Inseln” für die Ägypter.

    Ein Verzeichnis der im Buch genannten Herrscher und Herrscherinnen mit kurzen Angaben zur Regierungszeit und Land sowie zweier Zeittafeln ergänzen das Buch. Die eine Zeittafel widmet sich dem Altertum, die andere zeigt chronologisch die Abfolge der archäologischen Entdeckungen. Wobei ich bei der zweiten Tafel vielleicht mit Champollion und dem Stein von Rosetta begonnen hätte.

    Ein neuer Blick auf eine bewegte Geschichte der Menschheit rund ums Mittelmeer


    ASIN/ISBN: 3534610547

    Edit: ISBN korrekt eingesetzt, damit das Cover angezeigt wird. Gruß Herr Palomar

    Ein Augen öffnendes Buch


    Tuberkulose ist seit Anbeginn der Menschheit eine Krankheit mit tödlichem Verlauf. Im 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts dachte man, nur Weiße können daran erkranken, alle anderen Menschen, ob Schwarze, Asiaten oder Indigene können gar nicht daran erkranken,w eil sie zu dumm und ungebildet dafür seien. Tuberkulose wird nur durchgeistigte Menschen befallen, wie z.B. Frederic Chopin oder John Keats und Percy Shelley. Die Krankheit wurde romantisiert, “das Bild der geläuterten Erscheinung, des blühenden Geistes, während der Körper welkt” (S. 66).

    Doch dann, mit der einsetzenden industriellen Revolution, als die Städte rasant anstiegen und die Tuberkulose in den Armenvierteln der Städte grassierte, war die Krankheit auf einmal nicht mehr so edel.

    Leider sterben auch heute noch jährlich 1,5 Millionen Menschen daran. Tuberkulose ist seit gut 70 Jahren behandelbar und komplett heilbar. Aber, wie Green so treffend sagt: das Heilmittel ist da, “wo die Krankheit nicht ist und die Krankheit da ist, wo das Heilmittel nicht ist” (S.11). Sprich, in Westeuropa, Canada, Japan, Australien und USA ist die Krankheit rückläufig, in Osteuropa, Südostasien, Südamerika und vor allem Afrika ist TB auf dem Vormarsch.

    In Deutschland, genauer, in Bad Schönborn nahe Heidelberg wurde bei einem Schüler Tuberkulose diagnostiziert. untersuchungen ergaben, der Schüler hatte seinen gesamten Jahrgang unwissentlich infiziert und insgesamt 109 Schüler und Lehrer angesteckt. Die Krankheit wurde schnell und effizient behandelt, heute sind alle geheilt. Aber das war jetzt, im 21. Jahrhundert in Deutschland. Der gleiche Fall in einer Schule in Afrika wäre komplett anders verlaufen.

    John Green deckt diese versteckten Zusammenhänge auf, die zwischen der Krankheit, den Patienten, dem sozialen und nationalen Milieu, in denen die Menschen leben, vorherrschen.

    Was dem Buch etwas von dem schrecklichen Aura nimmt, sind Anekdoten über die Tuberkulose: ob es das Attentat von Sarajevo ist, oder der 47. Bundesstaat der USA, New Mexico, die Entstehungsgeschichte des Stetson Hutes. Robert Koch und Louis Pasteur haben in diesem Buch auch Ehrenplätze, genau wie der Arzt und Schriftsteller Dr. Arthur Conan Doyle.

    Am meisten hat mich die Geschichte von Henry Reider, dem jungen Tuberkulose-Patient aus Sierra Leone. John Green beginnt das Buch mit ihm, im Laufe des Buches kommt er immer wieder vor, mal lebt er auf, mal geht es ihm so schlecht, dass wir um sein Leben bangen. Zum Schluss erfahren wir, Henry ist vollständig genesen, er hat den Schulabschluss gemacht, hat studiert und bestreitet heute mit seinen Videos auf YouTube und TicToc den Lebensunterhalt für sich und seine Mutter. Henrys Geschichte macht Mut, den Kampf gegen die Tuberkulose aufzunehmen.


    Vor neuen, unbekannten Krankheiten können wir uns innerhalb eines Jahres schützen. Aber was ist mit Krankheiten, die seit Jahrtausenden die Menschheit bedrohen?


    ASIN/ISBN: 3446284435

    Edit: ISBN angepasst Gruß Herr Palomar

    Eine Kathedrale mal anders

    Habe schon etliche Kathedralen und Dome besichtigt und war jedes Mal überwältigt. Den Brand von Notre Dame in Paris habe ich im Fernsehen gesehen und geweint, weil ich sie vorher ein paar Mal besucht hatte. Darum war die Vorfreude auf dieses Buch besonders groß, es wird mir einen neuen, zusätzlichen Blick auf diese Art der sakralen Bauten verschaffen. Und ich wurde nicht enttäuscht.

    Von einem Sonntag sieben Uhr morgens im Frühjahr 1481 bis Dienstag, 20. August 1566 werden Geschichten und Anekdoten rings um die Kathedrale von Antwerpen, der Liebfrauenkirche, aber auch von anderen großen Kirchen Europas erzählt, vom Leben der Herrschenden, der armen Stadtbevölkerung, von Händlern und Reisenden, von Kirchgängern, Prälaten, Predigern, Wanderpredigern, von Katholiken, Reformatoren und Täufern, sie sind alle in diesem Buch vertretern. Wir erfahren vom makabren Beruf der Hundetotschläger, von Huren und Dieben. Volksfeste und Prozessionen, Tage des Trubels, Karneval und Feierlichkeiten im Wechsel mit den Fastenzeiten, Könige und Kaiser rissen sich um die damaligen Länder von Burgund und Flandern, um die reichen Städte, von denen Antwerpen eine der reichsten war.

    Der gleiche Schmutz der auf den Straßen herrschte, es gab ja keinen Mülltransport, keine Kanalisation, Schweine und Gänse undHühner suchten sich in den Gassen das Futter, Nachttöpfe wurden ohne viel Federlesens aus dem Fenster auf die Straße gekippt, Menschen verrichteten ihre Notdurft ungeniert an allen Ecken auf den Gassen. Nun, diese Misere wurde an den Schuhen in die Kirchen reingetragen. In den Kirchen kam noch der Brauch hinzu, die Toten innerhalb der Kirchen zu begraben. Täglich wurden Steinplatten beiseite geschoben, die Toten ins Grab gelegt, über andere Leichen, dann kamen viele streunende Hunde in die Kirchen, hinterließen Kot und Urin an allen Ecken, Säulen, vor allen Altären. Ungewaschene Bettler, ungewaschene Bürger, ungewaschene Adlige kamen in die Kirche. Ein wahrer Christenmensch brauchte sich nicht waschen, solange sein Gewissen rein war. Sauberkeit war der Kirche suspekt. Allein die Juden wuschen sich regelmäßig. Wer sich also wusch, war verdächtig, ein Jude zu sein. Kein Wunder also, dass Seuchen an der Tagesordnung waren. Alle paar Jahre wütete die Pest, dazwischen Cholera, Ruhr, Typhus. Die wurden mit Teilnahme an Prozessionen bekämpft. Der Erfolg blieb aus.

    Wendy Wauters Buch ist reich an all diesen Fakten und Begebenheiten. Sie lässt das Mittelalter vor unseren Augen lebendig werden. Zahlreiche Abbildungen, die in der Mitte des Buches gesammelt sind, belegen Wauters Texte.

    Das Buch ist kein Pageturner, will es auch nicht sein. Es bietet fundiertes und dokumentiertes Wissen über das Leben im Mittelalter und über die Liebfrauenkirche in Antwerpen. So stelle ich mir ein Sachbuch vor.


    ASIN/ISBN: 3534610644

    Edit: ISBN korrekt eingesetzt, zwecks Verlinkung Gruß Herr Palomar

    Wann habt Ihr zum letzten Mal gedingst?

    Marc Uwe Klings Humor ist unwiderstehlich. Ob ein verliebten Roboter in Quality Land oder hier Jugendliche beim Dingsen ertappt werden, ich musste schallend lachen. Schön auch, dieses Buch scheint ein gemeinsames Familienprojekt zu sein.

    Und nun, was ist das für ein Buch? Als ordentlicher Mensch muss das Buch in eine Schublade passen. ISt es ein Fantasy? Sprich ein modernes Kunstmärchen? Oh ja, auf jeden Fall. Ist es ein Thriller? Und noch was für einer! Allererste Sahne. Macht die Lektüre des Buches Spaß? Und wie! Die witzigen Dialoge, die Art wie sich Elos und die Zwillinge verständigen, ohne viel Worte, jeder weiß, was der andere denkt, ist unnachahmlich.

    Wie in einem echten Thriller gibt es auch im Buch eine, nein, gleich zwei hollywoodreife Szenen, in denen sich die guten (unsere Helden) und die Bösen (die Nachtmagier und Anhänger des alten Kaiserreichs) offen gegenüberstehen und sich bekämpfen. Aber die Auflösungsszenen danach fand ich unübertroffen. Elos erscheint mit seinem Sohn Naru und mit seinem Freund Silas vor dem König und klärt den Fall des gestohlenen Szepters restlos auf, muss dabei lügen, denn dem König soll man nicht unbedingt alles verraten. Parallel dazu erzählt ebenfalls mit vielen Lügen, Minna ihre Variante der Geschichte den beiden Mädchen. Aber Elos verwendet Notlügen während Minna aus Spaß fabuliert und übertreibt. Die beiden Narrative, von Elos und Minna ergeben dann letztendlich das ganze Bild.

    Das Schönste an diesem Buch? Familie Kling bringt die Geschichte schön zu Ende und legt aber auch gleich die Spuren für ein zukünftiges Buch, so denn sie mal die Lust am Geschichten weiterspinnen packt. Nur zu!

    Fabulieren und fantasieren auf aller höchstem Niveau


    ASIN/ISBN: 3550203071
    Edit: ISBN korrekt eingesezt, zwecks Verlinkung. Gruß Herr Palomar

    Der Titan der deutschen Literatur im amerikanischen Exil

    Auf der Flucht vor den Nazis treffen sich in Kalifornien die renommiertesten und größten Literaten, Musiker, Künstler, Kunstmäzene und Schauspieler, die Deutschland in der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert geistig geprägt haben. Lion Feuchtwanger, Heinrich Mann, Alfred Döblin, Vicki Baum, Theodor W. Adorno, Bertolt Brecht und Thomas Mann, der einzige Literaturnobelpreisträger unter ihnen. Einigen wenigen gelingt es, finanziell gut dastehen. Thomas Mann unternimmt Vortragsreisen, Lion Feuchtwangers Bücher sind auch in den USA ein Erfolg. Aber Brecht, Döblin oder Heinrich Mann und vielen anderen geht es finanziell nicht gut. Viele schreiben Drehbücher für die Filmindustrie und kommen so über die Runden.

    Zu den Vorträgen, die Thomas Mann hält, quer durch die USA, kommen noch Radiosendungen hinzu, für die Radiohörer in Deutschland.. Diese Vortragsreisen und die Radiosendungen, aber auch die Gespräche, die er mit jungen Amerikanern führt, so sie sich trauen, zu ihm zu kommen, all dies hält ihn vom Schreiben ab. Mit ungeheurem Fleiß und Disziplin hat er im Exil seine Josef-Romane zu Ende gebracht, er hat Lotte in Weimar geschrieben, er hat Doktor Faustus geschrieben. Aber er hat auch Essays verfasst, über Goethe, Richard Wagner, Sigmund Freud, “Bruder Hitler”, Friedrich Nietzsche. und Arthur Schopenhauer. Seine Radiosendungen zwischen 1941 und 1945 sind gleichzeitig auch Essays, die er sehr sorgfältig geschrieben hat und an seine deutschen Hörer gerichtet hat. Er unterscheidet sehr genau zwischen den Schergen des Naziregimes und dem deutschen Volk. Für einen selbst deklarierten unpolitischen Menschen setzt er sich sehr aktiv politisch ein. Einerseits um anderen Exil Deutschen in den USA zu helfen, andererseits durch seine Radiosendungen an das deutsche Volk.

    1946, der Krieg ist zu Ende, steht Thomas Mann vor neuen Herausforderungen: “Die Realität ist schneller als Thomas Mann. Manches Mal hatte ihn die Furcht geplagt, er müsse noch einen weiteren Roman schreiben, bis die NS-Herrschaft vorüber ist. Aber am Ende ist deren Untergang erfolgt, bevor Manns Erzähler [Der Zauberberg] Serenus Zeitblom es mitschrend miterlebt. Mann schreibt nun gleichsam der Realität hinterher, in der die Nürnberger Prozesse bereits kurz vor dem Abschluss stehen.” (S. 131)

    Ein paar Worte zum Stil Martin Mittermeiers: einigen mag er umständlich erscheinen, schräg, nicht leicht zu durchdringen. Ich finde ihn ehrlich, dem schwierigen Thema eines so großen Autors voll angepasst. Charmant, spritzig ironisch, aber auch sehr ernst und gleichzeitig knapp: “Später am Abend nehmen die Manns die Nachricht von der Versenkung eines Passagierdampfers durch ein deutsches U-Boot zur Kenntnis, auf dem sich viele Kinder zur Evakuierung von England nach Kanada befanden. Zwei Tage später erfahren sie, dass ihre Tochter Monika mit ihrem Mann auf dem Schiff war. Monika wurde nach zwanzig Stunden in einem Rettungsboot geborgen, ihr Mann starb, mit ihm 246 weitere Menschen, darunter 73 Kinder. Nicht leicht zu hassen, in diesen Zeiten” (S. 33) Dieser knappe letzte Satz geht zu Herzen.

    Literaturgeschichte und spannende Auseinandersetzung mit den deutschen Schriftstellern im amerikanischen Exil während des unsäglichen Dritten Reichs.


    ASIN/ISBN: 3755800330