Der Begriff "Re-Telling" hat ja auch in den letzten Jahren so richtig an Popularität gewonnen, baut allerdings auf eine ziemlich lange Tradition auf.
Auch wenn euch der Begriff vielleicht nicht so vertraut ist, werden die meisten von euch einige Beispiele kennen, oder zumindest die Vorläufer der aktuellen Re-Telling-Welle. Ich beschäftige mich mit dem Thema schon ziemlich lange, weil es mich immer schon total angesprochen hat.
Ohne Anspruch auf literarurwissenschaftliche Korrektheit habe ich für mich die Entwicklung in etwa so erlebt:
Schon Ende des 19. Jahdt. fingen einige Schrifteller:innen an, historische Frauenfiguren neu zu betrachten und in den Mittelpunkt von Romanen zu stellen. Mir fällt da als erstes z.B. "Hypatia" von Charles Kingsley ein. Der ist zwar noch stark viktorianisch geprägt und sicher weit davon entfernt feministisch zu sein, aber es ist einer der ersten (mir bekannten) Versuche, eine historische Frauenpersönlichkeit in den Mittelpunkt zu stellen.
Vor allem die 1980er/1990er brachten eine Welle Stoffe hervor – inspiriert durch Feminismus, Esoterik und die Rückbesinnung auf „weibliche Spiritualität“ in Sagen und Märchen, die man heute sicher schon als Re-Telling einstufen könnte.
In den 1980er Jahren war z.B. Marion Zimmer Bradley einer der Vorreiterinnen darin, bekannte Mythen aus feministischer Sicht neu zu erzählen. In "Die Nebel von Avalon" erzählt sie zB die Artussage aus der Sicht von Morgaine.
Ende der 1990er/Anfang der 2000er haben diesen Trend dann einige Autorinnen aufgegriffen und haben keltische Mythen und Märchen zum Ausgangspunkt ihrer feministisch geprägten Neuerzählungen genommen. Ich habe zB damals die Sevenwaters-Bücher von Juliet Marillier (zB "Die Tochter der Wälder", das das Märchen "Die sieben Schwäne" in einem keltischen Setting nacherzählt) geradezu verschlungen.
"Das Lied des Archill" von Madeleine Miller und später ihr Roman "Ich bin Circe", der 2018 rauskam, hat dann eine neue, riesige Re-Telling-Welle ausgelöst. Jennifer Saint mit ihren Neuinterpretationen der Geschichten von "Elektra" und "Ariadne" zB, oder die Troja-Neiinterpreatationen von Natalie Haynes (Die Heldinnen von Troja) oder Pat Baker mit "Die Stille der Frauen", in dem sie Briseis eine eigene Stimme verleiht.
Dieser erzählerischen Tradition wollten wir uns mit "Ich bin Herodias" anschließen, nur eben mit einer Frauenfigur aus der Bibel.