'Zeit aus Glas' - Seiten 165 - 238

  • Keine Frage, dass das schwierig ist. Hoffnung gab es ja auch weiterhin. Wenn man aber von so einem Ereignis hört wie dem Mord des Offiziers während eines Verhörs, nur weil jemand einen Anwalt verlangt.


    Den Gesprächen im Buch nach wussten oder spürten sie die lebensbedrohliche Situation. Einzig die Hoffnung auf das Eingreifen des Auslands ließ sie wohl noch zögern.

    Die älteren Ehepaare denken immer noch, ihr Alter würde sie schützen. Aber auch sie haben ja Besitz, den die Nazis sich aneignen wollen. Ich kann mir gut vorstellen, dass man das einfach nicht glauben kann, dass sich Leute, wie Ruth ja nur noch sagt, sowas ausdenken. Es waren ja mal Menschen, oder? Wie kann sich ein Gehirn so kranke Sachen ausdenken? So menschenverachtend handeln? Ich werde es nie begreifen. Ich hoffe, Ruth bekommt die Bewilligung und die Eltern entschließen sich, Ilse mit einem Kindertransport außer Landes zu bringen. Dänemark hatte ja auch Kinder aufgenommen.

  • Bei meiner Mutter bin ich mir ziemlich sicher, dass sie keine Aussteuer hatte, weil sie selber aus einer eher unkonventionellen Familie kommt und meine Großmutter strikt gegen die Heirat mit meinem Vater war (O-Ton: Du kannst doch nicht den ersten Mann in deinem Leben gleich heiraten!)

    Meine Mutter hatte auch keine. Sie wurde in "Stellung" geschickt, weil der Vater wieder heiraten wollte und dann kam der Krieg.

    Meine Mutter (Jahrg. 1943) hatte auch keine klassische Aussteuer. Es war nicht so, dass sie von ihren Eltern ausgestattet wurde, dazu war ihr Vater viel zu modern. Ihre Großmutter hat ihr ab und an mal ein hübsches Handtuch geschenkt, das hat meine Oma später augenzwinkernd bei mir auch getan. Mom hat sich nach und nach von ihrem verdienten Geld Besteck, Geschirr, Handtücher etc. gekauft, bzw. natürlich mit meinem Vater auch zu späteren Geburtstagen/ Verlobung/ Hochzeit Dinge gezielt gewünscht.

    Meine Aussteur bestand aus Wäsche (viel zu viel), aber Geschirr, Besteck und solche Dinge haben ich dann später selbst gekauft. Sie wären meiner Mutter auch zu teuer gewesen ;-)


    Das war die Krux - seit ich 12 Jahre alt war, gab es nie mehr persönliche Geschenke, nur Aussteuer.

  • Ich habe nur von meiner Patin Aussteuersachen geschenkt bekommen, womit ich als Kind gar nichts anfangen konnte. Erst als ich ausgezogen bin, habe ich diese Geschenke zu schätzen gewusst.

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    Von den vielen Welten, [...] ist die Welt der Bücher die größte. (Hermann Hesse)


    :lesend Virginia Woolf: Orlando

  • Ruth ist wirklich eine tolle junge Frau. In ihrem Alter hätte ich mich auch nicht getraut, aber das waren auch andere Zeiten, da tat ein Mädchen sowas einfach nicht.

    Ich finde Ruths Entscheidung auch bewundernswert - es ist ja sehr schön beschrieben, wie sehr sie damit hadert, dass sie die Familie zurücklassen muss. Andererseits erscheint die Situation in Deutschland auch immer auswegloser zu werden, und im Grunde ist der ganzen Familie klar, dass sie Deutschland verlassen muss.


    Für die nächste Zeit haben sie eine Bleibe in der Wohnung der Familie Gompertz gefunden, die bereits ausgereist sind. Ich habe mich allerdings gefragt, ob der Vermieter das weiß? Die Gompertz haben die Miete noch für mehrere Monate im Voraus bezahlt, aber was passiert danach? Ich hoffe ja, dass die Familie Meyer bis dahin eine Möglichkeit gefunden hat, Deutschland zu verlassen, aber es wird den Juden immer schwerer gemacht, ins Ausland zu gehen (bzw. im Ausland aufgenommen zu werden, Deutschland verlassen dürfen sie ja),


    Die Familie Aretz finde ich absolut bewundernswert, sie unterstützen die Meyers obwohl sie sich selbst damit Risiken aussetzen (und ich glaube, dass Josefine das ziemlich herunterspielt, als sie sich bereit erklärt, Wertsachen für die Meyers in die Niederlande zu schaffen.


    Martha tut mir leid - die Situation ist schon für gesunde Menschen unglaublich schwierig, einen depressiven Menschen dürfte sie völlig überfordern. Ich hoffe nur, dass sie Kraft findet und sich wieder fängt.


    Großmutter Emilie ist so schwierig wie eh und je - dass sich die Situation verändert hat scheint sie völlig zu verkennen. Dass die Familie so viel Geduld mit ihr hat, finde ich bewundernswert - ich weiß nicht, ob ich sie aufbringen könnte.


    Ein wenig schockiert hat es mich, als Ruth dieses Treffen einberufen hat (was ich sehr mutig fand, aber auch wichtig, dass in Verbindung bleibt), und tatsächlich der Verdacht geäußert wurde, Ruth könne ein Spitzel sein! Diesen Verdacht konnte sie zum Glück schnell ausräumen, aber es zeigt doch deutlich, wie groß die Angst bei allen ist.

  • Was ich mich die ganze Zeit frage, vielleicht kann Ulrike Renk das beantworten?


    Hat denn niemand das Ausland nach dem Ende der Nazizeit dafür belangt, dass sie den Juden nicht geholfen haben? Dass Einwanderungen beschränkt waren, obwohl das Verbleiben in Deutschland den sicheren Tod bedeutete?

    Was war z.B. mit den Juden, die auf dem Schiff St. Louis nach Kuba ausreisen dürften und dann doch nicht angenommen wurden? Irgendwie habe ich dazu nichts finden können.

  • Ich befürchte fast, dass das einfach totgeschwiegen wurde.... Die Sieger schreiben die Geschichte.

    Mir ist das auch erst so richtig in den letzten Jahren klar geworden, als es in mehreren Büchern thematisiert wurde. Im Geschichtsunterricht kam da nichts dazu, vermutlich auch, weil es ja auch gewollt ist, dass die Deutschen sich schuldig fühlen. Wenn man dann drauf aufmerksam macht, dass sich ja auch andere Staaten schuldig gemacht haben, könnte es ja sein, dass sich die Deutschen nicht mehr verantwortlich und damit ausreichend schuldig fühlen.


    Scheinbar wussten die Amerikaner wohl auch durch deutsche Spione, was in den Lagern gemacht wurde und trotzdem hat sich niemand bemüßigt gefühlt einfach mal die Bahngleise nach Auschwitz zu bombardieren. Auch das hab ich letztens erst bei Hardinghaus gelesen, als es um die Spione in der Charité ging....