Kim de L'Horizon - Blutbuch

  • In dem von Dieter zitierten Ausschnitt geht es doch eigentlich überhaupt nicht um den Sex. Es geht darum, wann sich jemand lebendig fühlt, beziehungsweise darum, dass hier jemand so ein aus meiner Sicht gestörtes Verhältnis zur eigenen Lebendigkeit hat, dass dey sich nur als Empfänger von Sex wirklich warnimmt.

    Die Beschreibung finde ich eher traurig als ekelhaft. Und ich finde es auch traurig, wenn jemand das als ekelhaft empfindet.


    Ich habe allerdings auch ein etwas anderes Verhältnis zu solchen Themen - eines meiner Kinder sieht sich als non-binär und dadurch haben wir regelmäßig Jugendliche aus der LGBTQ Community zu Besuch. Und eine meiner Schwestern betreut als Therapeutin u.a. Transpersonen. Ich kann nur sagen, dass persönlicher Kontakt den Blickwinkel auf solche Themen stark beeinflusst.

    “You can find magic wherever you look. Sit back and relax all you need is a book." ― Dr. Seuss

  • In dem von Dieter zitierten Ausschnitt geht es doch eigentlich überhaupt nicht um den Sex.

    Das habe ich doch auch im vorigen Posting geschrieben.

  • Weil es als zeitgeistig-chic gilt, sich vor derlei nicht mehr zu ekeln?

    Du verwechselst in diesem Fall Zeitgeist mit gesellschaftlichen Fortschritt. Man muss den Fortschritt nicht mitgehen, aber Fortschritt heißt auch immer mehr "leben und leben lassen" (wie ja auch von Batcat zitiert). Egal wie groß oder klein die Bezugsgruppe ist. D.h. du magst dich ekeln, und das darfst du ja auch, aber dein Ekel ist eines ganz bestimmt nicht: Relevant für die literarische Bewertung eines Buches. Du stellst deine ganz persönlichen und subjektiven Neigungen oder Abneigungen über alles andere. In diesem Thread geht's eigentlich nur noch um deine persönlichen Befindlichkeiten. Darauf hinzuweisen hat nichts mit politischen Gesinnungsterror zu tun (echt, geht's noch?).


    Eine literarische Anmerkung noch im übrigen. Du sprichst wie selbstverständlich von Trennung von Autor und Werk. Wir haben es hier mit Autofiktion zu tun. Aus der Buchpreis-Shortlist: Mit Daniela Dröscher redet man also über die fettleibige Mutter und ihre Kindheit, mit Jan Faktor über den Selbstmord des Sohnes, und mit Kim l'Horizon über Geschlechtsidentitäten (woraus sich dann fast wie von alleine auch sexuelle Szenen ergeben). Annie Ernaux Nobelpreis dieses Jahr, Grande Dame der Autofiktion. Wenn man den Preis als zeitgeistig einstuft, sollte man das literarische Genre nicht vergessen. Man mag das Genre nicht gut finden oder als Mode empfinden, aber dass da jemand über das eigene Leben schreibt und es schonungslos ausbreitet ist Genre-bedingtes literarisches Programm.

  • Ich versuche es ein letztes Mal:


    Es geht mir nicht um das, was da beschrieben wird. (Übrigens geht es auch nicht um Homosexualität, Tom, soweit ich es verstanden habe, denn der Mensch ist ja nach eigener Auffassung angeblich gar nicht geschlechtlich definiert).

    Auch ekle ich mich weder vor Homosexuellen, noch vor sonstwie sexuell Orientierten, zähle nicht wenige davon zu meinem Freundeskreis und stehe jederzeit bereit, ihr freies Leben in ihrer Orientierung zu verteidigen.


    Ich verabscheue jedoch Literatur, die meint, ohne Obszönitäten nicht auskommen zu können, um das zu transportieren, was sie sagen will. Ich finde die übertriebene Nutzung von Porno- oder Kloakensprache eklig - ganz gleich, in welchem Zusammenhang. Sie ist ein untrügliches Zeichen von stilistischer Schwäche, von fehlender sprachlicher Ausdruckskraft.

  • Ich verabscheue jedoch Literatur, die meint, ohne Obszönitäten nicht auskommen zu können, um das zu transportieren, was sie sagen will. Ich finde die übertriebene Nutzung von Porno- oder Kloakensprache eklig - ganz gleich, in welchem Zusammenhang. Sie ist ein untrügliches Zeichen von stilistischer Schwäche, von fehlender sprachlicher Ausdruckskraft.

    Und wie hättest Du dann formuliert, was Kim de l'Horizon im fraglichen Ausschnitt mitzuteilen so wichtig ist? Nämlich in welchen Momenten ersiees sich körperlich spürt, den eigenen Körper wahrnimmt, das Selbst, auch das soziale Selbst.


    Davon abgesehen ist das "schlimmste" Wort darin Schwänze. Ich finde keine Porno- oder Kloakensprache. Wo ist sie?


    Aber ich glaube allmählich, Du veralberst uns sowieso nur. 8)

  • (Übrigens geht es auch nicht um Homosexualität, Tom, soweit ich es verstanden habe, denn der Mensch ist ja nach eigener Auffassung angeblich gar nicht geschlechtlich definiert).


    Du vermischst hier geschlechtliche und sexuelle Identität. Das sind zwei unterschiedliche Dinge. Ob eine non-binäre Person sich als homo-, bi-, pan- o. a. einordnet, müsste man den Menschen selbst fragen, ähnliches gilt für die verwendeten Pronomen.

    Ich persönlich finde es wichtig, so etwas zu wissen bzw. dazu zu lernen. Mir geht es da ähnlich wie Breumel .

  • Autofiktion, und darum handelt es sich bei Kim de l’Horizons Blutbuch, ist nicht unbedingt mein favorisiertes Genre, was ich aber bei der literarischen Beurteilung von Autofiktion spannend finde ist die Frage der Form: wird die Geschichte eines Lebens geradlinig erzählt (dann könnte ich ja auch ein Memoir lesen) oder wird das Leben gestaltet, in eine literarische Form gegossen. Blutbuch macht letzteres und das bis zum Anschlag. Die Hauptfigur wird komplett dekonstruiert und der Roman versucht sich an den unterschiedlichsten literarischen Formen: Metafiktion, Postmoderne, Postpostmoderne, Polyphonie. Da wird also so sehr aus intellektuellen Rauchkanonen geschossen, dass das Thema, die non-binäre Identitätsfindung, oft nur noch von Nebel umhüllt wird.


    Dabei fängt Blutbuch sehr stark an. Handwerklich geschickt und sprachlich originell wird in die Grundkonstellation eingeführt und werden die Hauptfiguren vorgestellt. Die an Demenz erkrankte Großmutter (Großmeer), die Mutter (Meer), das Kind und das erzählende Ich (das Kind in Erwachsen). Wie das Ich in Frauenkleidern die Großmutter mit einer Schachtel Pralinen besucht, über den Schreibtisch gebeugt schreibt und wie es anonymen Sex mit Männern und eine Spur Körperlichkeit spürt. Das ist alles psychologisch stimmig erzählt. In den Passagen über das Kind wird es märchenhafter, ein Ton, der mir gefiel. Wie selbstverständlich wird es als geschlechtslos, binär nicht lesbar geschrieben (bist du en Meitli oder en Bueb?), das sich aber doch so langsam mal für eine Geschlechtsidentität entscheiden soll. Um es herum die binären Narrative der weiblichen und männlichen Ahnenlinien.


    Es geht um die Identitätssuche durch Sprachfindung und Körperlichkeit. Sprachlich geht es da keineswegs nur um das Gendern (das sich im Übrigen in vielen Passagen in Grenzen hält), sondern auch um das Bernerdeutsche (woraus sich das Meer/Peer ergibt), Schweizerdeutsche, Französische, Anglizismen, Englische und auch um „Intellektuellensprache“, die Frage wie man als gebildeter Aufsteiger mit den Eltern und Großeltern aus einfacheren Verhältnissen kommuniziert.


    So weit so spannend, doch dann verliert sich der Text doch sehr schnell in fragmentarischen Erinnerungsfetzen und Diskursen. Man sieht die Figuren kaum noch im Raum und handelnd, sondern es wird nur noch kommentiert und erklärt, wenig (szenisch) gezeigt. Das klassische Erzählprinzip „Show, don’t tell“ wird umgekehrt. Der Text hat nun ein riesiges Problem. Er kommt mit einem Beipackzettel. Auf jede Kritik und jede Interpretation, die ich als Leser hatte, gibt der Text eine Antwort. Und am Ende macht der Beipackzettel gefühlt zweidrittel des Roman aus. Ein paar Beispiele:


    Das angedeutete Mäandernde und Fragmentarische. Dazu heißt es: „Vielleicht ist das mit ein Grund für das Schreiben, für dieses zerstückelte, zebrösmelnde Schreiben. Dafür, dass aus meinen Händen nur Bruchstücke kommen, deren Kanten so zersplittert sind, dass sich daraus keine smoothe, packende, glatt polierte Geschichte bauen lässt..“ Und wenig später wird erklärt: „Es hat etwas Zwanghaftes, wie in der Familie von Peer das Erlebte zu Narrativen geformt wird.“ (Konventionelles Erzählen als ein Privileg des Patriarchats?). Das ist auf den Seiten 58/59 und ungefähr ab da fing der Roman an, das inhaltliche Potential zu verpulvern, und mir ein wenig auf die Nerven zu gehen.


    Wenn wir dann später wieder beim erzählenden Ich sind, sprachlich funkelnd, explosiv, komisch: „Ich hüpfte in beballerter easyJet-orangener Aufgejazzheit zwischen Berlin und Zürich hin und her, machte Aderlass und gab mir das Mainstream-Gaydom beider Städte intravenös.“ Und ähnlicher funkelnder Sätze, Satz an Satz und dann heißt es: „… es ist eine zynische, aufgekratzte Erzählstimme, die da ganz plötzlich und angestrengt popliterarisch über diesen Teil schwubuliert, und dafür entschuldige ich mich auch... diese Zeit… ist mir zu nah, zu mäh und wäh… Ich schäme mich für all das.“


    Dieses Versteckspiel dieser Identität hinter strukturellen Spielereien wird zunehmend schlimmer. Es hagelt Fußnoten, es wird postpostmodern, und in einer Fußnote wird dann Infinite Jest von David Foster Wallace zitiert (was sonst, wenn es um Fußnoten geht?) Und es wird Derrida ausgepackt und natürlich Annie Ernaux (wer sonst, wenn es um Autofiktion geht?). Das ist etwas platt und prätentiös. Bezeichnend wie die Autorin Ursula K. LeGuin zitiert wird. Einmal wird ihr Roman Left Hand of Darkness erwähnt, in dem es um eine Welt geht, in der Menschen, nach belieben ihr Geschlecht ändern können (den Kim de l’Horizon aber nicht gelesen hat, weil bäh, Science Fiction) und an anderer Stelle ihr Essay „The Carrier Bag Theory of Fiction“, den Kim de l’Horizon tatsächlich gelesen hat und dann nochmal als zusätzliche theoretische Strukturierungshilfe über diesen ohnehin schon übererklärten Text stülpt. Der Essay ist Kim de l‘Horizon also wichtiger als der Roman, oder überspitzt auf diesem Text übertragen: der Diskurs ist wichtiger als der Inhalt, der Kommentar wichtiger als das Kommentierte, die Fußnote wichtiger als der Fließtext.


    Das englischsprachige Abschlusskapitel (das auf den letzten Seiten, auf den Kopf stehend, ins Deutsche übersetzt abgedruckt ist) macht für mich inhaltlich überhaupt keinen Sinn. Vermeintlich, damit es Großmutter und Mutter nicht lesen können. Aber wieso wird das alles erzählt, und Großmutter und Mutter könnten dann ja trotzdem die Übersetzung lesen?


    Wie gesagt: Versteckspiel. Man kann das psychologisch vielleicht erklären, dass da jemand versucht, an dem eigenen Ich vorbeizuschreiben. Den Leser nicht an sich heranlassen möchte und diese zusätzlichen Schichten und Häute braucht. Es liest sich leider nur so schrecklich verkrampft. Eine Geschichte gibt es kaum. Es gibt ein Familiengeheimnis, das aber nicht weltbewegend ist, und auch die Identitätssuche tritt irgendwann nur noch auf der Stelle. Man kann den Roman eigentlich nicht spoilern. Die einzige Vorwärtsbewegung im Text ist das Aufeinanderstapeln von Metaebenen. Trotzdem spoilere ich mal die finale Metaebene. Man erfährt, wieso dieser Roman überhaupt geschrieben wurde.


    Hat funktioniert. Spätestens hier fühlte ich mich veräppelt. Der Roman ist wie mit einer Clownsmaske im Gesicht geschrieben. Für diese Chuzpe dem Literaturbetrieb gegenüber, und der sprachlichen und inhaltlichen Originalität wegen, vergebe ich immerhin noch drei von fünf Punkten.

  • Danke Googol für deine sehr differenzierte und intensive Auseinandersetzung mit dem Buch. :thumbup:

    :write wirklich interessant!


    Vielleicht hat es deshalb den Preis bekommen, weil sich die speziell Intellektuellen im Literaturbetrieb angesprochen und durchschaut fühlten? :gruebel

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    Von den vielen Welten, [...] ist die Welt der Bücher die größte. (Hermann Hesse)


    :lesend Siegfried Lenz: Der Verlust

  • Über den Autor:

    Kim de l’Horizon ist eine genderfluide nichtbinäre schweizerische Person, die unter diesem Pseudonym Lyrik, Prosa und Theaterstücke verfasst. Ihr Roman Blutbuch wurde mit dem Deutschen Buchpreis 2022 ausgezeichnet.


    Kurzbeschreibung:

    Ausgezeichnet mit dem Deutschen Buchpreis 2022

    Die Erzählfigur in ›Blutbuch‹ identifiziert sich weder als Mann noch als Frau. Aufgewachsen in einem schäbigen Schweizer Vorort, lebt sie mittlerweile in Zürich, ist den engen Strukturen der Herkunft entkommen und fühlt sich im nonbinären Körper und in der eigenen Sexualität wohl. Doch dann erkrankt die Großmutter an Demenz, und das Ich beginnt, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen: Warum sind da nur bruchstückhafte Erinnerungen an die eigene Kindheit? Wieso vermag sich die Großmutter kaum von ihrer früh verstorbenen Schwester abzugrenzen? Und was geschah mit der Großtante, die als junge Frau verschwand? Die Erzählfigur stemmt sich gegen die Schweigekultur der Mütter und forscht nach der nicht tradierten weiblichen Blutslinie.


    Meine Meinung:

    Die Rezension zu diesem Buch zu schreiben, fällt mir schwer, denn ich mag es nicht, wenn die Bücher mir nicht gefallen. Und mit diesem Roman wurde ich nicht warm.

    Ich möchte gleich zum Anfang anmerken, dass ich die erzählende Person mit dem Pronomen "er" bezeichnen werde, da ich generell nicht gendere. Allerdings möchte ich dazu versichern, dass es nichts mit Respektlosigkeit zu tun hat.


    Die Geschichte wird aus der Sicht des Autors erzählt. Der Roman ist in Gender Sprache verfasst, was ich in Anbetracht der Situation des Autors verstehe, doch den Lesefluss stört das Gendern enorm.


    In seinem Roman, der biografisch angelegt ist, versucht der Autor das Leben seiner Großmutter und seiner Familie zu ergründen, um auch für sich persönlich Klarheiten zu gewinnen, und womöglich die Antworten auf die Frage, wie seine Persönlichkeit entstanden ist, zu finden. Soweit absolut verständlich und gut nachzuvollziehen.

    Jeder denkender und zur Selbstreflexion fähiger Mensch, macht es mal in seinem Leben, dass er sich mit den Ursprüngen, Vorfahren und der Familiengeschichte auseinandersetzt.


    Ich hoffe sehr, dass diese Auseinandersetzung in diesem Roman dem Autor zugutekam und er für sich die vorhandenen Fragen beantworten konnte. Das gönne ich dem Autor sehr.

    Denn für mich war der Roman keine Bereicherung. Ich empfand das größte Teil der Geschichte als eine Anreihung von Banalitäten, die vermutlich allen im Familienleben schon untergekommen sind. Nun ja, für alle sollte ich wohl nicht sprechen, deswegen sage ich nur für mich.


    Ich erlebte die Geschichte als eine Obsession, ein Regen von Gedanken, Empfindungen, Reaktionen, wirr und unkontrolliert. Was womöglich von dem Autor so geplant war und die Intention des Autors unterstreicht: die Identitätssuche und Zugehörigkeitswunsch.

    Die Geschichte ist ehrlich, offenherzig, bis ins kleinste Detail dokumentiert. Und ich muss ganz ehrlich sagen, manche Momente würde ich gar nicht wissen wollen, denn die gehören nach meinen Begriffen zum privaten und intimen Leben einer Person.


    Der Roman erwies sich als eine zusammengestückelte, obsessiv erzählte Geschichte eines Suchenden. Mir hat es absolut nicht gefallen. Jedoch würde ich den Roman weiterempfehlen, es ist schon interessant, wie es auf einen wirkt.

    Von mir gibt es 1,5 Stern.

    Nicht wer Zeit hat, liest Bücher, sondern wer Lust hat, Bücher zu lesen,

    der liest, ob er viel Zeit hat oder wenig. :lesend
    Ernst R. Hauschka

    Liebe Grüße von Estha :blume