'Auf Tiefe - See- und Küstengeschichten' - Der letzte Henker von Rungholt

  • Als unsere Kinder klein waren, haben wir jahrelang unseren Urlaub in St. Peter Ording verbracht.

    Wie sehr diese gesamte Küstenlandschaft durch die verheerenden Sturmfluten, besonders im 14. Jahrhundert verändert wurde, hat mich schon damals beschäftigt und erschreckt.


    Genau dieser Schrecken wird in der Geschichte lebendig. Die unvorstellbare Macht der Natur, besonders der See, das Ausgeliefertsein und die Schutzlosigket der Menschen ist überwältigend.


    Immer noch denke ich darüber nach, wie schlimm es für die Gefangenen gewesen sein muss. Obwohl sie den sicheren Tod sowieso vor Augen hatten. Aber in Ketten zu hängen und nicht einmal den Versuch machen zu können, zu fliehen, ist grausig.


    Ganz besonders finde ich, dass alle zum Tode verurteilt waren. Einfache Bürger, der Bürgermeister, Gerechte und Ungerechte und sogar der Henker.


    Sehr passend, danach das vollständige Gedicht "Trutz blanke Hans" zu zitieren.

    Das Motto der Küstenbewohner seit Jahrhunderten. Und ob wir den Mächten der Natur auf Dauer trotzen können?

  • Obwohl man ja ahnte, sprich wusste, wie es ausgeht, habe ich dennoch diese Geschichte mit großer Spannung gelesen. Ich denke, selbst wenn man den Tod als Verurteilter bereits vor Augen hatte, muss es furchtbar gewesen sein, wenn den Gefangenen langsam bewusst wurde, das Schrecklickes geschieht.


    Besonders erschütternd finde ich auch den Gedanken, dass in dem Moment, in dem sich jeder selbst zu retten versucht, solche armen Seelen wie die Gefangenen oder vermutlich auch ältere, kranke und gebrechliche Menschein einfach vergessen werden. Ich mag das natürlich nicht verurteilen, da es absolut menschlich ist.

    Sehr passend, danach das vollständige Gedicht "Trutz blanke Hans" zu zitieren.

    Das Motto der Küstenbewohner seit Jahrhunderten. Und ob wir den Mächten der Natur auf Dauer trotzen können?

    Ich finde die Idee, das Gedicht hier zu zitieren auch klasse. Das hat die Geschichte nochmals zusätzlich unterstrichen und ist auch aktueller denn je.


    Der Mensch hat sich immer schon eingebildet, der Natur trotzen zu können. Als bei uns in Brig (Wallis, CH) 1993 die Unwetterkatastrophe ihren Lauf nahm, waren gerade die älteren Leute nicht sehr überrascht. Vor vielen Jahren wurde das Bachbeet der Saltina verlegt und das wurde dem Städtchen und seinen Einwohnern dann zum Verhängnis. Oder wenn man sich einbildet, man könne gefahrlos in der Lawinenzone bauen... Die Natur ist halt dann doch immer die Stärkere.

  • Dem möchte ich mich anschließen. Ich habe die Geschichte auch so wahrgenommen.

    Rungholt, das Atlantis der Nordsee, ist einfach ein faszinierender Ort. Ich habe schon diverse Dokus gesehen und darüber gelesen. Diese Geschichte passt hervorragend dazu.

  • Ich fand auch toll, dass du das Gedicht zitiert hast, Dieter. Ich erinnere mich, dass das irgendwann vor vielen, vielen Jahren bei uns mal Thema im Deutschunterricht war - siebte Klasse oder so. Ich fand die ganze Geschichte damals ziemlich gruselig.



    Immer noch denke ich darüber nach, wie schlimm es für die Gefangenen gewesen sein muss. Obwohl sie den sicheren Tod sowieso vor Augen hatten. Aber in Ketten zu hängen und nicht einmal den Versuch machen zu können, zu fliehen, ist grausig.

    Ja, das empfinde ich auch so - wobei sie es wahrscheinlich am schnellsten überstanden hatten. Die Vorstellung, verzweifelte Fluchtversuche zu unternehmen, nur um dann trotzdem irgendwann die letzten Kräfte zu verlieren und zu ertrinken, ist tatsächlich auch nicht viel weniger grausig.

  • Diese Geschichte hat mich jetzt von allen bisher gelesenen am wenigsten berührt, obwohl hier die größte Katastrophe geschildert wird. Vielleicht liegt es daran, dass ich auch in diversen Urlauben schon so einiges über Rungholt gelesen und gehört habe. Oder vielleicht auch, weil kein Einzelschicksal im Vordergrund steht, sondern ausnahmslos alle Menschen Opfer der Naturgewalt werden.

    Was für ein Symbol! Der Henker kommt und richtet gleich die gesamte Bevölkerung.

    Mich beeindruckt an dieser Geschichte tatsächlich am meisten die Sprache und die Gestaltung der Geschichte.

    Eindrücklich auch, dass sich die Menschen damals eine Erklärung bastelten, warum diese schreckliche Flut über diesen Küstenstrich fegte und niemand dies überlebte. Die Geschichte erinnert sehr an die biblische Sintflut.

    Die eigentliche Geschichte aber bleibt unerzählt, denn ihre wahre Sprache könnte nur die Sprachlosigkeit sein. Natascha Wodin

  • Genau dieser Schrecken wird in der Geschichte lebendig. Die unvorstellbare Macht der Natur, besonders der See, das Ausgeliefertsein und die Schutzlosigket der Menschen ist überwältigend.

    Dem stimme ich voll und ganz zu. Ich finde ja schon immer wieder den Rhein beeindruckend. Im Sommer ist es kaum vorstellbar, dass er überhaupt über das Ufer tritt, zumal er in den letzten Jahren im Sommer so wenig Wasser führte, dass an Schifffahrt nur unter erheblichen Beeinträchtigungen zu denken war. Das wiederum ist im Winter und Frühjahr kaum vorstellbar, wenn das Wasser bis an den Damm reicht.

    Wir Menschen sind schon Idioten, dass wir meinen, wir könnten die Natur beherrschen.

    Die eigentliche Geschichte aber bleibt unerzählt, denn ihre wahre Sprache könnte nur die Sprachlosigkeit sein. Natascha Wodin

  • Eine gelungene Momentaufnahme eines Untergangs, einer Katastrophe. Festgemacht an fünf Personen, Henker, Amtmann, drei Deliquenten. Im Sterben sind alle gleich. Nur der Dicher hat die Möglichkeit, dank seiner Fantasie, uns die Namenlosen näher zu bringen. Dieter Neumann "dat is di good ofgahn"

    Gab es eigentich nie Knochenfunde aus dieser Zeit?

    Schon der weise Adifuzius sagte: "Erst mit dem letzten Menschen stirbt auch die Hoffnung, es sei denn, die Natur hofft, dass der Mensch nie wieder kommt.":chen

  • Marlowe da wo Rungholt gewesen sein könnte, ist heute Meer. Soweit ich weiß, sind ausgerechnet Brunnenreste gefunden worden.



    Auch die West- undOstfriesische Küste wurde durch beide groten Mandränken schwer getroffen. Da sind die Veränderungen der Landschaft wohl noch größer gewesen.

    In diversen Museen kann man viel Interessantes anschauen.

  • Diese Veränderungen zeigen uns immer wieder wie unbedeutend am Ende der Mensch trotz aller Klugheit und allen Fortschritts doch ist.


    Ich musste da gerade an einen Witz denken, den ich gestern in einem Podcast gehört habe:


    Fragt die Venus die Erde: Wie geht's dir?

    Sagt die Erde: Oh nicht so gut, ich hab grad Mensch.....

    Meint die Venus: Das geht vorbei.


    Wie Marlowe schon schrieb, der Natur sind Ämter und Stand egal, am Ende sind alle tot.

    Sturmfluten wurden wohl immer schon als Strafe Gottes gesehen.... An der Ostsee sind es ja eher die Geschichten über Vineta, das wohl auch in einer Sturmflut unterging.


    Das Gedicht kannte ich nicht, dafür bin ich zu weit im Süden aufgewachsen. Mir hat es aber gefallen.

  • Komischerweise hat mich diese Geschichte nicht so sehr berührt wie die anderen - obwohl es die Geschichte einer Naturkatastrophe mit tausenden von Toten - exemplarisch an drei zum Tode Verurteilten und ihrem Henker (der mir so etwas von unsympathisch war...) dargestellt. Liegt es daran, dass ich in Schleswig-Holstein die Schule besucht habe und die Geschichte von Rungholt in diversen Variationen kannte? Auch das Gedicht habe ich irgendwann mal auswendig lernen müssen (zumindest einige Strophen, einige waren mir wieder unbekannt). Hm, ich habe jetzt extra paar Stunden gewartet, ob sich noch etwas an Gefühlen bei mir regt, aber da kommt nichts...

    Natürlich fand ich die Geschichte großartig geschrieben, dass Leiden der Verurteilten in ihrem Keller war sehr präsent vorstellbar (mir fast zuuu präsent, ich meinte, den Gestank zu riechen...) und den Henker konnte ich förmlich in seiner geballten Arroganz und Selbstbezogenheit vor mir sehen...Kein Wort des Bedauerns über die verunglückten Schiffsjungen ("...hört die Leute reden und grinst verächtlich. " S. 48 E-Book). Er stellt für mich das dar, was man eigentlich den Rungholtern nachsagte, obwohl er ja offensichtlich nicht von Rungholt stammte....

    Ich werde gleich mal lesen, was die anderen geschrieben haben, vielleicht ändere ich ja noch meine Meinung...

  • Genau dieser Schrecken wird in der Geschichte lebendig. Die unvorstellbare Macht der Natur, besonders der See, das Ausgeliefertsein und die Schutzlosigket der Menschen ist überwältigend.

    Ja, das habe ich auch so empfunden!

    Und ob wir den Mächten der Natur auf Dauer trotzen können?

    Ich habe zur Zeit den Eindruck, wir Menschen tragen gerade viel dazu bei, dass genau das Gegenteil eintritt, im wahrsten Sinne von "nach uns die Sintflut"...

  • Diese Geschichte hat mich jetzt von allen bisher gelesenen am wenigsten berührt, obwohl hier die größte Katastrophe geschildert wird

    Ach, das finde ich jetzt als beruhigend, dass es Dir auch so gegangen ist... ich dachte schon, ich sei nur so "merkwürdig" mit meinen Empfindungen...

    Die Geschichte erinnert sehr an die biblische Sintflut.

    Und an Atlantis oder Vineta...

    Wir Menschen sind schon Idioten, dass wir meinen, wir könnten die Natur beherrschen.

    Ein großes Wort, gelassen ausgesprochen...

  • Dem möchte ich mich anschließen. Ich habe die Geschichte auch so wahrgenommen.

    Rungholt, das Atlantis der Nordsee, ist einfach ein faszinierender Ort. Ich habe schon diverse Dokus gesehen und darüber gelesen. Diese Geschichte passt hervorragend dazu.

    So eine Doku habe ich auch erst kürzlich gesehen. Erstaunlich, dass man noch nach so vielen Jahrhunderten Erkenntnisse über Rungholt aus dem Watt holen kann! :thumbup:

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    Von den vielen Welten, [...] ist die Welt der Bücher die größte. (Hermann Hesse)


    :lesend Diana Wynne Jones: Howl's Moving Castle

  • Die Geschichte passt zu dem Aberglauben, dass diese Naturkatastrophe eine Strafe Gottes für die Sünden der Rungholter sei.

    Machte der Ort die Menschen zu Unholden? Hat sich der Henker an anderen Orten anständiger verhalten?


    Eine etwas zu einseitige Sicht: da ist nur von Männern die Rede. Was ist mit den Frauen? Kämen die auch alle als sündige Gestalten vor?

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    Von den vielen Welten, [...] ist die Welt der Bücher die größte. (Hermann Hesse)


    :lesend Diana Wynne Jones: Howl's Moving Castle

  • Diese Geschichte hat mich jetzt von allen bisher gelesenen am wenigsten berührt, obwohl hier die größte Katastrophe geschildert wird.

    Ging mir auch so! Zu kurz und die Figuren zu unsympathisch.

    Bei tausenden Opfern verliert sich mein Mitgefühl irgendwo in den Jahrhunderten.

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    Von den vielen Welten, [...] ist die Welt der Bücher die größte. (Hermann Hesse)


    :lesend Diana Wynne Jones: Howl's Moving Castle

  • Tante Li Dieter Neumann war so nett, die Frauen explizit nicht zu erwähnen, weil sie die Verursacherinnen des sodomhaftigen Lebens dort waren. Wir Männer sind einfach nur die Opfer geworden. Aber die Zeit hat den Mantel des Vergessens gnädigerweise darüber gelegt. :grin

    Schon der weise Adifuzius sagte: "Erst mit dem letzten Menschen stirbt auch die Hoffnung, es sei denn, die Natur hofft, dass der Mensch nie wieder kommt.":chen