Die ersten drei Sätze eures aktuellen Buches (ab 07.06.2024)

  • Ein fernes Land

    Das Schiff legt ab. Es gibt jetzt kein Zurück mehr. Die winkenden Menschen unten am Pier.

  • Im Spätsommer jenes Jahres lebten wir in einem Hause in einem Dorfe, das über den Fluß und die Ebene zu den Bergen hinübersah. Im Flußbett lagen Kieselsteine und Geröll trocken und weiß in der Sonne, und in den Stromrinnen war das Wasser klar und reißend und blau. Truppen marschierten an unserem Haus vorbei und die Straße hinunter, und der Staub, der von ihnen aufgewirbelt wurde, puderte die Blätter der Bäume.

    Die eigentliche Geschichte aber bleibt unerzählt, denn ihre wahre Sprache könnte nur die Sprachlosigkeit sein. Natascha Wodin

  • Aus dem Fenster der Kabine sieht sie bemerkenswerte Formationen, frei flottierende Kuppeln und Türmchen, Stalagmiten, die aus der relativen Dunkelheit des weit unter ihr liegenden Tieflands zu erwachsen scheinen.


    So wird sie es später beschreiben, als sie im künstlichen Licht des kleinen Auditoriums steht, Wolkensäulen, Streben, Baldachine, und es wird sie in diesem Moment das plötzliche Gefühl befallen, es handle sich bei ihrer Schilderung um eine Indiskretion, eine Zudringlichkeit, es verletze ihre Benennung dieser Dinge, die sie aus der Luft gesehen hat, ein unausgesprochenes Gebot.


    Man stellt sie vor als bedeutende Erzählerin, als eine der wichtigen Stimmen dieser Zeit, die mit ihrem frühen Zyklus Die Bestrafung der Mägde erstmals für Aufsehen gesorgt und sich spätestens mit dem Versroman Das ätherische Zelt endgültig etabliert habe, und als man ihr dann ein Zeichen gibt, tritt sie ans Pult, einen Stoß Papier in der Hand, eine kleine Frau, kleiner jedenfalls als erwartet, sie berührt das Mikrofon mit den Fingern ihrer Linken und bedankt sich für die Einladung, sie schätze sich sehr glücklich, sagt sie, heute und in den kommenden Wochen hier sprechen zu dürfen.


  • Fangen wir mal so an: Ich habe schlecht geschlafen. Das habe ich zuerst auf den grünen Tee geschoben, den ich nachmittags gegen meine Gewohnheit und in größerer Menge getrunken hatte. Normalerweise nehme ich nachmittags nur einen Kaffee zu mir, auch zwei.

    :lesend: Wie fühlst du dich? - Über unser Innenleben in Zeiten wie diesen Mensch (Axel Hacke) 0 / 255 Seiten

    :lesend: Das Kind in dir muss Heimat finden (Stefanie Stahl) 76 / 248 Seiten

  • Freitag, 19. Dezember

    9:30 Uhr


    Michael Bublé hatte völlig recht: Es weihnachtete tatsächlich an jeder Ecke. Die mit Petunien bepflanzten Körbe an den Laternenpfählen waren mit silber- und goldfarbenen Kugeln geschmückt, an den Palmen am Straßenrand hingen filigrane Lichterketten, und auf der Plakatwand der Epic-Firmenzentrale in Burbank prangte die aktuelle Nummer Eins der Netflix-Weihnachtsfilme.


  • Es ist so leicht, Zyniker zu sein. Unendlich viele Gründe sprechen dafür, die Menschheit zu verachten. Man werfe nur ein Blick in die Geschichte.

    Das klingt interessant. Ich merke selber dass ich immer zynischer werde aber ich kenne ja auch gute Menschen, als lebende Gegenbeweise. Nur der Anteil der "Anderen" scheint einfach größer zu sein / zu werden. :rolleyes:

    „Furcht führt zu Wut, Wut führt zu Hass. Hass führt zu unsäglichem Leid.“

    - Meister Yoda

  • Das klingt interessant. Ich merke selber dass ich immer zynischer werde aber ich kenne ja auch gute Menschen, als lebende Gegenbeweise. Nur der Anteil der "Anderen" scheint einfach größer zu sein / zu werden. :rolleyes:

    Ich mag seine Gedanken und Schreibweise, aber manchmal ist da auch dieses: Warum macht er das? Für Geld und manchmal ist seine Haltung auch passiv aggressiv. Ich mag es, aber ich bin auch immer wieder skeptisch, weil es halt in vielen Dingen zu gut um wahr zu sein klingt. Ich habe schon mal ein anderes Buch von ihm gelesen, dass ich sehr sehr stark fand:


    Die Grenzen der Toleranz (Michael Schmidt-Salomon)

    ASIN/ISBN: 3492310311

    :lesend: Wie fühlst du dich? - Über unser Innenleben in Zeiten wie diesen Mensch (Axel Hacke) 0 / 255 Seiten

    :lesend: Das Kind in dir muss Heimat finden (Stefanie Stahl) 76 / 248 Seiten

  • Wien, Staatsoper, Dezember 1910


    Das Wasser in dem weißen Emailwaschbecken war so kalt, als hätte sich vor Kurzem noch eine dünne Eisschicht darauf befunden. Dennoch tauchte sie den rauen Waschlappen immer wieder hinein und schrubbte sich mit erbarmungsloser Härte die Haut. So lange, bis sie rot war und an besonders empfindlichen Stellen aufzuplatzen drohte.


  • "Ich sehe... ich sehe bleiche Knochen in deiner Zukunft."

    Mit düsterem Blick verkündet Madame Peony Lane die ersten Worte jener Weissagung, die Frances Adams' gesamtes Leben bestimmen wird.

    Frances sitzt stocksteif da, den Blick auf die Frau vor ihr gerichtet, obwohl ihre beiden Freundinnen schrecklich kichern müssen, weil das Ganze so theatralisch ist und von den bunten Perlenvorhängen bis hin zu Peony Lanes Seidenturban förmlich nach Hollywood schreit.


    "Drei Dinge sind uns aus dem Paradies geblieben: die Sterne der Nacht, die Blumen des Tages und die Augen der Kinder!" (Dante Alighieri)

  • In ihren sechsundzwanzig Lebensjahren hatte Gale Grayson noch nie an der Beerdigung eines Mannes teilgenommen. Männer hatten in ihrer Kindheit und Jugend stets im Hintergrund gestanden: Ihre Großmutter und ihre Tanten pflegten am Küchentisch um einen Krug Eistee herumzusitzen und über Männer zu reden, wie sie über Katzen und Gott redeten, indem sie den einen hier abtaten und den anderen dort verfluchten.


  • 13. NOVEMBER 2012

    DIENSTAG

    DEN BURG, TEXEL

    Als Notarin Marjon Hoogeberg ihr Büro verliess, sah sie durch die Glasscheibe des Wartezimmers eine Frau, die ihr nicht bekannt vokam. Eine zierliche Frau in einem grünen Wachsmantel und mit halblangem, grau meliertem Haar. Marjon schätzte sie auf Anfang siebzig.

  • Tina


    Es hatte in der Nacht geschneit, und die Nordseeinsel Wangerooge wirkte wie mit Puderzucker bestäubt. Die Dünengräser waren unter dem fein ziselierten Eis erstarrt. Selbst die Vögel machten einen erstaunten Eindruck, denn der Winter kam nur selten bereits Ende November und dann noch so stimmungsvoll daher.


  • Hamburg, Ende Mai 1920

    Selten zuvor war Vera Albers so froh gewesen, einen ihrer Klienten gehen zu sehen. Dicke Regentropfen prasselten an die Scheibe ihres Sprechzimmers, aber das hinderte sie nicht daran, die beiden Fensterflügel weit zu öffnen. Sie musste dringend den mief der letzten Sitzung vertreiben und genoss die Gischt des reinigenden Regens im Gesicht.


  • Im Schutz seines Hauses saß der Maulwurf vor dem Feuer und röstete seine Zehen. Draußen heulte der Winterwind und puffte hin und wieder etwas Ruß den Kamin hinab, während der Maulwurf darüber nachdachte, dass sein Leben fast perfekt war, aber eben nur fast. "Ich darf nicht unfreundlich sein", sagte er zu sich selbst, allerdings mit einem leichten, für ihn untypischen Stirnrunzeln, denn er fand es schwierig, nicht unfreundlich zu sein.


    „Furcht führt zu Wut, Wut führt zu Hass. Hass führt zu unsäglichem Leid.“

    - Meister Yoda

  • Samson konnte nicht schlafen, also schlich er mitten in der Nacht aus dem Schlafzimmer – auf Zehenspitzen, denn er wollte Nadjeschda nicht wecken. Erst ging er ins Wohnzimmer, dann in die Küche. In der Dunkelheit spürte er plötzlich etwas Kaltes an der Hand – er hatte Doktor Watruchins kupfernen Messeimer gestreift.