Jose Saramago: Die Stadt der Blinden

  • Klappentext:


    Irgendwo, in einer namenlosen Stadt, ist eine Epidemie ausgebrochen. Mehr und mehr Menschen verlieren aus unerklärlichen Gründen ihr Augenlicht. Der Staat greift ein, die Erblindeten werden in ein leerstehendes Irrenhaus gebracht und müssen dort unter unmenschlichen Bedingungen leben. Soldaten riegeln das Gelände ab und lassen niemanden hinaus. In dieser Situation scheinen die letzten moralischen Skrupel der Insassen dem nackten Überlebenskampf zum Opfer zu fallen.


    Meine Meinung:


    Überraschenderweise ist das Buch sehr spannend und ich konnte es nicht aus der Hand legen.


    Die Fragestellung des Romans ist allerdings nicht sehr originell: Was passiert mit der Moral der Menschen, wenn sie unter Ausnahmebedingungen eingesperrt sind? In dieser Geschichte gibt es eine Gruppe von "menschlichen Menschen" aus deren Sicht die Handlung auch erzählt wird. Viele andere aber verkommen zu Kriminellen oder gar Tieren (obwohl letztere gar nicht mal schlecht wegkommen, im Vergleich zu den Menschen). Überhaupt müssen die Blinden fast alles über sich ergehen lassen, was der Menschheit so einfällt an Grausamkeiten.


    Gegen Ende trägt Saramago für meinen Geschmack dann aber zu dick auf. Die dauernden Dialoge, die als solche gar nicht gekennzeichnet sind, drehen sich fast nur noch darum, was Blindheit für die Menschen bedeutet, körperlich und moralisch. Da ist es dann auch egal, dass man kaum noch nachvollziehen kann, wer gerade spricht, es geht nur um den Diskurs, der aber nicht besonders viel hergibt.


    Mir hat Die Stadt der Blinden gefallen, weil Saramago es geschafft hat, eine spannende Geschichte zu erzählen und die Fragen der Menschlichkeit darin einzubetten. Ob es dazu nötig war, eine so grausame Grundsituation zu schaffen, weiß ich nicht, das kam mir übertrieben vor. Ebenso wurden mir die Dialoge über Menschlichkeit und Blindheit zu viel, die auch ein Ergebnis vermissen ließen.

  • Das ist eines meiner absoluten Top 10-Bücher.


    Es hat mich damals, wie ich es gelesen habe, sehr ergriffen und konnte tagelang kein neues Buch mehr anfangen. Der Mann hat zurecht den Nobelpreis gewonnen - so schreiben müßte man können.
    Wie der die Beklemmung, die Angst und das Chaos rüberbringt ist einfach brilliant.
    Ich nehme mal an, daß er das Leben eines Blinden selbst ausprobiert hat, denn er kann sich in diesen Zustand wirklich sagenhaft reinversetzen.



    Qua unterliegende Thematik erinnert es mich sehr an "Die Pest" von Albert Camus, das ich auch zu meinen Topfavoriten zähle.

  • Zitat

    Original von Wilma Wattwurm
    Das ist eines meiner absoluten Top 10-Bücher.



    Jetzt war ich ja doch neugierig geworden... und habe gerade entdeckt, dass es das Buch jetzt auch als Sonderausgabe (kartoniert mit Lesezeichen u. Postkarte) für nur 7,-- € gibt. Vielleicht überzeugt das ja noch andere Eulen - mich haben eure Kommentare jedenfalls schon restlos begeistert :-)


    P.S. Setze einfach auch mal die ISBN-Nr. der Sonderausgabe ein u. hoffe, dass es funktionuckelt :grin


    LG
    Goldie

  • Meine Meinung:


    Das Ende der Menschlichkeit


    Ein Autofahrer erblindet plötzlich, während er an der Ampel auf grün wartet. Es ist kein „normales“ Erblinden; der Mann sieht weiß, nur noch weiß, mit geöffneten wie geschlossenen Augen. Ein anderer Mann, der ihm hilft, seine Wohnung zu finden, klaut ihm danach das Auto, aber auch dieser Mann verliert seine Sehkraft, wie der Augenarzt, den der „erste Blinde“ aufsucht, und es folgen andere.
    Die Regierung ergreift schnell drastische Schritte; die ersten sechs Blinden und alle Menschen, die mit ihnen Kontakt hatten, werden interniert, in ein ehemaliges Irrenhaus verbracht, im rechten Flügel die Blinden, im linken die vermeintlich Infizierten. Um weitere Infektionen zu vermeiden, beschränkt man sich darauf, den „Kranken“ Essen in Kisten bereitzustellen. Sonstige Hilfe gewährt man ihnen nicht. Wie sie sich im Irrenhaus organisieren, das bleibt ihnen überlassen, und man gibt ihnen nichts als das Essen – keine Medikamente, keine Informationen, und man wird nicht einmal ihre Leichen abtransportieren.


    Rasch kommen weitere Blinde hinzu, und ebenso rasch eskaliert die Situation. Bald sind es mehrere hundert, die Essensausgabe gerät zum Drama, verunsicherte Wachsoldaten erschießen einige Insassen, die orientierungslos herumirren, die Gänge des Irrenhauses werden als Aborte genutzt, und schließlich ergreift eine Gruppe von Dieben die Initiative, reißt die Nahrungsversorgung an sich und erpreßt die anderen Blinden – zuerst um deren Wertsachen, dann um ihre Frauen. Währenddessen greift die Erblindung „draußen“ mehr und mehr um sich …


    Die Frau des Augenarztes, der vom „ersten Blinden“ aufgesucht wird, ist als einziger Mensch vom Verlust der Sehkraft verschont geblieben, aber das weiß nur ihr Mann, den sie ins Irrenhaus begleitet hat. Sie hilft den Internierten heimlich, wo sie kann, aber sie fühlt die Blindheit auf gewisse Art noch viel stärker, weil sie all das sehen muß, was die Menschen in ihrer Hilflosigkeit und existentiellen Angst miteinander tun.


    Diese apokalyptische Parabel liest sich anfangs recht sperrig, weil Saramago keinerlei Namen gebraucht, Sätze einfach aneinanderreiht, Dialoge nicht von Handlung trennt, und zuweilen philosophierend eingreift, aber das Buch vereinnahmt dann rasch, so rasch, daß man es kaum spürt und die vermeintlichen stilistischen Widrigkeiten schnell vergißt, sogar zu genießen beginnt. Das Szenario ist enorm dicht, beängstigend und spannend, von hoher Detaildichte und Glaubwürdigkeit. Vergleichbar mit Camus’ „Die Pest“ stellt der Literaturnobelpreisträger die Frage, wie weit Menschen zu gehen bereit sind, wenn die sozialen Strukturen zerbrechen, und die Antwort lautet: Beliebig weit.


    Ein faszinierendes, beängstigendes, sehr eindringliches Buch, dessen erklärungsarmes Ende den Eindruck kaum schmälert.

  • Eure Meinungen machen mich schon ganz neugierig .. hab das Buch auf meinem SUB liegen, aber hab mich bisher noch nicht rangetraut, weil mich das Thema zumindest auf den ersten Blick nicht wirklich anspricht.
    Andererseits hab ich schon so viele gute Meinungen darüber gehört .. ich glaube, lange werde ich es nicht mehr vor mir herschieben :-)

    Nun, Junge, willst du wirklich lernen und die tiefsten Geheimnisse von Raum und Zeit in Erfahrung bringen?
    »Ja, Herr. Ich glaube schon, Herr.«
    Gut. Der Stall befindet sich hinter dem Haus, und die Schaufel hängt direkt neben der Tür.

  • Hat mich sehr bewegt, das Buch. Um nicht zu sagen schockiert. Wie weit geht der Mensch, wenn das Leben, ganz alltägliche und selbstverständliche Dinge, auf dem Spiel stehen... Sehr eindringlich geschrieben. Automatisch kamen mir geschilderte Situationen aus KZs in den Sinn, doch kann man beides natürlich nicht eins zu eins nebeneinander stellen. Unheimlich beängstigend, brutal ehrlich, eben menschlich.

  • Hab mir das Buch letzte Woche gekauft, die fehlenden Anführungszeichen wenn die wörtliche Rede beginnt stören mich aber total. Darum hab ich das Buch auch erstmal wieder weggelegt, vielleicht lese ich es irgendwann später.

  • Ich habe dieses Buch innerhalb weniger Tage ausgelesen, es ist großartig. Mit dem Schreibstil hatte ich keine Probleme, man gewöhnt sich sehr rasch an die direkte Rede ohne Satzzeichen (offenbar ein Saramago-Charakteristika, denn auch beim "Doppelgänger" war dies schon der Fall). Ebenso sei erwähnt, dass keine der Personen einen Namen hat, die Personen werden mit Merkmalen behaftet ("die Frau des Arztes", "die Frau mit der schwarzen Brille", "der schielende Junge", usw.)


    Gebannt von der ersten bis zur letzten Seite harrt man dem Geschehen. Die Beschreibung der Zustände in der Anstalt sind derart heftig, dass auch der Leser mit dem Würgereiz zu kämpfen hat.


    Anstatt sich zu solidarisieren, beginnen sich einzelne Gruppen der Inhaftierten gegenseitig zu bekämpfen, es herrscht Gewalt, Angst, Hoffnungslosigkeit. Der totale Zusammenbruch der Gesellschaft beginnt, die tiefsten Abgründe der menschlichen Seele tun sich auf. "Wenn wir nicht ganz wie Menschen leben können, sollten wir zumindest versuchen, nicht ganz wie Tiere zu leben“, das ist die Aussage der Frau des Augenarztes, die mit allen Mitteln versucht, ordnend einzugreifen, aber auch kurz davor ist, den Verstand zu verlieren.


    Das Fazit der Story? Die Menschheit lernt offenbar nicht aus der Geschichte, wenn es um den eigenen Kopf und Kragen geht, schreckt der Mensch vor nichts - aber auch schon gar nichts - zurück und doch gibt es immer wieder einen Funken Menschlichkeit und Hoffnung (verkörpert durch die Figur der Frau des Arztes).

  • Ich habe dieses Buch jetzt auch durch, allerdings habe ich schon einige Zeit daran gelesen.


    Der Autor schaffte eine richtig unheimliche Atmosphäre, ich hatte immer wieder das Gefühl, dass ich die nächste bin, die erblindet.


    Ich musste immerzu an den Film „Das Experiment“denken, bezüglich der Frage wozu Menschen denn alles fähig sind. Apropos Film, das Buch wäre sicher auch eine gute Story für einen Film.


    Der Satzbau war zwar etwas gewöhnungsbedürftig, auf der anderen Seite aber auch sehr interessant. Ich möchte wissen, ob das Buch im Original einen ähnlichen Satzbau aufweist. Dass der Autor ohne Namen auskommt, fand ich klasse.


    Zwischendurch plätschert die Handlung allerdings ein wenig dahin.



    Der Satz am Ende: „......wir sind blind, Blinde, die sehen, Blinde, die sehend nicht sehen.“ hat mir wahnsinnig gut gefallen.


    Im Großen und Ganzen war es ein außergewöhnliches Buch, welches sich gelohnt hat zu lesen.

  • patricia


    Würdest Du Dir den Film ansehen, wenn sie´s verfilmen würden?


    Ich glaub, ich nicht. ZU krass. Das Buch ist seit Jahren meine Number one, aber ich verschenke es nicht, dafür ist es zu... speziell?


    Die Bilder, die sich durch seine Worte in mein Gehirn gebrannt haben, würde ich nicht auf Leinwand sehen wollen...

    „An solchen Tagen legt man natürlich das Stück Torte auf die Sahneseite — neben den Teller.“

  • „Das Experiment“ ist ein sehr eindrücklicher Film, der ja bekanntlich aus dem wahren Leben stammte. (Wie verrückt wir doch sind) .. und dieses Buch ist eine Fiktion...? - oder steckt da doch mehr dahinter? Ich denke ja!


    Aber Saramago's Geschichte als Film? :alarm :yikes Bitte, bitte nicht!


    Diese Befürchtung hatte ich, als ich dieses Buch vor Jahren gelesen hatte.


    Also da kann ich mich nur bei:

    Zitat

    Original von killerbinchen
    patricia .... Das Buch ist seit Jahren meine Number one, aber ich verschenke es nicht, dafür ist es zu... speziell?
    Die Bilder, die sich durch seine Worte in mein Gehirn gebrannt haben, würde ich nicht auf Leinwand sehen wollen...


    anschließen. Diese meine Bilder, die ich während und danach hatte und immer noch habe - zu schade.
    Es war doch Wahnsinnig! Mitzuerleben wie ein neuer Mikrokosmos entsteht.

  • Meine Meinung: Völlig überbewertetes und überinterpretiertes Buch. Den Schreibstil finde ich einfach nur zum davonlaufen. Monstersätze ohne Punkt und Komma, die direkte Rede in die indirekte vermischt, keine Namen...


    Kalt, ohne Herz und Gefühl geschrieben. Richtig in Fahrt kommt Saramago nur, wenn er seine in diesem Zusammenhang völlig unpassenden Sexphantasien auslebt. (Klar, in so einer Krisensituation haben die Menschen natürlich nichts besseres zu tun, als sich wie Karnickel zu benehmen :rolleyes). Ich weiß, der Mann hat den Literaturnobelpreis bekommen, ich kann ihm aber nicht zujubeln.

  • Zitat

    Original von Warin
    Den Schreibstil finde ich einfach nur zum davonlaufen. Monstersätze ohne Punkt und Komma, die direkte Rede in die indirekte vermischt, keine Namen...


    Kalt, ohne Herz und Gefühl geschrieben.


    So habe ich es auch empfunden, bis Seite 50 ca., weiter konnte ich nicht lesen, weil ich den Stil so unbeschreiblich anstrengend fand.


    Auch ein anspruchsvolles Buch sollte für mich unterhaltsam sein, was hier überhaupt nicht der Fall war.


    :wave

  • Zitat

    Original von Patricia_k34
    Ich würde mir den Film wahrscheinlich schon ansehen, aber danach auch ganz schön fertig sein. Ich habe vor kurzem "28 days later" und "Child of men" angesehen. Beide Filme haben mich ziemlich angesprochen und gingen m.M.n. in die ähnliche Richtung.


    Die Verfilmung unter der Regie von Fernando Meirelle mit Julianne Moore, Mark Ruffalo, Danny Glover u. a. hat mir gut gefallen . Es war werkgetreu und hat mir die Bilder des Romans ins Gedächtnis zurückgerufen. Ziemlich bewegend!