Der Mann, der durch das Jahrhundert fiel - Moritz Rinke

  • Titel: Der Mann, der durch das Jahrhundert fiel
    Autor: Moritz Rinke
    Verlag: Kiepenheuer & Witsch (Febr. 2010)
    Seiten: 481
    Preis: € 19,95



    Autorenporträt:
    Moritz Rinke, 1967 in Worpswede geboren, Studium "Drama, Theater, Medien" in Gießen. Seine Reportagen, Geschichten und Essays (als Buch erschienen unter dem Titel "Der Blauwal im Kirschgarten" und "Das große Stolpern") wurden mehrfach ausgezeichnet. Sein Stück "Republik Vineta" wurde 2001 zum besten deutschsprachigen Theaterstück gewählt und 2008 für das Kino verfilmt. Im Sommer 2002 fand in Worms die Uraufführung von "Die Nibelungen" statt, die in den Folgejahren ein großes Publikum begeisterten. "Café Umberto" wurde 2005 von neun Theatern zur Aufführung gebracht. Einige seiner Stücke sind in der "Trilogie der Verlorenen" erschienen. ZDF und ARTE drehten einen Film über den Autor ("Mein Leben - Moritz Rinke", Erstausstrahlung 13.1.2008). Moritz Rinke lebt in Berlin und ist Gastprofessor für Szenisches Schreiben am Deutschen Literaturinstitut Leipzig.


    Kurzbeschreibung:
    Worpswas? - Worpswede! Moritz Rinke legt ein furioses Romandebüt vor. Stammt das angebissene Stück Butterkuchen im Tiefkühlschrank tatsächlich von Willy Brandt? Kann ein toter Onkel noch ein Kind zeugen? Wurde die schöne Kommunistin Marie von der Gestapo abgeholt oder von der eigenen Familie im Teufelsmoor vergraben? Und wie werden die Seelen der Menschen aufbewahrt?


    Ausgerechnet als Paul Wendland in Berlin mit seinem Leben und seinen kuriosen Kunstprojekten in die Zukunft starten will, holt ihn die Vergangenheit ein. In Worpswede drohen das geschichtsträchtige Haus seines Großvaters und sein Erbe im Moor zu versinken - samt lebensgroßen Bronzestatuen von Luther über Bismarck bis zu Max Schmeling und Ringo Starr.


    Die Reise zurück an den Ort der Kindheit zwischen mörderischem Teufelsmoor, norddeutschem Butterkuchen und traditionsumwitterter Künstlerkolonie nimmt eine verhängnisvolle Wendung. Vergessen geglaubte Familienfragen, aus dem Moor steigende historische Gestalten und die skurrile Begegnung mit einem mysteriösen Vergangenheitsforscher spülen ein ungeheuerliches Geflecht an Lügen und Geheimnissen aus einem ganzen Jahrhundert an die Oberfläche.


    Moritz Rinke rührt sanft, aber vollkommen anarchisch und mit einer umwerfenden Tragikomik an die Lebensmotive, die Geschlechter-, Generations- und Identitätskonflikte seiner Figuren und ihre seelischen Abgründe. Er erzählt vom Künstlerleben, von Ruhm, Verführung und Vergänglichkeit und von einem Dorf im Norden, das berühmt ist für seinen Himmel und das flache Land - und überzeugt als raffinierter Komponist einer überschäumenden, irrwitzigen Realität in diesem furiosen Romandebüt.



    Meine Meinung:
    Paul, in der Künstlerkolonie Worpswede geboren, unterhält in Berlin eine eher erfolglose Galerie. Seine Freundin zieht nach Barcelona um an einem Studienprojekt teilzunehmen. Seine exaltierte Mutter Johanna, deren Einfluss er sich gerne entziehen würde lebt auf der Kanareninsel Lanzarote und gibt irgendwelche Kurse zur Bewußtseinserweiterung, von dort schickt sie ihm per Post Salatköpfe ins "vitaminlose" Berlin.
    So weit so gut - als ihn eines Tages der Anruf mit der Mitteilung "das Erbe sinkt" erreicht.
    Das Haus in dem Paul aufgewachsen ist, der Künstlergarten den sein Großvater angelegt hat mit in Bronze gegossenen Figuren von Willy Brandt, Nietzsche, Max Schmeling und Ringo Star (um nur einige zu nennen) - das alles droht im Moor zu versinken.
    Also reist Paul widerstrebend an den Ort seiner Kindheit zurück um zu retten was zu retten geht.
    Irrwitzige Szenen spielen sich ab, Luther muss mit einem Seil an einem Baum festgebunden werden, ein Bauunternehmer der in der Lage ist das sinkende Haus zu retten, muss gefunden werden.
    Und zwischendrin immer die "Muttertelefonate" mit Instruktionen und Erklärungen. Überhaupt ist ihm Johanna die eine oder andere Antwort schuldig. Was z.B. passierte mit Marie, die angeblich von der Gestapo abgeholt wurde?
    Aber als wäre das alles nicht genug, beschließt Ohlrogge, der von der Mutter verstoßene Freund, die Öffentlichkeit auf die Nazivergangenheit der Künstlerfamilie hinzuweisen. Ist es nicht sein Recht, nachdem diese sein Leben gründlich verhagelt haben und er jetzt nichts mehr hat außer seine wöchentlichen Besuche im Don-Camillo-Club und seinen Frühjahr-, Sommer- und Herbstmalkursen?


    Moritz Rinke hat einen überaus komischen Roman geschrieben, der von Künstlern, Nazis und nicht zu vergessen den 68er handelt. Zwischendurch etwas langatmig, aber dennoch sehr unterhaltsam.

    Herzlichst, FrauWilli
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    Ich habe mich entschieden glücklich zu sein, das ist besser für die Gesundheit. - Voltaire

  • Eskalina ,


    ich habe "Die Vermessung der Welt" nicht gelesen und kann dir da leider nicht weiterhelfen :knuddel1

    Herzlichst, FrauWilli
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  • Was für ein großartiges Buch. Skurril, absurd, komisch, tragisch und dann doch wieder so normal alltäglich. Ich habe mich nicht eine Minute gelangweilt, allerdings kenne (und mag) ich Worpswede auch :grin Alle paar Seiten ein Déjà-Vu und irgendwie mag man Paul und auch Nullkück nur noch knuddeln. Moritz Rinke ist definitv auf meiner Beobachten-Liste und das Buch wird wohl Monathighlight.


    Mir gefiel hier wirklich alles... des Autors Schreibe, die Kapiteleinteilung, die Figuren (auch die nervigen), natürlich die Landschaft mit ihren verschrobenen Einwohnern und den Touristen (und klar kriegt der kleine Paul die immer mit Terroristen durcheinander...wobei da wohl für Worpswede kein so großer Unterschied ist :grin)... hach, toll. Kaufen, kaufen (würde Nullkück wohl sagen).


    .

  • Zitat

    Original von uert
    Was für ein großartiges Buch. Skurril, absurd, komisch, tragisch und dann doch wieder so normal alltäglich.


    ... hach, toll. Kaufen, kaufen (würde Nullkück wohl sagen).


    Okay, okay!




    .

  • Hach, ich bin immer noch begeistert! :-]



    Meine Meinung: Worpswede, die Künstlerkolonie im Teufelsmoor bei Bremen, mit dem einzigartigen Himmel, der dem „Brodem des Moores“ geschuldet ist, war Jahrelang die Heimat von Paul und seiner Familie. Sein Großvater, ein bekannter Künstler, dessen Bronzeskulpturen immer noch im Garten des Elternhauses stehen, drohen ebenso im Moor zu versinken, wie das Haus und so erhält Paul eines Tages von seiner Mutter den Auftrag, seine Galerie in Berlin zu verlassen und das Erbe der Familie vor dem Untergang zu retten.
    Doch so einfach ist das nicht, denn der Besuch in der alten Heimat weckt Erinnerungen und wirft alte Fragen wieder auf. War Willy Brand wirklich zu Besuch bei seiner Familie und hat im Garten in das Stück Butterkuchen gebissen, dass noch immer in der Tiefkühltruhe liegt? Wo ist die wunderschöne Marie geblieben, die dem Opa als Muse gedient hat und warum entdeckt er seine Augen in denen des größten Feindes seiner Familie? Die Lage spitzt sich zu, als der Großvater posthum zum Künstler des letzten Jahrhunderts ernannt werden soll und zeitgleich bei den Bauarbeiten eine Skulptur ausgegraben wird, deren ausgestreckter Arm seine Herkunftszeit nicht verhehlen kann…


    Dies ist ein Buch voller Abgründe – Abgründe, in denen die Hauptpersonen Rinkes ebenso zu versinken drohen, wie das Elternhaus von Paul und die monströsen Bronzeskulpturen seines Großvaters. Es geht um mehr als nur um eine amüsante Lebensgeschichte - immer weitere Facetten lassen sich im Laufe der fortschreitenden Handlung entdecken. So vielschichtig, wie die Charaktere seiner Figuren, sind auch die Lebenslinien, die der Autor so unglaublich perfekt in die reale Geschichte Worpswedes eingebaut hat. Oft fragt man sich, was nun Wahrheit ist, und wo die Fiktion beginnt, und ich bin so neugierig auf die Künstlerkolonie geworden, dass ich sehr viele Informationen über Worpswede nachgeschlagen habe. Es geht nicht nur um verschmähte Liebe, versprengte Ängste, um Bindungen und Verlust, sondern auch um die Verdrängung der Vergangenheit, um das Leugnen und Verleugnen einer ganzen Generation und so wird das eine ausgegraben, während das andere versinkt…
    Mit einer Mischung aus Tragik und Humor erzählt, ergeben viele kleine, am Rande geschilderte Geschichten, am Ende ein großes Ganzes und münden, um es mit Pauls Worten zu beschreiben, in einem „Akt der Befreiung“.


    Ein absolutes Highlight in diesem Jahr und eine dicke Leseempfehlung.

  • Das Buch habe ich auch schon in meinen Suchaufträgen :grin
    Danke für die schönen Rezensionen.


    :wave

    Jeder trägt die Vergangenheit in sich eingeschlossen wie die Seiten eines Buches, das er auswendig kennt und von dem seine Freunde nur den Titel lesen können.
    Virginia Woolf

  • Ich finde den Titel grossartig, ich finde das Cover grossartig, ich finde Eure Rezensionen überzeugend.....ob ich wieder einmal einen Seitensprung wagen könnte? :gruebel


    Ich schmeisse das Buch mal auf die Wunschliste.

    Avatar: James Joyce in Bronze... mit Buch, Zigarette und Gehstock.
    Diese Plastik steht auf seinem Grab. (Friedhof Fluntern, Zürich)
    "An Joyces Grab verweht die Menschensprache." (Yvan Goll)

    Dieser Beitrag wurde bereits 1 Mal editiert, zuletzt von Joan ()

  • Zitat

    Original von loquita
    Wenn ich wieder Geld habe, ist es meins :-]


    Es ist jeden Cent wert :wave

    Herzlichst, FrauWilli
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  • Da ich Worpswede kenne und in der Nähe wohne, musste ich nach Euren Rezensionen das Buch einfach lesen. :-) Für mich ist es das Highlight des Jahres. Die Personen fand ich alle sehr sympatisch, trotz Ihrer Schwächen oder Macken. Der Autor beschreibt das damalige Leben in der Künstlerkolonie genau so, wie ich es mir vorstelle.

  • Ganz so euphorisch wie meine Vorredner hat mich das Buch nicht zurückgelassen. Klar, es ist unterhaltsam und liest sich gut, aber irgendwie häuften sich am Ende meiner Meinung nach zuviele "Zufälle" ... Von mir bekommt's jedenfalls gute 8/10 Punkte.

    "Es gibt einen Fluch, der lautet: Mögest du in interessanten Zeiten leben!" [Echt zauberhaft - Terry Pratchett]

  • Titel: Der Mann, der durch das Jahrhundert fiel
    Autor: Moritz Rinke
    Verlag: Kiepenheuer und Witsch
    Erschienen: Februar 2010
    Seitenzahl: 481
    ISBN-10: 3462041908
    ISBN-13: 978-3462041903
    Preis: 19.95 EUR


    Das sagt der Klappentext:
    Ausgerechnet als Paul Wendland in Berlin mit seinem Leben und seinen kuriosen Kunstprojekten in die Zukunft starten will, holt ihn die Vergangenheit ein. In Worpswede drohen das geschichtsträchtige Haus seines Großvaters und sein Erbe im Moor zu versinken - samt lebensgroßen Bronzestatuen von Luther über Bismarck bis zu Max Schmeling und Ringo Starr. Die Reise zurück an den Ort der Kindheit zwischen mörderischem Teufelsmoor, norddeutschem Butterkuchen und traditionsumwitterter Künstlerkolonie nimmt eine verhängnisvolle Wendung. Vergessen geglaubte Familienfragen, aus dem Moor steigende historische Gestalten und die skurrile Begegnung mit einem mysteriösen Vergangenheitsforscher spülen ein ungeheuerliches Geflecht an Lügen und Geheimnissen aus einem ganzen Jahrhundert an die Oberfläche.


    Der Autor:
    Moritz Rinke, geboren 1967 in Worpswede, studierte Angewandte Theaterwissenschaft in Gießen. Gleichzeitig schrieb er Kolumnen und Reportagen. Von 1994 bis 1996 arbeitete er als Volontär, anschließend als Redakteur beim Berliner Tagesspiegel. Moritz Rinke lebt als freier Autor in Berlin.


    Meine Meinung:
    Moritz Rinke legt mit diesem Buch seinen ersten Roman vor und man kann nur hoffen, dass es nicht bei diesem einen Roman bleibt. Rinke erzählt diese tragisch komische Geschichte sehr einfühlsam und man merkt sehr schnell, dass ihm das Künstlerdorf Worpswede sehr ans Herz gewachsen ist und das liegt sicher nicht nur daran, dass er dort 1967 geboren wurde. Seine handelnden Personen sind liebevoll gezeichnet und scheinen das Charismatische dieser Landschaft um das Teufelsmoor bei Bremen zu verkörpern. Rinke macht deutlich, dass das Verstehen der Vergangenheit notwendig ist um die Gegenwart zu begreifen. Aus diesem Grunde nimmt er den Leser immer wieder mit in die Vergangenheit, Ausflüge die mehr sind als nostalgische Erinnerungsfahrten. Das Verhalten der handelnden Personen ist im Positiven und auch im Negativen zutiefst menschlich. Und auch die Rätsel, die im Moor versunken schienen, kommen irgendwann wieder an die Oberfläche. Ein sensibles Buch, durchaus an manchen Stellen auch augenzwinkernd erzählt, der Humor wirkt still und wird immer richtig dosiert. Das vielleicht etwas andere Buch – sehr lesenswert.

    Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst. (Evelyn Beatrice Hall)


    Allenfalls bin ich höflich - freundlich bin ich nicht.


    Eigentlich mag ich gar keine Menschen.

  • Ich bin nicht so begeistert von diesem Buch.
    Irgendwie fehlt mir ein Höhepunkt und ein AHA-Erlebnis. Den Titel finde ich auch total unpassend! Das letzte Viertel habe ich nur noch quergelesen, denn es war doch klar wo Marie ist und von wem Nullkück ist und Paul sowieso. also keine Überraschung - jedenfalls für mich.

  • Danke, träumerle, daß Du den Thread nach oben geholt hast. Ich habe Mitte März die Rezi von Frau Willi gelesen und sofort gewußt, daß dieses die richtige Lektüre für das lange Osterwochenende ist.


    Am Ende übertraf es sogar noch die ohnehin schon hohen Erwartungen. Ich kann mich Uert, und den anderen begeisterten Rezensenten nur anschließen:


    Zitat

    Original von uert
    Was für ein großartiges Buch. Skurril, absurd, komisch, tragisch und dann doch wieder so normal alltäglich.


    träumerle : Ja, manche Entwicklungen in dem Buch sind vorhersehbar. Ich empfand das Buch allerdings auch nicht wie einen Krimi, wo es dann am Ende die große Auflösung und ein Aha-Erlebnis gibt. Die Geschichte läuft auf das im Prolog schon stark angedeutete Ende hinaus. Wie heißt es so schön "Der Weg ist das Ziel".


    Trotzdem gab es für mich in dem Buch eine Menge Überraschungen, vielleicht nicht unbedingt am Ende des Buches als große "Auflösung", aber im Kleinen während des ganzen Buches schon.


    Für mich ist "Der Mann, der durch das Jahrhundert fiel" ein absolutes Highlight in diesem Jahr - bis dato das Beste, aber es liegen ja noch ein paar Lesemonate vor uns...

    "Wie kann es sein, dass ausgerechnet diejenigen, die alles vernichten wollten, was gut ist an unserem Land, am eifrigsten die Nationalflagge schwenken?"
    (Winter der Welt, S. 239 - Ken Follett)