Die deutsche Sprache: Irrungen und Wirrungen

  • Zitat

    Original von made
    Klasse, danke, magali!
    Bei der Gelegenheit frage ich mal nach der korrekten Verwendung des Perfekt im Hochdeutschen. Ich weiß, er wird umgangssprachlich oft anstelle des Imperfekt benützt (oder benutzt?).
    Imperfekt ist doch die Erzählzeit, und Plusquamperfekt drückt die Vorzeitigkeit aus.


    Eine Perfektform drückt doch eigentlich immer aus, dass die beschriebene Handlung in der Vergangenheit angefangen hat und bisher noch andauert (zumindest ist es im Englischen so).
    Zum Beispiel: "Ich habe den Bus zur Arbeit genommen." Und "Ich nahm den Bus zur Arbeit."


    Ersteres heißt für mich, dass ich mich entweder noch im Bus oder am selben Tag auf der Arbeit befinde (rein vom Sprachgefühl her), während der zweite Satz für mich eher so erscheint, als wäre das ganze schon eine Weile her oder ich beginne gerade (wie du schon schriebst, "Erzähltempus") eine Anekdote.


    Tatsächlich erscheint es mir, als würde das Präteritum (und, weil ich ihn gerade verwendet habe, auch der Konjunktiv) eigentlich gar nicht mehr verwendet werden. Die Modus- bzw. Tempus-Partikel "habe" und "würde" sind offenbar viel leichter zu verwenden, als wenn man erst eine neue Form des zu verwendenden Verbs bilden muss.

    Sorry, I can't hear you over the sound of my awesomeness. :putzen

    Dieser Beitrag wurde bereits 1 Mal editiert, zuletzt von Dori ()

  • Zitat

    Original von Dori
    Die Modus- bzw. Tempus-Partikel "habe" und "würde" sind offenbar viel leichter zu verwenden, als wenn man erst eine neue Form des zu verwendenden Verbs bilden muss.


    Das ist wohl der Übergang von einem synthetischen zu einem analytischen Sprachbau (ich habe in Wikipedia nachgelesen :-])

  • Groupie


    das finde ich jetzt aber wirklich nett. Wie bei Dori?
    :-)


    Also sind wir allesamt PartnerInnen im Great Vowel Shift und nicht in der mittelhocheutschen Lautverschiebung.
    Uff!
    :lache


    Anglistik war aber nur ein Neben - Nebenfach von mir und außerdem ist es hundert Jahre her.


    made


    Präteritum/Imperfekt benutze ich konsequent nur schriftlich. In der gesprochenen Sprache verwende ich Perfekt, mit wenigen Ausnahmen. Bei 'sein' z.B.
    'Ich war schon wieder eeewig im Eulenforum.'


    Analytischer und systematischer Sprachbau?
    Bei so etwas wird mir schwindelig.
    :kopfdreher



    :wave


    magali

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

  • Nochmal zu erschreckt / erschrocken.


    magali Ich finde es schon etwas oberlehrerhaft den Duden zu zitieren, aber dann keine Beispiele für den Gebrauch anführen zu können/wollen.


    Deshalb sei an dieser Stelle die Antwort des Genitivbewahrers Bastian Sick zu diesem Thema zitiert (Zwiebelfisch, Spiegel Online):



    Also eigentlich ganz einfach. Aktivum erschreckt, Passivum erschrocken. So ist es im guten Deutsch. Im schlechten darf man alles ;-)



    Edit: Übrigens ähnlich wie dem Verb "gehangen" geht es auch dem Verb "geschalten". Wie oft hört mann: "Mein Computer ist ausgeschalten" :yikes

  • Zitat

    Original von magali


    Analytischer und systematischer Sprachbau?
    Bei so etwas wird mir schwindelig.


    magali


    Synthetischer Satzbau haben Sprachen wie Latein und teilweise Deutsch, die ihre Verbformen in Kasus, Numerus und Genus durch an einen Wortstamm angehängte Endungen bilden, z. B. du geh-st.


    Im analytischen Satzbau werden diese Verbmerkmale durch eigene Wörter ausgedrückt, z.B. du bist gegangen (ein eigenes Wort -bist- für das Perfekt)

  • Zitat

    Original von arter
    Nochmal zu erschreckt / erschrocken.


    :gruebel Do ho i mi owa iatzt gschreggt!


    Und i staun wida amoi, wos ma mit soana sproch ois tuan ko.


    :rolleyes *kopfschittl und o*

    DC :lesend


    Heinrich August Winkler: Geschichte des Westens I


    ...Darum Wandrer zieh doch weiter, denn Verwesung stimmt nicht heiter.
    (Grabinschrift F. Sauter )

  • made


    ich weiß. Trotzdem wird mir schwindelig.
    Deswegen muß ich dauernd Bücher konsultieren für solche Fragen. Ich bewundere alle, die sich so etwas merken können und damit arbeiten.



    @MagMa


    Wunderherrliche Varietät. :lache
    Ich glaube, den Satz lerne ich auswendig.
    Danke dafür.



    arter


    wir beide haben einfach unterschiedliche Auffassungen von Didaktik.
    Du gibst Anwendungsbeispiele vor.
    Ich gebe die wichtigen Grundinformationen und erwarte von meinen Gegenüber, daß sie aktiv werden und sie selbst anwenden.
    Ich bin sehr für Eigenständigkeit und Selbständigkeit. Frontalunterricht war meine Sache nie.
    Bei Dir hat meine Methode sichtlich gewirkt, Du hast Dich auf die Suche nach Anwendungsbeispielen gemacht.



    'Ausgeschalten' mag nicht anerkannt standardsprachlich sein, regional ist es durchaus üblich. Solange es nicht in der Schriftsprache auftaucht, ist es völlig in Ordnung, es zu verwenden.
    Es ein Verb, bei dem die ursprünglich starke Form des Partizips, nämlich 'geschalten', durch die schwache ersetzt wurde, 'geschaltet'.
    Sagen kann man 'geschalten' jedoch, je nach dem, wo eine herkommt.


    Ich bin sehr dafür, daß SprecherInnen möglichst viele Register kennen und einsetzen. Ich mag Sprache bunt. Gesprochene Sprache sowieso. Ich will kein standardisiertes Sprachprogramm auf zwei Beinen vor mir.
    Wollte ich jedesmal zusammmenzucken, wenn sich jemand im Gespräch anders ausdrückt als ich, hätte ich abends Muskelkrämpfe.
    Ich genieße Varietäten und Unterschiede.


    Texte verhunzen ist etwas anderes.



    Ich überlege gerade:
    ich verwende 'schalten' beim Sprechen kaum. Ich mache etwas an oder ich mache etwas aus.



    :wave


    magali

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

  • Von wollen kann beim Zusammenzucken gar keine Rede sein. Und es geht auch gar nicht darum, dass jemand so reden muss wie ich. Niemals nicht. Aber es gibt eben so ein paar Konstruktionen, die ich gar nicht hören kann/will/möchte.


    Die Perfekt-Präteritum-Debatte hatten wir hier übrigens schon irgendwo am Anfang. Das war sehr ausführlich, wenn ich mich recht erinnere.


    @ magali: Germanistik fand ich nie so spannend. Und ich war von Deutsch schon in Schule angenervt. Darum hätte ich das niemals studiert. Wobei ich mir manchmal denke, dass ich jetzt sicher mehr über "fremde" Sprachen weiß als über meine Muttersprache. :gruebel :grin

  • Groupie


    Du sprichst einen wichtigen Punkt an, Mehrsprachigkeit. Ich glaube, daß die Kenntnis von Fremdsprachen auf die eigene zurückwirkt.
    Von schwachen und starken Verben und Substantiven habe ich im Deutschunterricht nie gehört. Das lernte ich mit Fremdsprachen.
    Ehrlich gesagt, war ich total verdutzt, als ich eines schönen Tages darauf kam, daß es so etwas im Deutschen auch gibt.
    Tempora, vor allem die Feinheiten, wurden mir erst durch die Beschäftigung mit Fremdsprachen richtig bewußt, weil in anderen Sprachen auf ihre Einhaltung oft genauer geachtet wird.


    Man entdeckt also Strukturen und ihre Funktion in der eigenen Sprache, weil man via Fremdsprache aufmerksam wird.
    Man entdeckt Bedeutungen von Wörtern, überhaupt erweitert sich das Vokabular immens in der eigenen, weil bei den fremden Vokablen mehere Bedeutungen ausgewiesen werden.


    Vor allem aber lernt man durch die Fehler, die man prompt macht. Verwechselt deutschen und englischen Satzbau, englische und französische relative Anschlüsse (ich habe eine Zeitlang bei französischen Sätzen analog zum Englischen das Relativpronomen weggelassen, au weia!).
    Verwendet Vokabeln aus der Fremdsprache, weil einer das deutsche Wort vielleicht nur passiv bekannt ist. Oder nicht einfällt, weil man in der Fredmsparche angekomen ist und 'fremd' denkt.
    Man lernt viel über Klang, Intonation, Stil.


    Hier spielte dann auch wieder die Frage nach einer Ästhetik, die Salonlöwin aufgeworfen hat, eine wichtige Rolle.


    Spannend.
    Gute Ergänzung, danke.



    :wave


    magali

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

  • :write Ja, das kann ich so unterschreiben.


    Leider wird viel zu oft vergessen oder ignoriert, dass Schüler, die ihre Muttersprache nicht (vernünftig) beherrschen, auch keine Fremdsprachen lernen können. Wie oft habe ich bei der Nachhilfe schon festgestellt, dass die deutsche Grammatik überhaupt nicht klar ist. Und wie sollen Schüler Abweichungen der Fremdsprachen lernen, wenn sie gar nicht wissen, wie es in ihrer Muttersprache richtig ist. Oft sind also wirklich nicht die Fremdsprachen an sich das Problem. Offensichtlich wird die deutsche Grammatik viel zu sehr vernachlässigt. Das ist eigentlich sehr traurig.

  • Zitat

    Original von Groupie
    ...


    Leider wird viel zu oft vergessen oder ignoriert, dass Schüler, die ihre Muttersprache nicht (vernünftig) beherrschen, auch keine Fremdsprachen lernen können. Wie oft habe ich bei der Nachhilfe schon festgestellt, dass die deutsche Grammatik überhaupt nicht klar ist. Und wie sollen Schüler Abweichungen der Fremdsprachen lernen, wenn sie gar nicht wissen, wie es in ihrer Muttersprache richtig ist. Oft sind also wirklich nicht die Fremdsprachen an sich das Problem. Offensichtlich wird die deutsche Grammatik viel zu sehr vernachlässigt. Das ist eigentlich sehr traurig.


    Ja, in allen Punkten, bis hin zum 'traurig'.


    Ich fürchte, Grammatik ist genauso angstbesetzt wie Mathematik. Es ist schwierig, je mehr man sich darin vertieft, desto schlimmer wird's. Ein Gutteil davon ist stures Lernen und kaum hat man's endlich begriffen, kommt jemand und sagt: kommt darauf an. :lache
    Dann ist strikt Verbotenes plötzlich doch erlaubt.


    Schwierig zu unterrichten. Grenzen und Freiheit gleichermaßen. Sapnnung und Langeweile.
    Ich habe sehr lange gebraucht, bis ich begriffen habe, das Sprache ohne Grammatik gar nicht möglich ist. Wie wichtig es ist, daß viele kleine Rädchen ineinandergreifen, um Verständigung zu ermöglichen.
    Ich habe unverändert einen Heidenrespekt vor denen, die lustig und scheinbar mühelos im Gebäude der Grammatik herumklettern, ohne zu stürzen und sich das Genick zu brechen.
    Ich hole mir immer noch jede Menge Prellungen, dabei bin ich über die untersten Etagen nie hinausgekommen.


    :lache



    :wave


    magali

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

  • Ich bin so froh, dass ich eine sehr gute Freundin habe, die eine großartige Germanistin (und wohl der intelligenteste Mensch, den ich kenne) ist. Das führt zwar häufig zu stundenlangen Diskussion über Sprache, aber das ist ungemein praktisch. Wenn uns manchmal jemand zuhören könnte, der würde uns für leicht gestört halten - oder vielleicht auch schwer ;-).

  • Zitat

    Original von magali
    Ich fürchte, Grammatik ist genauso angstbesetzt wie Mathematik. Es ist schwierig, je mehr man sich darin vertieft, desto schlimmer wird's. Ein Gutteil davon ist stures Lernen und kaum hat man's endlich begriffen, kommt jemand und sagt: kommt darauf an. :lache
    Dann ist strikt Verbotenes plötzlich doch erlaubt.
    magali


    Das ist auch das größte Problem für die Estsemester in Germanistik. Es gibt nun einmal nicht DIE Grammatik des Deutschen. Es gibt viele verschiedene Grammatiken. Normative und deskriptive und auch an der Uni folgen die Dozenten und ehrenden jeweils ihren Lieblingsgrammatikern.
    Bei mir an der Uni haben die Germanistik Erstsemester in ihrem ersten Jahr sowohl eine Vorlesung in "Einführung in die germanistische Linguistik", als auch eine Übung in Grammatik. Ich habe einige Zeit das Tutorium zur Vorlesung gehalten und dabei immer wieder die KLagen gehört:


    "Aber bei Herrn/Frau Soundso haben wir das anders gelernt. Warum kann man sich am Institut nicht einig sein und nur eine Grammatik unterrichten."


    Es hat immer einige Zeit gedauert, bis man versteht, dass es nicht nur eine Grammatik gibt, nur viele verschiedene Theorien. Ähnlich ist es bei mir momentan auch in der Morphologie, bei der ich mich hinsichtlich der Wortbildung für einen Verfechter entscheiden muss, auf den ich mich in meiner Masterarbeit beziehe.

  • @ xexos: Danke für die Idee.
    Die anderen mögen wohl nicht.


    Der Duden hilft in der nächten Angelegenheit nicht weiter; das Internet nur bedingt, aber vielleicht die Eulen, die bei der Marine gewesen sind oder segeln.


    In meinem aktuellen Roman wird an Bord eines Kriegsschiffes eine Flagge geheißt.
    Mehrfach. Hissen/gehisst ist tatsächlich nicht gemeint und eine Verwechslung kann ausgeschlossen werden.
    Nun habe ich im Netz die Aussage gefunden, dass es bei der Marine den Befehl:"Heißt Flagge!" gibt.
    Sofern das bestätigt werden kann, würde ich gern wissen, ob es einen tatsächlichen Unterschied zwischen heißen und hissen gibt.

  • Salonlöwin


    'Für Geld' klingt dermaßen vertraut für mich, daß ich mir nie überlegt habe, woher das kommt. Was ich an Nachschlagewerken im Regal stehen habe, ist wenig und hilft nicht weiter. Tut mir leid.


    Was mir in den Kopf kommt:


    'Das erledigt er für ein freundliches Lächeln.'
    'Für eine Flasche Schnaps war sie sofort dazu bereit.'


    Geht doch in die Richtung von 'gegen'.
    'Für' hat diese Bedeutung tatsächlich.


    'Hast Du eine Tablette für mein Kopfweh?'
    Gemeint ist natürlich 'gegen das Kopfweh.
    Mein heißgeliebter grüner Duden (Bd. 9: Gutes und richtges Deutsch) behauptet, daß die Verwendung 'früher' (wann immer das war) üblich war und heute umgangssprachlich.


    Schriftlich würde ich es verwenden, wenn ich will, daß etwas poetisch, altmodisch, märchenhaft klingt.



    'heißen', so behaupten die einschlägigen Sites(1) ist tatsächlich der seemännische Fachausdruck für das, was wir gemeinhin hissen nennen.
    Heißen, heißte, geheißt. Imperativ: hiss!


    1.Duden, Wiktionary, Wikipedia 'Fachausdrücke Seefahrt' und die Seite Wortschatz der Uni Leipzig. 8Die ist toll, kann ich nur empfehlen.)



    imandra777


    ach, ja. Geändert hat sich da in den letzetn 25 Jahren offenbar gar nichts.



    :wave


    magali

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

  • @ magali:


    Danke.


    Zitat

    Original von magali: Ich fürchte, Grammatik ist genauso angstbesetzt wie Mathematik.


    Vor Orthografie braucht auch niemand mehr Angst zu haben, wenn bereits in der 3.Klasse keine Diktate mehr geschrieben werden.
    Man könnte meinen, dass ich hier einen Kalauer zum Besten gebe, aber weit gefehlt. Meine Freundin mit einer Tochter in eben jenem Alter kam kürzlich mit dieser Aussage um die Ecke.
    Neue pädagogische Methoden hin oder her, beherrschen Drittklässler im Alter von 8/9 Jahren die Rechtschreibung bereits vollständig und werden Übungen damit völlig unnötig?

  • Zitat

    Original von magali
    'heißen', so behaupten die einschlägigen Sites(1) ist tatsächlich der seemännische Fachausdruck für das, was wir gemeinhin hissen nennen.
    Heißen, heißte, geheißt. Imperativ: hiss!


    Oder allgemein der militiärische:
    "Stillgestanden! Heißt Flagge!"


    Wenn der Oberst das damals vor der Truppe befohlen hat, hab ich mich immer gefragt, wie er uns hinterher auseinanderhalten will. :lache

  • Ich krame den Thread mal wieder aus, da ich über eine Formulierung gestolpert bin, die mich verunsichert.


    Kann man sagen: Ich bezweifel, ob ich den Termin morgen wahrnehmen kann?


    Mein Bauchgefühl sagt irgendwie, dass es heißen müsste: Ich bezweifel, dass ich.....
    Andererseits fänd mein Bauch auch richtig: Ich zweifel, ob ich den Termin wahrnehmen kann.

    Man möchte manchmal Kannibale sein, nicht um den oder jenen aufzufressen, sondern um ihn auszukotzen.


    Johann Nepomuk Nestroy
    (1801 - 1862), österreichischer Dramatiker, Schauspieler und Bühnenautor