'Schachnovelle' - Seiten 44 - 78

  • Leider bin ich schon durch. :-(
    Hoffentlich ist es in Ordnung, wenn ich meine Gedanken schon mal poste!?



    Ein bisschen musste ich lächeln – und es ist schon eine Portion Wehmut dabei - bei all dem, was nach dem „Wer war dieser Unbekannte?“ spekuliert wird. Könnte man heute auch noch solche Fragen stellen? Könnte man heute überhaupt noch eine solche Geschichte schreiben? Ein „berühmter Meister“ wäre wohl allzu rasch enttarnt; im Zeitalter des Internets und der sozialen Medien wäre der enge Rahmen, in dem der Schach-“Kampf“ stattfindet, allzu bald gesprengt.


    Meine Versuche, eine zeitliche Eingrenzung vorzunehmen, sind nicht unbedingt von Erfolg gekrönt. Denken würde ich an die letzten Kriegsjahre resp. kurz nach Beendigung des 2. Weltkriegs. Aber ist das wichtig? Wohl kaum, es kommt auf anderes an.


    Die Beschreibungen in diesem Teil offenbaren ganz eigene Brutalitäten. Die speziellen Methoden der Nazis bei ihren „besonderen“ Gefangenen, die spezielle Situation des Gefangenen in der fast völligen Einsamkeit und Abgeschiedenheit. Der Bericht des Dr. B. ist meisterhaft und lässt keinerlei Wünsche übrig. Dennoch hätte ich gerne gewusst, wie er erzählte: langsam, mit Pausen, nachdenklich? Denn das klingt wie gesagt … meisterlich. Nicht so, als wenn er die bittere Zeit mal eben für einen fast Fremden rekapitulierte. Unglaubliche Präzision in der Beschreibung, egal ob nun die Zimmereinrichtung oder seine „Ablenkung“ durch das Schachspiel behandelt wird. Fast schon zu präzise. Stellenweise fast manisch.

  • Ich habe den zweiten Teil auch schon gelesen und gehofft, dass jemand sich hier meldet, ich wollte nicht wieder die Erste sein :lache


    Interessant Deine Gedanken, wie heute umgegangen würde mit so einem privaten Spiel gegen den amtierenden Schachweltmeister. Würde gleich jemand das mit dem Handy filmen und ins Netz stellen?
    Und irgendjemand würde erst mal bei Google gucken, um wen es sich handelt bei dem Unbekannten?


    Die Schilderung des Dr. B. fand ich ebenfalls sehr eindringlich. Ich habe mir den Bericht sehr gehetzt, nervös vorgetragen vorgestellt. Oder zumindest, wie soll ich sagen, "getrieben". So als hätte Dr. B. schon lange darauf gewartet, seine Geschichte jemandem erzählen zu können, und sich vielleicht sogar vorher schon mehrmals die Worte im Kopf zurecht gelegt, um sie jetzt heraussprudeln lassen zu können.
    Anders kann ich mir nicht erklären, warum er so bereitwillig einem Fremden diese Geschichte anvertraut. Er schien mir irgendwie ausgehungert nach menschlichem Kontakt und danach, sich wem mitteilen zu können.


    Zeitlich eingeordnet habe ich das Ganze so um 1941/42. Nicht aufgrund von Informationen im Buch, aber weil Zweig sich 1942 das Leben nahm und ich einfach davon ausging, dass er in seiner Novelle seine Gegenwart beschrieben hat.


    Daher wirkt Dr. B. auf mich auch so "gehetzt". Denn so eine Geschichte einem Fremden anzuvertrauen, war ja sicher nicht ganz risikolos, er konnte ja nicht wissen, ob er nicht vielleicht einem glühenden Anhänger des Nationalsozialismus berichtet.


    Wobei ich das auch alles nicht wichtig finde. Ich sehe das Buch als Anklage gegen den Nationalsozialismus und da bringt Zweig für mich sehr treffende Beschreibungen von "Typen", ohne ins Detail zu gehen. Der Ich-Erzähler ist einfach intelligent, gebildet, tolerant; Czentovic ist eben einfach nur dumpf, auf seinen Vorteil bedacht, hochmütig.


    Und daher sehe ich die in diesem Abschnitt abgemachte Schachpartie gegen den Meister als Versuch herauszufinden, ob das System Dr. B. geschlagen hat und ihn immer wieder schlagen wird. Oder ob er mit seiner Intelligenz dem was entgegensetzen kann und am Ende doch Vernunft und Bildung siegen über Dumpfheit, Egoismus und einen so begrenzten Horizont, der nicht über den eigenen Tellerrand hinausgeht.


    Öh, ja, so. Oder zumindest so ähnlich, habe ich mir das gedacht. Ich weiß nicht, ob ich rüberbringen konnte, was ich meine.

    Man möchte manchmal Kannibale sein, nicht um den oder jenen aufzufressen, sondern um ihn auszukotzen.


    Johann Nepomuk Nestroy
    (1801 - 1862), österreichischer Dramatiker, Schauspieler und Bühnenautor


  • Als Anklage gegen den nationalsozialismus sehe ich das Buch auf jeden Fall auch. Nur Czentovic kommt bei mir nicht als personalisierter Egoismus und Dumpfheit in Person an. Ich kann allerdings auch nicht wirklich sagen, wie ich seine Funktion in der Geschichte sehe...


    Sehr eindringlich wurde auf jeden Fall die Gefangenschaft von Dr. B geschildert. Ich stelle mir allerdings vor, dass B. seine geschichte sehr distanziert erzählt,,fast so als hätte er sie nicht selbst erlebt.

  • Zitat

    Original von Frettchen
    Ich habe den zweiten Teil auch schon gelesen und gehofft, dass jemand sich hier meldet, ich wollte nicht wieder die Erste sein :lache


    :wow


    Zitat


    Interessant Deine Gedanken, wie heute umgegangen würde mit so einem privaten Spiel gegen den amtierenden Schachweltmeister. Würde gleich jemand das mit dem Handy filmen und ins Netz stellen?
    Und irgendjemand würde erst mal bei Google gucken, um wen es sich handelt bei dem Unbekannten?


    Wir wären live dabei, sozusagen. Keine Chance, dem zu entgehen.



    Zitat


    Zeitlich eingeordnet habe ich das Ganze so um 1941/42. Nicht aufgrund von Informationen im Buch, aber weil Zweig sich 1942 das Leben nahm und ich einfach davon ausging, dass er in seiner Novelle seine Gegenwart beschrieben hat.


    Für mich hat es den Anstrich eines Vermächtnisses, Zweig, so habe ich diese Novelle gelesen, hatte nicht (mehr) die Hoffnung, dass sich auf absehbare Zeit etwas ändern würde. Von daher habe ich es als einen - Zweigs - Ausblick auf die Zukunft gesehen: Kleine, einzelne Siege gegen die Nazis sind möglich, aber seine vermutete Wahrscheinlichkeit, dass sie am längeren Hebel sitzen würden, quasi das letzte Wort hätten, hat Zweig für mich auf diese Weise dargestellt.



    Zitat

    Ich sehe das Buch als Anklage gegen den Nationalsozialismus und da bringt Zweig für mich sehr treffende Beschreibungen von "Typen", ohne ins Detail zu gehen. Der Ich-Erzähler ist einfach intelligent, gebildet, tolerant; Czentovic ist eben einfach nur dumpf, auf seinen Vorteil bedacht, hochmütig.


    :write



    Zitat

    Ich weiß nicht, ob ich rüberbringen konnte, was ich meine.


    Hast Du. :wave

  • Sehr faszinierend, die Geschichte von Dr. B. Ich habe mich gefragt, wie ich wohl mit diesem Nichts in seiner Hotelzelle umgegangen wäre. Mir kam auch zuerst in den Kopf, dass ich vermutlich versucht hätte, meine nur sehr latent vorhandenen Kopfrechenkünste auszubauen. Eindrucksvoll, wie seine Gier nach dem Buch beschrieben wurde als er es erst einmal in der Manteltasche ausgemacht hatte.


    Eine echte Anklage gegen den Nationalsozialismus sehe ich hingegen noch nicht wirklich. Natürlich wird klar, dass das Verhalten der Gestapo gegenüber Dr. B. unmenschlich ist, aber ich habe auch herausgelesen, dass Dr. B. ein gewisses Verständnis für die Auflehnung der Proletriats gegen den abgeschafften, aber immer noch vermögenden Adel andeutet.


    Inwiefern Czentovic jetzt den Nationalsozialismus verkörpern soll, erschließt sich mir persönlich an dieser Stelle jetzt (noch?) überhaupt nicht. :gruebel

    With freedom, books, flowers and the moon, who could not be happy? - Oscar Wilde


    :lesend Rock My World - Christine Thomas

  • Dr. B. ist also der Gegenspieler Czentovics. Letzterer braucht unbedingt ein reelles Schachbrett vor Augen, Dr. B. spielt im Geiste- sogar gegen sich selbst und die SS-Leute.
    Ich kann es kaum erwarten, wie das Spiel der beiden abläuft.


    Eindringlich schildert Zweig diesen feinen, doch auch gebrochenen, gealterten Dr. B. Die Folter der Nazis bestand aus dem Isolieren, dem Gefangenhalten im Nichts. Die Folter spielt sich ab im Hotel Metropole.
    Ich bin noch ganz gefangen von der Intensität der Erzählung Dr.Bs. Du schreibst es treffend, Lipperin: Meisterlich!

    Die eigentliche Geschichte aber bleibt unerzählt, denn ihre wahre Sprache könnte nur die Sprachlosigkeit sein. Natascha Wodin

  • Zitat

    Original von Enchantress
    ...
    Eine echte Anklage gegen den Nationalsozialismus sehe ich hingegen noch nicht wirklich. Natürlich wird klar, dass das Verhalten der Gestapo gegenüber Dr. B. unmenschlich ist, aber ich habe auch herausgelesen, dass Dr. B. ein gewisses Verständnis für die Auflehnung der Proletriats gegen den abgeschafften, aber immer noch vermögenden Adel andeutet.
    ...


    Ich habe noch nie einen so eindrücklichen Bericht psychischer Folter gelesen. Dr. B wird die Möglichkeit genommen, einer geistigen Tätigkeit nachzugehen. Das ist das Wertvollste, mit dem der Mensch, besonders ein so intelligenter Mensch, ausgestattet ist. Dr.B. würde sogar ein Arbeitslager oder das Gefangensein in einem KZ bevorzugen. Hätte er nicht das Buch gestohlen, wäre er sicherlich wahnsinnig geworden.
    Ich sehe die Anklage, in dem Aufzeigen der Brutalität der Nazis, den Entmenschlichung.

    Die eigentliche Geschichte aber bleibt unerzählt, denn ihre wahre Sprache könnte nur die Sprachlosigkeit sein. Natascha Wodin

  • Zitat

    Original von Regenfisch
    Ich habe noch nie einen so eindrücklichen Bericht psychischer Folter gelesen.


    Ja, da bin ich bei Dir, aber die Anklage dieser Schilderung richtet sich in meinen Augen gegen diese Art der Folter. Ob sie nun wirklich schlimmer ist als das, was den Menschen in en Konzentrationslagern widerfahren ist, kann ich beim besten Willen nicht beurteilen. Gibt es ein "etwas weniger als grausames Grausam"?


    Dennoch als eine Anklage gegen die nationalsozialstischen Ideologien im Allgemeinen sehe ich persönlich nicht. Dafür stellt diese Folter in meinen Augen einen viel zu kleinen Ausschnitt des nationalsozialistischen Treibens dar und verkörpert nur einen Bruchteil der gesamten Ideologie.

    With freedom, books, flowers and the moon, who could not be happy? - Oscar Wilde


    :lesend Rock My World - Christine Thomas

  • Zitat

    Original von Enchantress


    Ja, da bin ich bei Dir, aber die Anklage dieser Schilderung richtet sich in meinen Augen gegen diese Art der Folter. Ob sie nun wirklich schlimmer ist als das, was den Menschen in en Konzentrationslagern widerfahren ist, kann ich beim besten Willen nicht beurteilen. Gibt es ein "etwas weniger als grausames Grausam"?


    Dennoch als eine Anklage gegen die nationalsozialstischen Ideologien im Allgemeinen sehe ich persönlich nicht. Dafür stellt diese Folter in meinen Augen einen viel zu kleinen Ausschnitt des nationalsozialistischen Treibens dar und verkörpert nur einen Bruchteil der gesamten Ideologie.


    Von einer wertenden Gegenüberstellung bin ich weit entfernt. Ich habe nur Dr. B. "zitiert".
    Den Rest deines Beitrags kann ich :write.
    Vielleicht erschließt sich der Zusammenhang noch im letzten Abschnitt. :wave

    Die eigentliche Geschichte aber bleibt unerzählt, denn ihre wahre Sprache könnte nur die Sprachlosigkeit sein. Natascha Wodin

  • Zitat

    Original von Enchantress


    Ja, da bin ich bei Dir, aber die Anklage dieser Schilderung richtet sich in meinen Augen gegen diese Art der Folter. Ob sie nun wirklich schlimmer ist als das, was den Menschen in en Konzentrationslagern widerfahren ist, kann ich beim besten Willen nicht beurteilen. Gibt es ein "etwas weniger als grausames Grausam"?


    Dennoch als eine Anklage gegen die nationalsozialstischen Ideologien im Allgemeinen sehe ich persönlich nicht. Dafür stellt diese Folter in meinen Augen einen viel zu kleinen Ausschnitt des nationalsozialistischen Treibens dar und verkörpert nur einen Bruchteil der gesamten Ideologie.


    die Schilderung der Folter ist wirklich meisterlich gelungen. Ich war richtig gefangen und auch über die Art des Erzählens einfach entzückt.


    Als eine Anklage gegen die Nazis sehe ich die Novelle auch nicht. Zwar zeigt mir ZWeig mit dieser Art von isolierungsfolter eine neue Spielart der Nazis auf, für mich schwingt aber viel mehr der Widerstand des Einzelnen durch. Das Vermögen eines Einzelnen aus seiner eigenen Position, in der er ist, das Beste zu machen.


    Im ersten Teil wird Czentovic beschrieben, der aus seiner Indelbegabung das Beste herausholt und so einen Platz in der Welt findet, die ihn ansonsten nicht beachtet hätte. Bei Dr. B. zeigt sich, dass er an sich gefallen war, als er verhaftet wurde. Ihn die Isolationshaft wirklich zugesetzt hat und er nach Geistesanregung gehungert hat. das Buch kam da passend. Er hat damit auf seine Weise gegen die Folter rebelliert und so nichts von seinem Wissen preisgegeben. So schlimm sich seine Schachmanie auch ausgewirkt hat, sie hat ihm geholfen zu schweigen und geholfen sich den Nazis zu entziehen.
    Und alle diese Sachen gingen nur durch den Geist der Figuren. Bei Czentovic, weil es sein "einzig anerkanntes" geistiges Vermögen ist, bei Dr. B., weil er, der erst geistig ausgehungert war, sich durch seine "Geistesmanie", die einer Überforderung gleichkam geschafft hat, den Nazis zu entfliehen. Erst wissentlich dank seiner Übungen, dann unwissentlich aufgrund seiner Überforderung.
    Somit ziehen Czentovic und Dr. B. ihre eigene Spielfigur auf dem Spielfeld der Mächtigen, die in der realen Welt die Spielfiguren von oben zu setzen scheinen, meisterlich. Ebenso meisterlich wie sie es auf ihre Weise auch auf dem Schachbrett machen. Nur, dass das Schachbrett ein übersichtlicher Raum ist, dessen Vermögen nicht über 64 Kästchen hinausgeht mit ihrer definierten Anzahl von Figuren.

  • Ich glaube das es noch heute diese Foltermethode gibt. Erschreckend und ich habe mich gefragt wie ich es wohl überstanden hätte.


    Schach wird nie ein Spiel für mich werden dachte ich beim lesen des Büchleins noch ;-)


    edith: Buchstaben sortiert

  • Ich glaube, dass Zweig in der Schachnovelle neben der Anprangerung des Nationalsozialismus auch das Thema Sucht behandelt. In einer anderen Novelle hat er das ebenso deutlich beschrieben. In 24 Stunden aus dem Leben einer Frau ist die Spielsucht sein Thema. Dies hat mich vor Jahren genauso berührt, wie die Schachnovelle.

    Novemberkinder haben es schwer. Sie brauchen Liebe und mehr.

    Dieser Beitrag wurde bereits 1 Mal editiert, zuletzt von Zuckelliese ()

  • Zitat

    Original von Frettchen
    Interessant Deine Gedanken, wie heute umgegangen würde mit so einem privaten Spiel gegen den amtierenden Schachweltmeister. Würde gleich jemand das mit dem Handy filmen und ins Netz stellen?
    Und irgendjemand würde erst mal bei Google gucken, um wen es sich handelt bei dem Unbekannten?


    Heute machst Du einfach ein Foto mit Deinem Smartphone und wenn Du die App "googles" installiert hast, verrät die Dir, wen Du vor Dir hast - sofern er prominent ist.

  • Zitat

    Original von Zuckelliese
    Ich glaube, dass Zweig in der Schachnovelle neben der Anprangerung des Nationalsozialismus auch das Thema Sucht behandelt. In einer anderen Nvelle hat er das ebenso deutlich beschrieben. In 24 Stunden aus dem Leben einer Frau ist die Spielsucht sein Thema. Dies hat mich vor Jahren genauso berührt, wie die Schachnovelle.


    Selbst bin ich nicht drauf gekommen, finde den Gedanken mit der Spielsucht aber auch treffend.