Judith Hermann: Aller Liebe Anfang

  • Judith Hermann: Aller Liebe Anfang
    S. FISCHER 2014. 224 Seiten
    ISBN-13: 978-3100331830. 19,99€


    Verlagstext
    Judith Hermann hat einen Roman geschrieben über die Zumutungen der Liebe und die Schutzlosigkeit im Leben. Stella und Jason sind verheiratet, sie haben eine Tochter, Ava, sie leben in einem Haus am Rand der Stadt. Ein schönes, einfaches Haus, ein kleiner Garten, ein alltägliches ruhiges Leben, meist ohne Jason, der viel arbeitet. Aber eines Tages steht ein Mann vor der Tür dieses Hauses, ein Fremder, jemand, den Stella nie zuvor gesehen hat. Er sagt, er wolle sich einfach einmal mit ihr unterhalten, mehr sagt er nicht. Stella lehnt das ab. Der Fremde geht und kommt am nächsten Tag wieder, er kommt auch am Tag darauf wieder, er wird sie nicht mehr in Ruhe lassen. Was hier beginnt, ist ein Albtraum, der langsam, aber unbeirrbar eskaliert.
    In einer klaren, schonungslosen Sprache und irritierend schönen Bildern erzählt Judith Hermann vom Rätsel des Anfangs und Fortgangs der Liebe, vom Einsturz eines sicher geglaubten Lebens.


    Die Autorin
    Judith Hermann wurde 1970 in Berlin geboren, wo sie heute lebt. 1998 erschien ihr erstes Buch „Sommerhaus, später“, das zu einem Bestseller wurde und mit zahlreichen literarischen Preisen ausgezeichnet wurde. 2003 erschien der Erzählungsband „Nichts als Gespenster“, der 2007 für das deutsche Kino verfilmt wurde. 2009 folgte „Alice“, das die Kritik als ihr bestes Buch feierte.


    Inhalt
    Stella und Jason lernen sich im Flugzeug kennen. Jason ist überzeugt, dass Stella nun keine Angst mehr haben muss, weil er sie ihr einfach ausreden kann. Zweifel an Jasons Worten sind angebracht; denn wer glaubt schon, Flugangst z. B. verschwände allein durch die Behauptung, sie sei unnötig. Für Menschen wie Stella ist nichts einfach. Am neuen gemeinsamen Wohnort arbeitet Stella bei einem Pflegedienst und bekommt mit Jason eine Tochter, Ava. Jason ist aus beruflichen Gründen häufig abwesend. In einer äußerlich idyllischen Umgebung gelingt es der jungen Frau nicht, ihre irritierenden Ängste in den Griff zu bekommen. Seit Ava auf der Welt ist, scheinen Stellas Ängste sogar zugenommen zu haben. Obwohl sie Kontakte zu anderen hat, scheint Stella wie auf einer inneren Insel zu leben. In ihrem Leben muss es einmal einen Bruch gegeben haben; Ansprüche anderer Menschen überfordern Stella. Sie sucht schützende Symbole und Abgrenzung von anderen Menschen. Auch nach längerer Bekanntschaft bleibt sie für ihre Mitmenschen nur schwer greifbar, ein möglicher Grund für deren Hilflosigkeit ihr gegenüber.


    Die oberflächliche, dörflich wirkende Idylle kippt, als ein Fremder bei Stella an der Tür klingelt. Der Mann wirkt gestört, nicht nur auf besonders sensible Menschen wie Stella. Stella hat eine Vorgeschichte von Bedrohung und Belästigung erlebt, von der wohl nur ihre beste Freundin Clara weiß. Jason will seiner Frau auf rationaler Ebene ihre Ängste ausreden. Für ihn ist äußerlich alles in Ordnung; er ist die meiste Zeit abwesend und sieht die Dinge so, wie er sie gern hätte. Weil die Vorgeschichte von Stellas Ängsten übersprungen wird, baut sich der Auftritt des lästigen Mister Pfister zu einem bedrohlich wirkenden Szenario auf. Eine Szene aus dem Kindergarten symbolisiert eindringlich die sonderbare Atmosphäre, in der Grenzüberschreitungen klaglos hingenommen werden. Ava malt ein Bild für ihren Papa. Völlig logisch für das Kind eines Vaters aus dem Baugewerbe zeigt es ein unfertiges Haus. Das kleine Mädchen wird Opfer von Gleichgültigkeit, als jemand im Kindergarten ungefragt ein Dach auf ihr Haus malt und damit Avas persönliche Botschaft an ihren Vater zerstört.


    Fazit
    Judith Hermann gibt in ihrem Roman in klarer, schnörkelloser Sprache nur die allernötigsten Informationen preis. Die skizzierten Umrisse der Figuren müssen von den Lesern selbst ausgefüllt werden. Bedrohliches aus Stellas Vergangenheit baut sich durch diese Reduzierung zu beängstigenden Szenen auf.


    ^^^^^
    Zitat
    Stella antwortet nicht, wenn Esther [ihre Patientin] in dieser Verfassung ist, redet sie gar nicht mit ihr. Sie macht die Fenster auf und wieder zu, lässt die Jalousien aus chinesischem Papier herunter, bezieht das Bett neu und wechselt die Blumen in den Vasen aus, sie wäscht Erdbeeren ab, schneidet und zuckert sie, ich werde das nicht essen, sagt Esther, ich esse gar nichts mehr, ich esse nichts von alledem. Esther sitzt in ihrem Korbstuhl, eine zerknitterte Königin in sandfarbener Unterwäsche, sie sieht aus wie ein altes störrisches Kind, ihre Haare stehen zu Berge, ihr Gesicht glüht. Stella hebt sie in den Rollstuhl, einen Moment stehen sie beide engumschlungen mitten im Raum, Esther in Stellas Arm, eine Aufforderung zum Tanz. Stella spürt Esthers Atem an ihrem Schlüsselbein, sie spürt Esthers Zartheit. Sie schiebt Esther ins Bad, hebt sie auf den Rand der Wanne, stellt Esthers Füße in die Wanne und dreht das kalte Wasser auf, sie wäscht Esther, dann sitzt sie auf der Toilettenschüssel und sieht zu, wie Esther das Wasser mit geschlossenen Augen über ihren Puls laufen lässt, über ihre Unterarme, die Knie. Als säße sie an einer Quelle.Also sagt Esther. Wo waren Sie. Wie war’s. Es ist deutlich zu merken, dass Sie irgendein Problem haben. Reden Sie mit mir.Stella muss darüber lachen. ...“ (S. 112/113)


    8 von 10 Punkten


    ASIN/ISBN: 3596196418

  • Vielen Dank für deine Rezi!


    Ich mochte "Sommerhaus später" und "Nichts als Gespenster" sehr, und deinem Fazit nach interessiert mich das Buch. Aber da werde ich wohl noch etwas warten, ob die Bibo es vielleicht anschafft.

  • Aller Liebe Anfang - Judith Hermann


    Mein Eindruck:
    Judith Hermann ist bekannt für ihre Erzählungen, die sie seit Ende der neunziger Jahre (Sommerhaus, später.) geschrieben hat. Diese Erzählungen gelten als Meisterwerke und Quantensprung in dieser Form in der deutschsprachigen Literatur. Nicht zu Unrecht.
    Jetzt kommt erstmals ein Roman, der sich vom Lesegefühl nicht viel von den Erzählungen unterscheidet. Dass es sich um einen relativ kurzen Roman handelt, unterstreicht diesen Eindruck.


    Sprachlich ist der Roman ein Genuß, ohne Frage. Inhaltlich spürte ich aber auch, vor allen in der ersten Hälfte, eine Belanglosigkeit, die mich überraschte.


    Es wird das Leben eines jungen Ehepaars mit einem kleinen Kind beschrieben. Stella ist Krankenpflegerin, der Mann als Architekt oft wochenlang nicht da. Ohne große Emotionsschwankungen leben sie in diesem Arrangement, zufrieden, aber mehr auch nicht.
    In dieser Situation taucht ein fremder Mann auf, der Stella sprechen will. Sie lehnt das ab, da sie eine Bedrohung fühlt. Ab da wird der Mann jeden Tag wieder kehren. Er hat psychische Probleme und wird zum Stalker.


    Eine typische Stalker-Story ist der Roman aber auch nicht, dazu wird die Bedrohung nicht ausführlich genug dargestellt. Stellas Angst wird mehr behauptet als gezeigt. Ohne dass dabei die Belästigung des Stalkens heruntergespielt wird, wird die tägliche Verfolgung Stellas immer mehr zu einem Ritual. Der Stalker zu einem Symbol. Vielleicht wird Stella auch aus ihrem Alltagstrott ausbrechen.


    Wenn ich mich anfangs beim Lesen gelangweilt habe, kann man das von der zweiten Hälfte des Buches nicht mehr behaupten. Die Entwicklung wird gut dargestellt. Dabei bleibt Judith Hermann kontinuierlich in einem distanzierten Beobachterstatus, was streckenweise kühl wirkt. Aber das passt auch zu den Figuren.


    Ein ordentlicher Roman, wenn auch keine literarische Sensation. Ich bin aber zufrieden und gebe knapp 8 Punkte!

  • Interessant.
    Ich habe Judith Hermann bisher lediglich als nervtötende Langweilerin kennengelernt. Eine literarische Schlaftablette.


    Und nun diese beiden Meinungen hier..... :gruebel

    Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst. (Evelyn Beatrice Hall)


    Allenfalls bin ich höflich - freundlich bin ich nicht.


    Eigentlich mag ich gar keine Menschen.

  • Interessant und rätselhaft ist die Meinungsbildung über literarische Werke - sie letztlich zu hinterfragen aber überflüssig.

    Schon der weise Adifuzius sagte: "Erst mit dem letzten Menschen stirbt auch die Hoffnung, es sei denn, die Natur hofft, dass der Mensch nie wieder kommt.":chen

  • Oh Marlowe,


    nachdem Du Dich neulich in einem anderen Fred zu einer anbetungswüdig tiefsinnigen psychologischen Stellungnahme hinreißen ließest, wundere ich mich nun, dass Du an dieser Stelle so schnell auf eine Hinterfragung der Meinungsbildung einer geschätzten Mit-Eule verzichten willst.


    Vielleicht verrät Voltaire uns ja ganz freiwillig noch ein wenig mehr...


    :lache

  • Zitat

    Original von Herr Palomar
    Eine rätselhafte Anmerkung!
    Den ganzen Tag denke ich schon darüber nach, aber ich verstehe es nicht!


    Zitat

    Original von Nadja Quint: Vielleicht verrät Voltaire uns ja ganz freiwillig noch ein wenig mehr...


    Es geht offensichtlich um diese meine Bemerkung:






    Zitat

    Interessant.Ich habe Judith Hermann bisher lediglich als nervtötende Langweilerin kennengelernt. Eine literarische Schlaftablette.
    Und nun diese beiden Meinungen hier.......


    Daran ist nichts kryptisch.
    Aber ich kam nur ins Grübeln, wieso Frau Hermann so positiv bewertet und rezensiert wurde. Ich habe immer Probleme damit, positive Meinungen zu ihrem Geschreibsel nachzuvollziehen.


    Aber das ist halt Geschmackssache......sprach der Affe und biß in die Seife.

    Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst. (Evelyn Beatrice Hall)


    Allenfalls bin ich höflich - freundlich bin ich nicht.


    Eigentlich mag ich gar keine Menschen.

  • Eine ausführliche und, wie ich finde, hinreichend kritische Besprechung findet sich im aktuellen SPIEGEL (anderswo ist das Buch selbstverständlich auch schon rezensiert worden).


    Ich verstehe gut, was Du meinst, Voltaire. Vor zwanzig Jahren habe ich Hermanns Kurzgeschichten noch gern gelesen. Inzwischen habe ich so meine Probleme mit den immerwährenden depressiven, im Kern aber m.E. tief narzisstischen Reflexionen.


    Hermanns Sprache halte ich dennoch für großes Kino. Davon würde ich mir gern wenigstens eine kleine Scheibe abschneiden.

  • Zitat

    Original von Nadja Quint


    Hermanns Sprache halte ich dennoch für großes Kino. Davon würde ich mir gern wenigstens eine kleine Scheibe abschneiden.


    Um Himmels Willen! Schreib bloß nicht so wie diese Depri-Tussi. Wenn ja, dann müsste man es mit dem Wort "verschlimmbessern" beschreiben.
    Denn an deinem Schreibstil ist nichts auszusetzen.


    Diese Frau Hermann braucht einen Therapeuten (der würde wahrscheinlich mit ihr eine Menge Geld verdienen) und sollte ihre Befindlichkeiten am besten für sich behalten und nicht in Buchform unter die Menschen bringen.

    Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst. (Evelyn Beatrice Hall)


    Allenfalls bin ich höflich - freundlich bin ich nicht.


    Eigentlich mag ich gar keine Menschen.

  • Da hast Du sicher recht, Buchdoktor. In Kurzgeschichten lassen sich tiefe Blick auf depressive Persönlichkeiten vermutlich eher ertragen als in einem Roman.


    Ich muss jetzt vorsichtig sein, weil ich den Roman nicht gelesen habe. Darum nur so viel: Depressive Weltsicht und depressive Befindlichkeit sind in unserer Zeit häufig anzutreffen, und mal ehrlich: Wer von uns hat nicht auch manchmal das Gefühl, sich schlaftablettenmäßig durchs Leben zu schleppen? ;-)

  • Ich wollte hier keine küchenpsychologischen Diagnosen in die Welt setzen. Anfangs habe ich wirklich angenommen, dass Laura und ihr Mann auf einer Insel leben und mir eine winzige Insel vor Schottland oder Finnland vorgestellt. Immerhin gibt es einen Kindergarten und einen Pflegedienst, also kann die "angenommene" Insel doch nicht so klein sein. Das Weglassen von Informationen regt solche Gedankengänge an - und die Kunst, Leser zu eigenen Gedanken anzuregen, nehme ich durchaus wahr. Hier kommt dann wieder die eigene Tagesform ins Spiel. Bei anderen Romanen hatte ich durchaus schon den Eindruck - mehrere Personen - alle egozentrisch ohne Weiterentwicklung und für mich langweilig - warum haben die noch nicht einmal Hund oder Katze? ;-) Durch Ava wird diese mögliche "langweilige" Wirkung für meinen Geschmack aber aufgebrochen. Ich bin durch Nebenfiguren leicht zu erfreuen.

  • Zitat

    Original von Voltaire
    Daran ist nichts kryptisch.
    Aber ich kam nur ins Grübeln, wieso Frau Hermann so positiv bewertet und rezensiert wurde. Ich habe immer Probleme damit, positive Meinungen zu ihrem Geschreibsel nachzuvollziehen.


    Das ist es ja, was ich nicht verstehe. Meine Meinung war ja auch kritisch.
    Bei mir fallen neben positiven Aspekten auch Wörter wie Belanglosigkeit und gelangweilt. Es war halt nicht die Lobhuddelei, als die es ausgelegt wurde.

  • Ganz am Rande möchte ich nun doch auf eine gewisse Diskrepanz in den Aussagen der werten Miteule Voltaire hinweisen.


    Zitat

    Original von Voltaire
    Und wenn ich einen Verriss schreibe, dann geht es um das Buch - dann geht es nicht um die Autorin oder den Autor.


    (getätigt im Rezensionsthread)


    Zitat

    Original von Voltaire
    Schreib bloß nicht so wie diese Depri-Tussi. [...]


    Diese Frau Hermann braucht einen Therapeuten (der würde wahrscheinlich mit ihr eine Menge Geld verdienen) und sollte ihre Befindlichkeiten am besten für sich behalten und nicht in Buchform unter die Menschen bringen.


    Soviel zum Thema sachliche Auseinandersetzung. Aber jetzt wende ich Trümmerlotte mich wieder den Drogen zu, die ich ganz unverkennbar konsumiert haben muss. Ich muss irgendwas geraucht haben, keine Ahnung was, aber irgendwas war in meinem Schwarzen Krauser :gruebel

    Menschen sind für mich wie offene Bücher, auch wenn mir offene Bücher bei Weitem lieber sind. (Colin Bateman)