'Auf Tiefe - See- und Küstengeschichten' - Der letzte Henker von Rungholt

  • Leider stimmt es, dass unsere Vorstellungskraft bei einer hohen Opferzahl nicht hinterher kommt. Werden dann einzelne Personen herausgegriffen, ist das Mitgefühl gleich wieder da.


    Für mich geht es in dieser Geschichte auch nicht um die großen Opferzahlen oder darum, wer "schuld" an dem Unglück ist.

    Es geht eher nach dem Motto: die Sturmflut ertränkt sie alle. Gerechte und Ungerechte.

  • Mir hat diese Geschichte gut gefallen, weil mir die geschilderten Figuren realistisch erschienen. Auch das Untergangsszenario passt zu meinen Vorstellungen. Mir kommen dann Tsunamis und die jährliche Hurrikansaison in den Sinn, mal völlig abgesehen von den Überschwemmungen in Asien. Riesige Personen- und Sachschäden trotz aller Bemühungen der Menschen in den betroffenen Regionen.

    Überraschenderweise kannte ich sogar das Gedicht, weil ich es auf einer CD von Achim Reichel gehört hatte. Auf der CD Regenballade hat er neun Texte mit Musik versehen:

    1. Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland

    2. Pidder Lüng

    3. Een Boot is noch buten

    4. Regenballade

    5. Der Zauberlehrling

    6. Nis Randers

    7. Trutz Blanke Hans

    8. Der Fischer

    9. John Maynard

    :lesend James Lee Burke - Die Tote im Eisblock

    hörend: Hanna von Feilitzsch - Bittersüße Mandeln

  • Mir hat Rungholt vorher gar nichts gesagt. Ich bin zwar in Wilhelmshaven eingeschult worden, aber kurz darauf wieder nach Hessen gezogen... Die Erklärung war daher für mich durchaus sinnvoll.


    Die Personen taten mir leid, am meisten allerdings die Schiffsjungen am Anfang. Die blieben zwar eher Randnotizen, aber dafür waren sie nicht so unsympathisch wie der Rest... Und die tausenden von Toten haben mich einfach nicht wirklich berührt, da es sich eher wie eine Episode aus einem Geschichtsbuch angefühlt hat.


    Zum Thema "und die Frauen?": An einer Stelle schreibt Dieter "Nicht das Kreischen der Weiber, deren Kinder der Sturm in den Gassen zu Boden schleudert." Wenn das jetzt die Gedanken des Henkers oder der Gefangenen gewesen wären, okay. Aber es ist die Beschreibung des Erzählers, und da finde ich die Verwendung des Begriffs "Weiber" respektlos. Es sind Mütter, verzweifelte Frauen, keine Weiber!

    “You can find magic wherever you look. Sit back and relax all you need is a book." ― Dr. Seuss

  • An einer Stelle schreibt Dieter "Nicht das Kreischen der Weiber, deren Kinder der Sturm in den Gassen zu Boden schleudert.

    Ehrlich gesagt, habe ich an dieser Stelle auch etwas geschluckt, aber ich muss Dieter als "Erzähler" hier ein klitzekleines bisschen in Schutz nehmen: ich glaube, er wollte sich dem damaligen Sprachgebrauch anpassen - und damals wurde eben von "Weibern" (nicht von Frauen) gesprochen - so habe ich es mir erklärt...

  • Obwohl man ja ahnte, sprich wusste, wie es ausgeht, habe ich dennoch diese Geschichte mit großer Spannung gelesen.

    Ein kurzer Satz im Anschluss, warum das Gedicht zitiert wird, hätte völlig ausgereicht. (Dass das Gedicht zitiert wird, gefällt mir allerdings sehr.)

    Diese beiden Zitate möchte ich mal beispielsweise aufführen. Ich habe nicht geahnt, dass in einer Sturmflut alles und alle verschlungen werden, daher habe ich die Geschichte vielleicht auch ganz anders wahrgenommen als z.B. Ayasha . Und da mir Rungholt auch fremd war, war ich auch über die Erklärung froh. Genauso wie das Gedicht, danke, dass es ganz abgedruckt wurde :)



    Was für ein Symbol! Der Henker kommt und richtet gleich die gesamte Bevölkerung.

    Das habe ich beim Lesen gar nicht als Symbol gesehen, aber als ich es bei dir gelesen habe - volle Zustimmung.


    Am eindrücklichsten finde ich bei der Geschichte, dass uns verschiedene Charaktere dargeboten werden, die in der Kürze der Zeit, die die Kurzgeschichte nur hat, möglichst unterschiedlich sein sollen. Die unterdrückten Schiffsjungen, die verletzt werden und sich den Befehlen des Henkers beugen müssen, der arrogante, unsympatische Henker, der die Verurteilten im Voraus des Todes verspottet, es sei doch lustig wenn sie baumeln, der meint, alles, auch die Natur sei ihm untertan. Die eingeschüchterten Menschen, die vor ihm zurückweichen, die Verurteilten, einer alkoholkrank, bei dem die Schuld nicht bewiesen ist, und zwei Diebe, mit dem Grauen im Verlies. Und der Amtmann, der auf Recht und Ordnung pocht, dem Henker wiederspricht, was ihn noch als einzig "gute" Figur im Fokus überlässt. Und hier muss ich mich Tante Li , Breumel und Sonnenschein12 zustimmen: So plakativ die Figuren auch sein müssen, um zu zeigen, dass die Natur unterschiedslos alle ersäuft, warum wurde nicht an einer Stelle wenigstens eine Frau eingebaut? Als Wirtin, wo der Henker unterkommt? Als Diebin in der Zelle? Als Schaulustige, die ein bisschen hervorgehoben wird? Ich verstehe ja, dass im Kontext keine Henkerin und keine Amtsfrau möglich sind. Aber eine reine Repräsentation als "Weiber" in einem Satz finde ich nicht gut, da im Endeffekt ja doch die gesamte Bevölkerung im Fokus steht.


    Bisher handelt es sich bei dieser Geschichte vielleicht sogar um meine favorisierte bisher, vielleicht, da diesmal kein Einzelschicksal im Fokus steht. Natürlich ist die Betroffenheit dadurch abstrakter, aber die Gleichheit, die die Natur macht, finde ich wahnsinnig eindrücklich.

  • Das ändert nichts daran, dass ich den Ausdruck "Weiber" grässlich finde. Das klingt einfach abwertend. Und das war es auch damals schon, Frauen wurden da ja die meisten Rechte abgesprochen.

    Wie schon geschrieben: Aus der Perspektive der Handelnden für mich stimmig, aus der Perspektive des Erzählers für mich nicht okay.

    “You can find magic wherever you look. Sit back and relax all you need is a book." ― Dr. Seuss

  • Das ändert nichts daran, dass ich den Ausdruck "Weiber" grässlich finde. Das klingt einfach abwertend. Und das war es auch damals schon, Frauen wurden da ja die meisten Rechte abgesprochen.

    Die Rechte brauchten ihnen nicht einmal abgesprochen zu werden - sie hatten nämlich fast keine.

    Wie schon geschrieben: Aus der Perspektive der Handelnden für mich stimmig, aus der Perspektive des Erzählers für mich nicht okay.

    Liebe Breumel, wenn ein Erzähler etwas aus der Perspektive von Figuren aus dem 14. Jahrhundert beschreibt (In diesem Falle können die Eingekerkerten in ihrem Verlies die Schreie der Weiber nicht hören), hat er keine eigene, womöglich gar andere Perspektive als die der Handelnden. Und schon gar keine Sprache, die heutigen Gebräuchen entspräche Er bedient sich, wo immer möglich, der Sprache derer, deren Geschichte er erzählt.


    Deine Kritik ist also unverständlich, es sei denn, du forderst, alle in der Vergangenheit spielenden Erzählungen müssten in unserer heutigen Sprache erzählt werden, um niemanden mit überkommenen Begriffen zu konfrontieren., die übrigens oft (wie z. B. "Weib"), jahrhundertelang für Frauen gängig waren und erst etwa Anfang des 20. Jahrhunderts in der Umgangssprache eine abwertende Bedeutung bekamen.

  • Das sehe ich anders. Meiner Meinung nach kann der Erzähler sich durchaus neutraler Sprache bedienen. Es muss keine moderne Sprache sein, aber "Mütter" statt "Weiber" hätte der Stimmung keinen Abbruch getan.


    Wenn du eine Geschichte in den Südstaaten, in den USA der 60er Jahre, spielen lassen würdest, würdest du als Erzähler das N-Wort benutzen, nur weil es als Bezeichnung für Farbige dort und damals so üblich war? Denn genauso herablassend empfinde ich als Frau den Begriff "Weiber".

    “You can find magic wherever you look. Sit back and relax all you need is a book." ― Dr. Seuss

    Dieser Beitrag wurde bereits 1 Mal editiert, zuletzt von Breumel ()

  • Wenn du eine Geschichte in den Südstaaten, in den USA der 60er Jahre, spielen lassen würdest, würdest du als Erzähler das N-Wort benutzen, nur weil es als Bezeichnung für Farbige dort und damals so üblich war?

    Ja, selbstverständlich.

    Man stelle sich nur einmal vor, ein Ku-Klux-Klan-Mann redet im Alabama der 50er Jahre von einem Schwarzen. Wenn ich seine wörtliche Rede wiedergäbe, würde ich ihn natürlich "Neger" sagen lassen - was sonst?

    Alles andere wäre sprachliche Geschichtsverfälschung.

  • würde ich ihn natürlich "Neger" sagen lassen - was sonst?

    Wobei der Ku-Klux-Klan-Mann wahrscheinlich noch ein schlimmeren N-Wortes benutzen würde...

    Wobei ich Breumel so verstanden habe: wenn ein Ku-Klux-Klan-Mann es benutzen würde, gehört es zur Geschichte... ich habe es so verstanden, dass sich ihre Kritik dagegen richtet, dass Du es als Erzähler benutzt... Ist das so richtig Breumel ?

    Ich persönlich bin bei diesen Diskussionen immer sehr zwiespältig, Pippis Vater hat sich in meinen Augen nicht verbessert, seitdem er jetzt ein "Südsee-Häuptling" (oder so ähnlich) geworden ist und Jim Knopf wurde eben von Michael Ende so beschrieben, damals eine positive Sensation, dass ein "coloured-Kind" die Hauptrolle in einem Buch spielte. Gerade zwei Beispiele, die mir einfielen, es gibt sicher ganz viele davon... Noch eines: das berühmte Gebäckstück "Mohrenkopf" (man mag es gar nicht mehr schreiben, ich rede nicht von den Schoko-Küssen, sondern dem Konditor-Gebäckstück!) ) heißt jetzt "Othello" - hm, was haben wir damit denn geändert? Die Assoziation bleibt die gleiche... Aber das ist eine Diskussion, an der sich viele Geister scheiden...

  • Ja, selbstverständlich.

    Man stelle sich nur einmal vor, ein Ku-Klux-Klan-Mann redet im Alabama der 50er Jahre von einem Schwarzen. Wenn ich seine wörtliche Rede wiedergäbe, würde ich ihn natürlich "Neger" sagen lassen - was sonst?

    Alles andere wäre sprachliche Geschichtsverfälschung.

    Deshalb schrieb ich ja auch "als Erzähler". Das ist für mich etwas anderes, als eine Person etwas sagen zu lassen.


    Sonnenschein12 Ja genau. Die Person redet halt so, damit es authentisch ist. Der Erzähler muss aber nicht die Perspektive dieser Person einnehmen.

    “You can find magic wherever you look. Sit back and relax all you need is a book." ― Dr. Seuss

  • Für mich muss die Wortwahl in die Zeit passen, in der eine Geschichte sich ereignet. Die muss natürlich anders sein als die heute verwendete Sprache.

    Alles andere wäre für mich eine Verfälschung.

    Natürlich ist es nötig, das in heutigen Werken zu kommentieren. So ähnlich wie bei Straßennamen. Einfach alles zu ändern und anstößige Personennamen oder Worte wegzulassen, halte ich für falsch.

  • Für mich muss die Wortwahl in die Zeit passen, in der eine Geschichte sich ereignet. Die muss natürlich anders sein als die heute verwendete Sprache.

    Alles andere wäre für mich eine Verfälschung.

    Natürlich ist es nötig, das in heutigen Werken zu kommentieren. So ähnlich wie bei Straßennamen. Einfach alles zu ändern und anstößige Personennamen oder Worte wegzulassen, halte ich für falsch.

    So sehe ich das auch. Besonders bei rein fiktionalen Texten darf bei mir der Erzähler auch in der Sprache erzählen, die der Perspektive entspricht.

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    Von den vielen Welten, [...] ist die Welt der Bücher die größte. (Hermann Hesse)


    :lesend Virginia Woolf: Orlando

  • Für mich muss die Wortwahl in die Zeit passen, in der eine Geschichte sich ereignet. Die muss natürlich anders sein als die heute verwendete Sprache.

    Alles andere wäre für mich eine Verfälschung.

    Natürlich ist es nötig, das in heutigen Werken zu kommentieren. So ähnlich wie bei Straßennamen. Einfach alles zu ändern und anstößige Personennamen oder Worte wegzulassen, halte ich für falsch.

    Spannende Diskussion, die sich hier entwickelt hat. Ich sehe das nicht ganz so wie du, Rumpelstilzchen


    Natürlich muss in zitierten Gedanken und in wörtlicher Rede der damalige Sprachgebrauch beachtet werden. Ein gutes Beispiel dafür ist für mich To kill a mockingbird von Harper Lee. Dieses Buch wird ja regelmäßig mal wieder wegen offensiver Sprache gebannt, weil die Leute dort eben selbstverständlich das N-Wort verwenden.


    Beim Erzähler ist die Sache schwieriger. Wenn dort Begriffe ersetzt werden, die nach heutiger Sicht anstößig oder abwertend sind, entsteht eine größere Distanz des Erzählers zu der Handlung. Damit ist es in meinen Augen eine bewusste Entscheidung, die der Autor treffen muss. Aber eine Verwendung von heute üblichen Begriffen würde ich deshalb nicht als Verfälschung sehen, sondern nur als anderen Erzählstil, der andere Gefühle im Leser weckt.