3096 Tage - Natascha Kampusch

  • Kurzinhalt


    Natascha Kampusch erlitt das schrecklichste Schicksal, das einem Kind zustoßen kann: Am 2. März 1998 wurde sie im Alter von zehn Jahren auf dem Schulweg entführt. Ihr Peiniger, der Nachrichtentechniker Wolfgang Priklopil, hielt sie in einem Kellerverlies gefangen - 3096 Tage lang. Am 23. August 2006 gelang ihr aus eigener Kraft die Flucht. Priklopil nahm sich noch am selben Tag das Leben. Jetzt spricht Natascha Kampusch offen über die Entführung, die Zeit der Gefangenschaft, ihre Beziehung zum Täter und darüber, wie es ihr gelang, der Hölle zu entkommen.


    Meine Meinung


    Kindesentfuehrungen von Fremden sind - zum Glueck - sehr sehr selten. Noch seltener hoert man von einem gluecklichen Ende Jahre spaeter. Und so ist es kein Wunder, dass Natascha Kampuschs Flucht nach ueber 8 Jahren zum Medienereignis in aller Welt wurde. Selbst hier machte der Fall Schlagzeilen.


    Es hatte mich dann doch ueberrascht Nataschas Autobiographie in unserer hiesigen Stadtbuecherei im Regal zu sehen. Ich hab es mitgenommen, um es im Rahmen einer Leserunde bei den Eulen zu lesen. Viel erwartet hatte ich mir allerdings nicht von dem Buch. Da wollte wohl ein Verlag Geld mit der Sensationslust des Publikums machen, dachte ich. Und wie sollte eine junge Frau, die ihre Kindheit verlor und keine Schulbildung bekam eine grosse Autorin werden???


    Und ich wurde mehr als positiv ueberrascht!!! Frau Kampusch schreibt sehr sachlich und reflektiert ueber ihre Erfahrungen. Sie ist dabei durchaus in der Lage die eigenen Emotionen im Kontext zu sehen.


    Dabei wird ein kurzes Kapitel ihrer Kindheit vor der Entfuehrung zur Einleitung gegeben. Es ist eine Kindheit, die weder einem Bilderbuchideal entsprach noch aussergewoehnlich lieblos oder schwierig war - eine durchaus normale Kindheit also mit Ecken und Kanten wie viele Kinder sie erleben.


    Die Schilderungen der Gefuehle auch nach der Entfuehrung kommt treffend rueber ohne zu ueberdramatisch emotional zu werden. Natascha Kampusch schafft es gut das Erlebte in den Kontext zu bringen, sowohl mit nachtraeglich erfahrenen Fakten (Polizeiberichte, Medien ...) als auch die psychologische Aufarbeitung. Mir gefaellt die Mischung hier mit den eingeschobenen faktischen Berichten von anderen Entfuehrungsfaellen und den Ermittlungen in ihrem eigenen Fall.


    Das Buch funktioniert auf mehreren Ebenen fuer den Leser:


    Natascha Kampusch schafft es zu zeigen wie der Entfuehrer sie durch die Gefangenschaft systematisch psychisch und physisch misshandelte und dabei ihre eigenen Verhaltens- und Denkweisen extrem veraenderte. Umso erstaunlicher ist es zu sehen wie sie immer wieder im Stillen - und gelegentlich auch dem Entfuehrer gegenueber - versucht ihre eigene Persoenlichkeit zu bewahren. Und dies im Endeffekt auch tatsaechlich geschafft hat, wie ihr heutiges Auftreten es zeigt. Die Zeit der Gefangenschaft wird immer ein Teil von ihr bleiben, aber niemals alles sein, was sie sein kann.


    Auf der anderen Ebene hat sie ein sehr gutes Verstaendnis ueber die Person des Entfuehrers. Wolfgang Priklopil wird deutlich als psychisch krank beschrieben, ein Mensch, der in seinen Wahnvorstellungen zu unvorstellbaren Grausamkeiten einem Kind gegenueber faehig ist. Und dabei ist er auch ein Opfer und nicht einfach auf die Personifikation des Boesen zu beschraenken.


    Wichtig ist fuer Kampusch, dass sie sich nicht als Opfer im Sinne eines "Stockholm Syndroms" sehen will. Sie macht aber deutlich, dass es selbst in einem Extremen Fall wie dem von ihr Erlebten, eben keine einfachen schwarz-weiss Malereien geben kann.


    Und das wirft sie auch den Medien vor, die es sich zu leicht machen und irritiert reagieren, wenn sie nicht deren einfachen Bild vom Opfer entsprechen mag. Der Epilog bringt entsprechend eine sehr sachliche Reflexion auch ueber den ganzen Medienrummel. Es hat mich sehr beeindruckt wie sie in Bezug darauf ihre eigene Entscheidung dieses Buch zu schreiben erlaeutert.


    Einen Punktabzug wird es allerdings dennoch von mir fuer das Buch geben. So sehr mich das Buch und vor allem Natascha Kampuschs Kampf nicht nur ums physische sondern auch emotionale Ueberleben beeindruckt, so kaempfte ich mich stellenweise doch auch durch die Seiten. Vieles wiederholt sich, wirkt gelegentlich langweilig und so habe ich einiges quer gelesen. Und in gewisser Weise ist es ja auch zu erwarten, denn 8 Jahre in Einzelhaft (sie vergleicht es ja auch mit den Erfahrungen von Gefaengnisinsassen) sind ein Riesenkampf gegen Langeweile. Ganz sicherlich soll hier niemand einen spannenden Thriller erwarten. Dennoch haetten hier die Mitschreiber vielleicht etwas mehr editieren koennen.


    Fazit: Ein ungewoehnliches Buch, das emotional aber auch sachlich und reflektiert einen Kampf ums physische und psychische Ueberleben eines jungen Menschen beschreibt. Das kann den Leser einfach nicht unbeeindruckt lassen. Ein besonderes psychologisches Lehrbuch, wenn man so will, und eins das wirklich sehr empfehlenswert ist.

    Gruss aus Calgary, Canada
    Beatrix


    "Well behaved women rarely make history" -- Laura Thatcher Ulrich

    Dieser Beitrag wurde bereits 1 Mal editiert, zuletzt von Beatrix ()

  • Beatrix
    Hervorragend geschriebene Rezension der "3096 Tage".
    Wollte mich auch gerade drangeben, hätte das aber nicht so gut hinbekommen wie du.


    Finde nicht unbedingt, dass man den Text hätte editieren sollen, um Längen und Wiederholungen zu vermeiden. Auf Anhieb fielen mir auch keine überflüssige Stellen ein.


    Zu Nataschas Bewertung des Menschen Wolfgang Prikopil möchte ich folgendes anmerken:
    Ein Hauptgrund dafür, dass Natascha mein Interesse auf sich gezogen hat, war ihre differenzierte Darstellung des Täters und ihres Verhältnisses zu ihm - dass sie eben der vorgegebenen Schwarzweiß-Sichtweise, welche man von einem Opfer dem Täter gegenüber erwartet, nicht entsprochen hat. Das war stark, Natascha!
    Dennoch bin ich von dem überzeugt, was der Psychoanalytiker Arno Gruen ("Der Verrat am Selbst" und "Der Wahnsinn der Normalität", erschienen bei dtv) über Psychopathen wie Prikopil ausführt. Ganz knapp zusammengefasst räumt er ein, dass die Anlage zu Mitgefühl, Liebe, Empathie usw, in jedem Menschen vorhanden ist. Durch frühkindliche Fehlentwicklungen entwickeln sich manche aber zu einer nichtauthentischen "Persönlichkeit" ohne inneren Kern, welche echte zwischenmenschliche Gefühle in extremer Weise abspalten und verdrängen muss. Dieser Zwang, Dinge zu verdrängen, führt dazu, dass sich selber und anderen "angemessene" Gefühle vorgespielt werden, welche gar nicht vorhanden sind.
    In diesem Sinne sehe ich die "zwischenmenschlichen Gefühle", die Natascha manchmal bei Wolfgang Prikopil festzustellen glaubte, eher als unecht an, als psychologisches Manöver des Täters, um frühkindliche Fehlentwicklungen von seinem Bewusstsein fern zu halten und sich selber als Mensch mit angemessenen Gefühlen wahrnehmen zu können.
    Sehr gut kann man in den "3096 Tagen" auch erkennen, wie sich der Selbsthass, der in einem solchen Menschen latent vorhanden ist, steigert, wenn er durch ein im buchstäblichen Sinne hilfloses, misshandeltes Opfer (Natascha) mit dem Spiegelbild des Opfers, das er selber ist, konfrontiert wird.


    Das sind nur mal zwei Punkte herausgegriffen, weswegen ich Beatrix´ Fazit zustimme: Ein besonderes psychologisches Lehrbuch, wenn man so will, und eins das wirklich sehr empfehlenswert ist.

  • Ich habe das Buch auch vor kurzem gelesen, weil mich interessiert hat, wie Natascha Kampusch selbst die Erlebnisse erzählt wissen möchte.


    Es war beeindruckend, wie sie das Buch geschrieben hat. Emotional, berührend und erschreckend. Ich würde es gerne jedem ans Herz legen.

  • @ Beatrix
    @ Tom Löwenherz


    Vielen Dank an Euch für die tollen Rezis. Eigentlich habt ihr ja schon alles zu dem Buch geschrieben, was man dazu schreiben kann. Deshalb nur noch ein "kurzer" Leseeindruck von mir.


    Ich habe das Buch in der Leserunde gelesen und war froh, dass ich mich mit meinen Mitlesern darüber austauschen konnte.


    Es ist sehr gut geschrieben und trotz des "schrecklichen Inhalts" leicht (sofern man hier von leicht reden kann) zu lesen.


    Natascha Kampusch hat als Einführung bzw. als ersten Teil ihre Kindheit vor der Entführung beschrieben. Sie hatte es in meinen Augen schon vor der Entfürhung nicht immer leicht. Scheidung der Eltern und die relativ strenge Erziehung ihrer Mutter, die ich manchmal hart und kalt fand. Aber genau diese Härte die ihre Mutter sie manchmal spüren ließ, hat ihr während der Gefangenschaft das Leben gerettet.


    Mich haben die ausführlichen Beschreibungen der psychischen und immer mehr zunehmenden körperlichen Misshandlungen geschockt. Dabei hatte ich auch immer im Hinterkopf, wie lange die Entführung gedauert hat.


    Einige Mitleser waren der Meinung, Natascha hätte viel früher fliehen können, sie wollte nur nicht. Ich stimme diesem Argument nicht zu. Sie war ein Kind als sie entführt wurde und ihr Entführer war ihre einzige Bezugsperson. Dann der psychische Druck, wenn sie jemand um Hilfe bittet muss derjenige sterben. Ich bin mir sicher, diesem Druck könnte ein Erwachsener nicht standhalten, geschweige denn ein Kind.


    Auch die Reaktion der Menschen nach ihrer Freilassung haben mich erschüttert. Sie einfach in eine bestimmte Schublade zu stecken und als sie sich gewehrt hat über sie herzufallen.


    Fazit:
    Ich fand es sehr mutig von ihr, dieses Buch zu schreiben und hoffe es hat ihr geholfen ihre Enführung besser zu verarbeiten. Es ist hoffentlich auch ein "Lehrbuch" z. B. für die Polizei, damit solche Fahndungsfehler nicht mehr passieren. Das Buch ist auf jeden Fall lesenswert und bekommt von mir 10 Punkte.


    Viele Grüße :wave

  • Habe am Wochenende im n-tv Videotext gelesen, dass die Arbeiten an dem Film über die Entführung Natascha Kampuschs, fortgesetzt werden. Nach dem Tod des Produzenten Bernd Eichhinger am 24.1. war ja zunächst unklar, ob das Projekt wie geplant umgesetzt wird...

  • Ich überlege ja, das Buch zu lesen - gerade was man über den Entführer erfährt würde mir vielleicht gegen mein chronisches Problem, keine Schurken schreiben zu können, helfen.


    Aber ist das für zartbesaitete Gemüter erträglich? Was ist sonst so eure Schmerzgrenze?
    Ich lese ja schon freiwillig keine Thriller mit Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom oder ähnlich ekelhaften Inhalten, und wenn ein Buch eine Vergewaltigung enthält ist das fast immer ein Ausschlusskriterium.
    Aushalten kann ich so etwas zwar, manchmal lese ich so ein Buch, besonders wenn ich damit rechnen kann, dass der Täter am Ende seiner gerechten Strafe zugeführt wird...aber allgemein bin ich eben doch nicht besonders "abgehärtet"

  • Ich denke es laesst sich auch lesen, wenn man eher zartbeseitet ist. Es werden natuerlich seelische und koerperliche Misshandlungen beschrieben, aber es ist sehr sachlich gehalten und alles andere als blutruenstig.

    Gruss aus Calgary, Canada
    Beatrix


    "Well behaved women rarely make history" -- Laura Thatcher Ulrich

  • Ich habe das Buch innerhalb von 2 Tagen durchgelesen und bin ehrlich beeindruckt. Ohne die positive Resonanz hier im Forum, hätte ich es mir sicherlich nicht zugelegt, wäre mir voyeuristisch vorgekommen.
    Natascha Kampusch hat schonungslos über ihre Jahre in der Gewalt des "Täters", wie sie ihn meistens beschreibt, berichtet.Über die psychischen und physischen Folterungen, man kann sich gar nicht vorstellen, wie sie das alles überleben konnte. Vielleicht ist es wirklich so, dass sie damit besser zurechtkam, weil sie ein Kind war und anpassungsfähiger als jeder Erwachsene es hätte sein können.
    Die "Berichte" über die körperliche Gewalt, die er ihr angetan hat, waren wie eine Aufzählung, emotionslos, trotzdem nicht minder schockierend.
    Dass sie an den ganzen Mißhandlungen nicht zerbrochen ist, grenzt an ein Wunder.
    Man kann jetzt auch anhand der Beschreibung ihres inneren Gefängnisses verstehen und nachvollziehen, warum sie nicht vorher schon geflohen ist, obwohl sie doch augenscheinlich soviele Gelegenheiten dazu hatte.
    Trotzdem ist es ihr nach 3096 Tagen gelungen. Man kann ihr nur alles Gute für die Zukunft wünschen und dass sie sich irgendwie mit den Erinnerungen an die Geschehnisse von damals arrangieren kann.

  • Danke für diese ausführliche Rezension.


    Ich überlege schon länger an diesem Buch, bin mir nur nicht sicher ob es das Richtige für mich ist. Nach diesem Beitrag werde ich mal schauen, ob wir es in unserer Bibliothek haben.


    Biografien kaufe ich mir ungern als HC, weil ich solche Bücher meist nur einmal lese. Aber wenn es unsere Bibo nicht hat, dann frag ich vielleicht mal meine Ma ob wir es uns teilen wollen denn jetzt bin ich doch neugierig auf das Buch geworden. :)

  • Ich kann die Zweifler wirklich ermutigen, dieses Buch zu lesen:
    Es ist einfach und klar geschrieben, in keiner Weise irgendwie sensationsmäßig aufgebaut.
    Einige Kleinigkeiten fielen mir auf wie z. B.: Wenn man statt um 7 Uhr um halb 9 Uhr zuhause ist, ist man nicht zweieinhalb Stunden sondern nur eineinhalb Stunden zu spät, da wäre evtl. ein gründlicheres Lektorat wünschenswert gewesen. Aber letztlich geht so etwas "unter", wenn man erst einmal in die Geschichte "eintaucht", miterlebt, was Natascha Kampusch (sie hat extra geschrieben, dass sie nicht nur als "Natascha" bezeichnet werden möchte, weil ihr das zu verkindlichend vorkommt) erdulden musste und wie sie es schaffte, zu überleben (sowohl physisch als auch psychisch) und schließlich zu fliehen. Ich halte Frau Kampuschs Schilderungen für 100% nachvollziehbar (auch, wenn es schwerfällt, zu akzeptieren, was Menschen einander antun können), und bewundere sie für ihre Fähigkeit, sich nicht zerbrechen zu lassen, kann auch ihren Ausführungen zum Thema "Stockholm-Syndrom gut folgen und finde es durchaus begreiflich, dass sie frühere scheinbare Fluchtmöglichkeiten nicht hat ergreifen können.

    “Lieblose Kritik ist ein Schwert, das scheinbar den anderen, in Wirklichkeit aber den eigenen Herrn verstümmelt.”Christian Morgenstern (1871 – 1914)

  • Ich habe das Buch eben zu Ende gelesen und finde es wirklich gut. Man bekommt einen detailierten Einblick in ihre Gefangenschaft, einiges wird klargestellt, was Medien falsch dargelegt haben und es ist sehr emotional. Sehr zu empfehlen.

  • Ich finde in der Tat auch, dass die Rezensionen hier schon nahezu alles gesagt haben. Daher möchte ich es einmal auf andere Art und Weise machen.


    "Liebe Natascha!
    Gerade eben habe ich die Lektüre Deines Buches beendet. Ich hatte es mir ausgeliehen, und gedachte eigentlich erst in wenigen Tagen zu beginnen. Doch einmal hineingeschaut, hat mich der Gefühlsstrom sofort gepackt, den Du in dieses Buch hast fließen lassen. Und dem konnte und wollte ich mich nicht entziehen. So ist es erst einen Tag, nachdem es bei mir ankam, schon ausgelesen. Aber lange noch nicht verarbeitet.


    Und genau aus diesem Grund möchte ich Dir auch sofort schreiben. Es mag für andere Menschen paradox aussehen, das auf diesem Wege zu erledigen. Doch ich halte diese Art und Weise dennoch für sinnvoll. Schließlich bist Du auch genau diesen Weg gegangen: Du hast Deine Gefühle dem geschriebenen Wort überlassen, ohne genau die Richtung zu kennen, die das Geschriebene nehmen würde. Du hast, wie schon zur Zeit Deiner Gefangenschaft, Vertrauen gehabt. Vertrauen darin, dass das, was Du zu geben und zu sagen hast, nicht sinnlos ist, und dass es seinen Weg finden wird. Das ist mir Vorbild und Mahnung zugleich.


    Wie hätte ich auch, nach all den emotionalen Achterbahnfahrten, die ich mit Dir auf den 284 Seiten erlebt habe, eine stinknormale "Rezension" schreiben können? Ich wäre mir billig vorgekommen. Billig und sensationslüstern. Doch genau das ist Dein Buch eben nicht gewesen, diese Klippe wollte es umschiffen. Es hat also eine "Abarbeitung" als reines Buch niemals verdient.


    Was es sehr wohl verdient hat, ist, dass man die Gedanken und Gefühle weiterträgt, die es angestoßen und verbreitet hat. Wenn ich dazu mit diesem Brief auch nur ein wenig beitragen kann, dann hat es sich für mich gelohnt.


    Natascha, ich gebe zu, dass ich nach dem Umklappen der letzten Seite spontan in Tränen ausgebrochen bin. Damit möchte ich nicht erneut Mitleid für Dich erwecken. Mitleid brauchst Du nicht. Doch daran kannst Du sehen, dass Deine Worte etwas transportiert haben. Sie haben DICH transportiert. Dein Bericht ist zu jedem Zeitpunkt echt und wahrhaftig gewesen, ohne auf Effekte zu schielen. Zwar hat man an einigen Stellen durchaus gemerkt, dass Dir zwei professionelle Journalistinnen unter die Arme gegriffen haben. Aber dahinter bist Du eben immer Du geblieben. Und das imponiert mir ungeheuer!


    Ich glaube, dass Du durch dieses Erleben tatsächlich zwangsweise erwachsen geworden bist. Du hast Dinge durchdenken müssen, Du hast Einsichten entwickelt, zu denen mancher glückliche Rentner noch nicht einmal gelangt! Ganz besonders Deine Gedanken zu Identität, zu Schuld und Vergebung, und zu dem, was eine gesunde Psyche ausmacht, sind für eine junge Frau Deines Alters eher untypisch. Wie schade, dass Du einen so hohen Preis dafür zahlen musstest.


    Berührt hat mich auch, dass Du niemals nur an Dich alleine gedacht hast - oder zumindest nur selten. Immer hast Du Dich in Bezug zu anderen Menschen gesehen. Du hast Dir die Gefühle und Gedanken der anderen immer gleich mit aufgeladen. Sei es beim Rückblick an Deine Eltern, sei es bei Fluchtgedanken und deren möglichen Folgen. Sogar an die Folgen für den Täter hast Du gedacht! Wie musst Du es geniessen, nun nicht mehr für alle "mitdenken" zu müssen. Ich kann voll und ganz verstehen, dass Du nach Deiner Flucht nicht zu Deiner Familie zurück wolltest. Lass Dir da auch im Nachhinein bloß nicht reinreden!


    Auch wenn andere Menschen nun von irgendwelchen "Syndromen" reden - lass sie. Sie sind es ja nicht, die Dein Päckchen zu tragen hatten. Sie verstehen nicht, dass wirkliche Freiheit nicht automatisch mit dem Davonrennen einfach "da ist". Freiheit ist etwas, dass man sich auch seelisch zugestehen muss, damit es funktioniert. Und das hast Du geschafft.


    Vielleicht hat viele Leute auch verprellt, dass Du dem "Täter", den Du im Buch ja fast nie mit Namen nennst, nicht die Rolle zuteilst, den sie ihm so gerne gegeben hätten. Du dämonisierst ihn nicht, Du stellst ihn nicht auf ein Podest, und Du räumst ihm auch keinen Vorrang in Deinem Buch ein. Du beschreibst einfach Deinen Weg, und auf diesem Weg war er eine Station - wenngleich auch eine entscheidende. Doch als mehr sollte man ihn nicht betrachten. Denn auch er ist seinen eigenen Weg ja konsequent gegangen - bis zum Ende. Das ist seine Verantwortung allein. Nicht Deine.


    Liebe Natascha, Du hast Dich ja auch in Bezug gesetzt zu anderen Entführungsopfern - u.a. Sabine Dardenne, die aus den Fängen von Marc Dutroux befreit werden konnte. Ihr Buch habe ich auch hier liegen. Eigentlich wollte ich es gleich im Anschluss lesen. Doch das käme mir nun doch irgendwie pervers vor. So, als wollte ich "sightseeing" an und in eurem Leid betreiben. Das werde ich also erst mit gebührendem Abstand machen. Auf jeden Fall aber hast Du mir ermöglicht, diesen ganzen Themenkomplex mit anderen Augen zu betrachten. Danke, Natascha. Danke für Dein Vertrauen in uns Leser. Und Danke für Deinen Mut, und Deinen Glauben an die Zukunft."

  • Ich habe das Buch vor wenigen Tagen verschlungen.
    Eigentlich habe ich mir ein zweites Buch bereitgelegt, um mich dann zwischendurch immer wieder mit einem anderen Thema zu beschäftigen.
    Aber die ganze Geschichte rund um die Entführung, die grausamen Misshandlungen und die Flucht war so spannend, schockierend und berührend, dass ich das Buch nicht aus der Hand legen konnte.


    Nichts für schwache Nerven aber sehr lesenswert!!

  • Vielen Dank für Eure vielen tollen Meinungen!


    Ich werde mir das Buch in den nächsten Tagen kaufen. Ich hatte es schon so oft in der Hand, es aber immer wieder zurück ins Regal gestellt, weil Frau Kampusch in den Medien auf mich eher einen unsympathischen Eindruck macht. Dennoch interessiert es mich sehr, wie man eine "Gefangenschaft" über so viele Jahre und das in dem jungen Alter sowohl körperlich als auch seelisch verkraftet.


    Liebe Grüße

    Gelesene Bücher/Ebooks 2022: 0/2
    Aktueller SuB/Ebooks: 106/122 (End-SuB 2021: 106/99)


    :lesend Der Heimweg - Sebastian Fitzek :sekt

  • Für ein solches Buch eine Rezi zu schreiben ist immer schwierig. Es ist unangebracht zu schreiben; das Buch ist gut oder schlecht bei einer solch tragischen Geschichte.
    Das einzige was man beurteilen kann, ist wohl der Schreibstil, der ist flüssig und sachlich ist.

  • Ich hab das Buch vor einigen Monaten hier im Rahmen einer Leserunde gelesen und war zutiefst bewegt! Ich denke, was Natascha Kampusch erlebt und durchgemacht hat, lässt keinen Menschen unberührt.


    Ich fand aber auch den Schreibstil sehr, sehr gut (was bei Autobiografien ja oft nicht der Fall ist...), und ich finde, sie hat all ihre Emotionen und ihr Verhalten sehr gut geschildert, so dass man wirklich nachfühlen und verstehen konnte, was in ihr vorgegangen ist!


    Ein absolut bewegendes Buch, das man gelesen haben sollte!

  • Meine Meinung


    Die Geschichte der Natascha Kampusch ist bekannt, sie wurde als Kind von einem Mann entführt und über 8 Jahre als seine Gefangene gehalten. Nach ihrer Flucht beging er Selbstmord, so dass nur noch das Opfer selbst Einblicke in diese Zeit geben kann. Und das macht Natascha Kampusch hier mit ihrer Autobiografie, die sie nicht ganz alleine geschrieben hat, wie man einer Seite zu Beginn des Buches entnehmen kann.


    Mittlerweile war für mich der „Fall Kampusch“ in weiterer Ferne gerückt, viel hat man immer wieder über die Medien gehört. Vermutungen, Gerüchte, Halbwahrheiten. Aber selten von Natascha selbst oder im Kontext bzw. mit Erklärungen. Diese Biografie bietet die Möglichkeit dazu, sie beginnt mit ihrer Kindheit, der Familiengeschichte. Hier konnte ich ihr gut folgen, sie verklärt oder beschönigt nichts, so dass man eine gute Vorstellung über die Natascha vorher bekommt. Dann kommt die Entführung, die Gefangenschaft. Ab hier war fiel es mir mitunter schwer, ihr zu folgen, da es oft etwas unstrukturiert ist. Nicht immer ist es möglich, das Erlebte rein chronologisch zu erzählen, Zeitsprünge oder auch Zusammenfassungen von erlebten Misshandlungen zeichnen aber ein Eindrucksvolles Bild dieser für sie schweren Zeit. Nicht selten dachte ich bei Daten an mein Leben und was zu der Zeit für mich wichtig war und wurde traurig, wenn ich lass, was sie zu der Zeit erlebt hatte.
    Natascha beschreibt, wie sie sie in der Zeit entwickelt hat, wie ihr Entführer zu ihrer einzigen Bezugsperson wurde. Wie sie vieles entbehren und noch mehr vermisst hat. Bis dahin, wo sie gar nicht mehr an eine Welt, an ein Leben außerhalb der Begrenzungen, die der Entführer geschafften hatte, geglaubt hat. Und doch gelingt ihr die Flucht aus dem Gefängnis.
    Der Umgang der Medien, der Politik und der Gesellschaft und wie sie dies erlebte beschreibt sie auch. Immer wieder kritisiert sie auch die Ermittlungen der Polizei und man fragt sich unwillkürlich, ob nicht vieles durch sorgfältigere Ermittlungen verhindert werden könnte. Gerne hätte ich mehr über ihr jetziges Leben erfahren, verstehe jedoch, wenn sie sich für diesen Lebensabschnitt mehr Privatsphäre erwünscht.


    Insgesamt ist es eine lesenswerte Biografie, die mich nicht wenig mitgenommen hat, aber aus der ich auch vieles Informatives über ihren Fall mitgenommen habe. Ob ich das Buch ihrer Mutter („Verzweifelte Jahre: Mein Leben ohne Natascha“ von Brigitta Sirny-Kampusch) weiß ich noch nicht sicher, aber es würde mich interessieren.

  • Rezension:
    Am 17. Februar 1988 wurde Natascha Kampusch in eine sich auflösende Familie hineingeboren. Ihre Eltern standen kurz davor, sich zu trennen und ihre großen Schwestern waren bereits außer Haus und führten ihr eigenes Leben. Von beiden Elternteilen wurde sie geliebt, wobei ihre Mutter hier ihre Gefühle nicht so deutlich wie ihr Vater zum Ausdruck bringen konnte. Natascha Kampusch wuchs eher behütet auf, auch wenn die Gegend, in der sie groß wurde, nicht zu den "feinen" Gegenden gehörte.


    Doch auch die Liebe zu ihrem Kind konnte die Ehe der Eltern nicht retten. Sie trennten sich und Natascha verbrachte eine Ferienwoche im Februar 1998 mit ihrem Vater in Ungarn - es sollte der letzte Urlaub und das letzte familiäre Zusammentreffen für viele Jahre sein.


    Am 2. März 1998 bat sie, im Alter von 10 Jahren, dass ihre Mutter sie nicht mehr zur Schule fahren möge, da sie ja schon groß sei und den Weg auch alleine gehen könnte. Insgeheim war es ihr peinlich, sich vor dem Schulgelände von ihrer Mutter verabschieden zu müssen und damit für Getuschel unter den anderen Schülern zu sorgen. An diesem Morgen ärgerte sie sich morgens über ihre Mutter und verließ die Wohnung ohne Abschiedsworte - für mehr als 8 Jahre. Noch auf dem Schulweg wurde sie in einen weißen Kastenwagen geschubst und entführt.


    3096 Tage muss dieses junge Mädchen und später junge Frau unter menschenunwürdigen Zuständen leben - in einem Kellerverlies, teilweise ohne Licht, ohne frische Luft, ohne Nahrung, dafür mit Gewalt. Nach 3096 Tagen gelingt ihr die Flucht, denn sie weiß, nur einer von beiden, entweder sie, oder ihr Peiniger, können überleben. Doch damit ist ihre Geschichte noch nicht vorbei ...


    In diesem Buch berichtet uns Natascha Kampusch, was ihr widerfahren ist, wie sie in dieser Situation gewachsen ist und es geschafft hat, nicht unter dem Druck zu zerbrechen und sich selbst treu zu bleiben. Sie gibt uns einen Einblick in das Leben, das sie mehr als 8 Jahre lang führen musste, Situationen ihres "Alltages", die schrecklicher nicht sein könnten und dennoch hat es diese junge Frau geschafft, gestärkt aus ihr hervorzugehen.