'Als wir unsterblich waren' - Seiten 001 - 085

  • Nachdem ich im Februar/März die „Meindorff-Trilogie“ (spielt zwischen 1908 und 1919) gelesen habe, hatte ich eigentlich nicht vor, so schnell wieder einen Roman zu lesen, der in jener Zeit spielt. Und um Familiengeschichten mache ich inzwischen eher einen Bogen. Nachdem ich dann ein bißchen in der Leserunde gestöbert habe, hatte ich jedoch das dringende Gefühl, dieses Buch lesen zu müssen. Bisher - S. 58 - habe ich es nicht bereut, im Gegenteil.


    Selten sind mir auf so wenig Seiten so viele Sätze begegnet, die ich meine zitieren zu müssen. Da das so viele sind, lasse ich es lieber, vielleicht mit einer Ausnahme von S. 14: Wenn man sich in keine Geschichte von anderen Leuten mehr flüchten kann, wird die Stille im Kopf so laut.


    Das ist zwar nicht das erste Charlie-Buch, das den Weg in mein Bücherregal findet, aber - wie ich zugeben muß - das erste, das auch gleich gelesen wird. Ich bin sehr positiv überrascht, stilistisch spricht mich das sehr an. Ich war sofort „im Buch drin“, das Kopfkino begann umgehend zu rattern, und es ist schwer, das Buch aus der Hand zu legen (was ich derzeit aber leider dauernd tun muß).


    1989 war ich 31, an die Grenzöffnung habe ich noch dunkle Erinnerungen. Dunkle, weil damals in meinem Privatleben einiges passierte, was solche weltgeschichtlichen Ereignisse etwas in den Hintergrund drängte. Allerdings sind meine (damals in spe) Schwiegereltern im Sommer 1989 nach Bad Hersfeld gezogen. Und damit bekamen sie wie auch wir, wenn wir zu Besuch kamen, die ganzen negativen Folgen der Einheit mit. Von vollen Autobahnen bis hin, daß meine Schwiegereltern Mühe hatten, Dinge des täglichen Lebens (wie Lebensmittel) zu kaufen, weil dauernd alles ausverkauft war. Ich selbst habe zwar „drüben“ (entfernte) Verwandtschaft, aber da ergab sich kein Kontakt. Nur der Bruder meines Vaters konnte dank der Einheit dann zu unserer Hochzeit kommen.


    S. 42: Wir können denen doch nicht alles in den Rachen schmeißen, so viel haben wir schließlich selber nicht. So etwa war die Stimmung hier (wenige km hinter der ehemal. Grenze, Bad Hersfeld ist die erste Stadt in Hessen, wenn man von Thüringen kommt) auch. (Meine Frau und ich sind 1992 hierher gezogen, da war das immer noch oder eher ziemlich stark so.)


    Die Nacht des 9. November ist im Buch ausnehmend gut beschrieben, da kamen dann einige längst vergessene (TV-) Erinnerungen hoch. Meine Güte, was ist aus der Euphorie und dem Anfang geworden geworden?!


    Momis Zusammenbruch wird wohl die Ereignisse (bzw. Erzählungen davon) auslösen, um die es im Weiteren gehen wird.


    Ein bißchen aufpassen bzw. mich zurückhalten sollte ich vielleicht, wenn es um politische Fragen im Buch geht. Ich war in meiner Jugend auch politisch aktiv, mein Vater mußte mein Parteieintrittsformular unterschreiben, weil ich noch minderjährig war. Hat ihm nicht gepaßt, hat er aber dennoch getan. Aber im Alter von Oliver hatte ich die Illusion, man könnte etwas verändern längst verloren und das erste Mal resigniert. Und es war nicht die Partei, um die es hier im Buch geht. :grin



    Zitat

    Original von maikaefer
    die Großmutter - hier war ich echt immer wieder am Rechnen, die muss doch 1896 geboren worden sein, und dann 1989 so eine junge Enkelin?


    Das ist kein Kunststück. Meine Großmutter war 1886 geboren, als ich zur Welt kam, war sie 72, also etwa drei Jahre älter als die Momi hier.



    Zitat

    Original von Zwergin
    Ich oute mich dann mal als Ausenseiter :lache
    Den Titel finde ich absolut gruselig! Klingt für mich nach seichter Liebesgeschichte und in der buchhandlung hätte ich das Buch keines zweiten Blickes gewürdigt.


    Beruhigend. Ob mich der Titel anspricht, weiß ich im Moment - so seltsam das klingen mag - gar nicht so recht. Und ob mir das Cover gefällt, kann ich desgleichen nicht einschätzen. Ich bin gestern in die Buchhandlung und habe konkret nach diesem Buch gesucht. Das hätte heißen können, wie es will und auch das Cover war mir egal. ich wußte ja, daß ich das Buch wollte.



    Zitat

    Original von Rosenstolz
    (...) und finde die Liebe-auf-den-ersten-Blick-Story beeindruckend erzählt.


    :write Dabei frage ich mich immer, ob es so was nur in Büchern und Filmen oder auch im wirklichen Leben gibt.



    Zitat

    Original von Booklooker
    Meine Oma hat übrigens auch immer von der "Zone" gesprochen... Weiß einer, warum da es so genannt wurde?


    Nicht nur Deine Oma. „Zone“ ist eine Akürzung für „Ostzone“; nach dem 2. Weltkrieg gab es die Ostzone und die Westzone. („Intern“ ist das für mich heute noch “drüben“ :rolleyes, und ich muß immer aufpassen, diese Bezeichnung nicht zu benutzen.)


    Ansonsten werde ich vermutlich eher langsam voran kommen, da ich meist nur morgens etwa eine halbe Stunde Lesezeit und derzeit tagsüber i.d.R. kein Internet habe, also nur Abends hier hereinschauen kann. Die Einteilung mit eher kürzeren Abschnitten kommt mir daher sehr entgegen. :-)

    Unter den Büchern finden wir wieder, was uns in der Fremde entschwand, Frieden im Innern und Frieden mit unserer Umgebung.
    (Gustav Freytag, 1816 - 1895, aus "Die verlorene Handschrift")

  • Zitat

    Original von SiCollier


    Selten sind mir auf so wenig Seiten so viele Sätze begegnet, die ich meine zitieren zu müssen. Da das so viele sind, lasse ich es lieber, vielleicht mit einer Ausnahme von S. 14: Wenn man sich in keine Geschichte von anderen Leuten mehr flüchten kann, wird die Stille im Kopf so laut.
    Güte, was ist aus der Euphorie und dem Anfang geworden geworden?!


    Genau diesen Satz habe ich mir auch notiert :grin


    Den fand ich so zutreffend, bei mir ist es aber leider nicht Stille sondern der Tinnitus, wobei Stille hier wohl eher eine Methapher ist. Ich bin schon gespannt auf Deine posts.

  • Zitat

    Original von SiCollier


    Die Nacht des 9. November ist im Buch ausnehmend gut beschrieben, da kamen dann einige längst vergessene (TV-) Erinnerungen hoch. Meine Güte, was ist aus der Euphorie und dem Anfang geworden geworden?!


    Ja, bei mir sind es auch ausschliesslich TV-Erinnerungen, diese haben sich aber schon fest in meinem Kopf eingeprägt.

  • Zitat

    Original von SiCollier


    Dabei frage ich mich immer, ob es so was nur in Büchern und Filmen oder auch im wirklichen Leben gibt.


    In sogenannten historischen Augenblicken wie der Nacht des 9. November gibt es dieses Phaenomen nachweislich sehr haeufig. Menschen sind sozusagen "dramatisch aufgeheizt", emotional aufgeladen und wesentlich ungehemmter als in ihrem Alltagsleben. Man vereinnahmt damit - zweifellos unbewusst - ja auch so einen historischen Augenblick fuer sich: Aus "Der Tag, an dem die Mauer fiel" wird "Der Tag, an dem wir uns kennenlernten".


    Wie haltbar so etwas dann ist, ist eine ganz andere Frage, aber um ehrlich zu sein: Die interessiert mich nicht besonders. Beziehungen sind im Allgemeinen nicht sonderlich haltbar, ob auf den ersten oder den hundertsten Blick, denke ich. Pi mal Daumen laesst sich sicher sagen: Jeder, der in einer dauerhaften lebt, hat mindestens eine gescheiterte hinter sich. Ist, wie gesagt, nicht mein Thema.


    Eigentlich behaupte ich in meinem Roman ja, dass das zwischen Alexandra und Oliver gar keine Liebe auf den ersten Blick ist. Und die Frage, ob es das Phaenomen, was ich beschreibe, eigentlich gibt, faende ich sehr spannend. Aber die koennen wir natuerlich nicht in Ordner Eins diskutieren.


    Anyway - noch einmal herzlich willkommen SiCollier. Ueber deine interessanten, ausfuehrlichen Eindruecke freue ich mich sehr. Und darueber, dass du Zitate, die dir gefallen haben, aufschreibst, besonders. Das passiert selten und ist fuer mich sehr schoen, weil es mir ganz direkt zeigt, was eigentlich wie beabsichtigt wirkt und was nicht.


    Zum Thema "Zone" haette ich laengst etwas sagen sollen. Berlin wurde ja voruebergehend als "Trizonesien" bezeichnend (und die Berliner als Eingeborene von Trizonesien), das ging vorbei, aber "SBZ" oder "Zone" hielt sich. Meine auf Polen stammende Oma hat das auch immer gesagt, ihr war bis zu ihrem Tod nicht so richtig klar, dass "Zone" nicht der Name dieses Staates ist. Da ich als Kind sehr haeufig mit ihr einen der Berliner Grenzuebergaenge ueberquerte, um ihren Bruder in Karlshorst zu besuchen, sassen wir des oefteren mehrere Stunden lang in einem dieser netten Belehrungszimmerchen, nachdem sie wieder einmal einen "Grepo" gefragt hatte, ob man eigentlich dieses oder jenes "in die Zone" mitnehmen duerfe. Ich hatte da immer furchtbare Angst, weshalb ich sie schon vorab von ihrer Zonen-Fragerei abhalten wollte. Der Satz "Oma, das heisst DDR" ist mithin bei uns zum gefluegelten Wort geworden.


    Herzlich gruesst Charlie

  • Ich mag das jetzt vielleicht falsch im Hinterkopf haben. Meine Oma meinte glaube ich ganz explizit die "Zone direkt hinter der Grenze". Da gab es wohl so Gebietsstreifen direkt hinter der Grenze die noch schlechter dran waren als der Rest der DDR.
    Mag sein das ich das falsch im Kopf habe.

  • Zitat

    Original von Charlie
    Und darueber, dass du Zitate, die dir gefallen haben, aufschreibst, besonders.


    Dann noch eines von S. 19: Wer sich ans Leben traut, hat keine Ahnung davon.
    Ich habe mich an etlichen Stellen, ohne daß ich die jetzt angestrichen hätte, gefragt, ob wir uns nicht doch persönlich kennen, so sehr kam mir manches vertraut vor.



    Zitat

    Original von Charlie
    Eigentlich behaupte ich in meinem Roman ja, dass das zwischen Alexandra und Oliver gar keine Liebe auf den ersten Blick ist. Und die Frage, ob es das Phaenomen, was ich beschreibe, eigentlich gibt, faende ich sehr spannend. Aber die koennen wir natuerlich nicht in Ordner Eins diskutieren.


    Letzteres ist klar. Und der Rest wird vielleicht beim weiteren Lesen veständlicher.



    Zitat

    Original von Charlie
    Menschen sind sozusagen "dramatisch aufgeheizt", emotional aufgeladen und wesentlich ungehemmter als in ihrem Alltagsleben.


    :gruebel Da reagiere ich wohl anders. Je mehr ich „aufgeheizt“ bin, je mehr ziehe ich mich zurück und warte, bis ich wieder den Normalzustand erreicht habe.


    Ja, „Zone“ als Begriff kenne ich auch noch. Obwohl bei uns meist „Ostzone“ gesagt wurde. Mein Vater stammte ursprünglich aus Sachsen, so daß wir Richtung Riesa / Dresden (entfernte) Verwandtschaft hatten. Da schickten wir dann zu Weihnachten ein Paket hin, und jedes Jahr warteten wir auf den Original Dresdner Christstollen, den wir bekamen.


    Ab 1965 durfte meine Oma uns besuchen kommen, und sie kam dann jedes Jahr. 1973 war ich mit meinem Vater zum Gegenbesuch dort und drängte sie, im nächsten Jahr wieder zu kommen. „So Gott will“, sagte sie. Gott wollte nicht.


    Zitat

    Original von bauerngarten
    Da gab es wohl so Gebietsstreifen direkt hinter der Grenze die noch schlechter dran waren als der Rest der DDR.


    Ja, ich meine, das waren 5 km entlang der Grenze. Aber km-Angabe ohne Gewähr.



    S. 61: Nächstens streikt noch der liebe Gott, und uns knallt der Himmel auf den Kopp. :lache
    Eben, um sich dann zu schützen, trug ein gewisser Gallierstamm immer einen Schild mit sich. Auf dem konnte man nicht nur getragen werden, sondern ihn bei Bedarf auch über den Kopf halten. :chen


    Die Verhältnisse in Paulas Familie sind schon ... nicht so schön. Von denen in anderen (Arbeiter-)Familien ganz zu schweigen. Ich habe vor einiger Zeit ein Buch über die Sowjetunion gelesen, zu dem schrieb ich:
    „Sehr bald wird deutlich, daß es im damaligen Russischen Reich Veränderungen geben mußte. Ich habe mich unwillkürlich gefragt, wie ein Volk über einen so langen Zeitraum dermaßen geknechtet (mir fällt gerade kein anderer Ausdruck ein) leben konnte wie unter der Zarenherrschaft.“
    Ein gleiches könnte ich über das deutsche Kaiserreich schreiben. Ich frage mich manchmal, wieso solche Systeme dermaßen lang bestehen können.


    Paula darf also nicht weiter die Schule besuchen. Vermutlich der erste Schritt hin zu der verbitterten (?) alten Frau vom Beginn des Buches.


    Als die Polizei „eingriff“, mußte ich unwillkürlich an den Polizeieinsatz während der Russischen Revolution von 1905 aus dem „Doktor Schiwago“ denken.


    Zu den politischen Aktivitäten schreibe ich im nächsten Abschnitt, wenn mehr davon dran war, etwas.

    Unter den Büchern finden wir wieder, was uns in der Fremde entschwand, Frieden im Innern und Frieden mit unserer Umgebung.
    (Gustav Freytag, 1816 - 1895, aus "Die verlorene Handschrift")

  • Zitat

    Original von SiCollier
    Als die Polizei „eingriff“, mußte ich unwillkürlich an den Polizeieinsatz während der Russischen Revolution von 1905 aus dem „Doktor Schiwago“ denken.


    :write


    Ich hatte erst kürzlich erneut den Film gesehen...


    :wave


    EDIT:


    Was die Generationen betrifft: Als ich geboren wurde, lebte die Oma meiner Oma noch, vielleicht erstaunte mich deshalb der Zeitraum ein wenig.
    Und zum Thema "Zone": Ich erinnere sogar noch dunkel den Ausdruck "SBZ" = "Sowjetisch besetzte Zone" (im Gegensatz zur Englisch, amerikanisch und französisch besetzten Zone bzw. Sektor).

    “Lieblose Kritik ist ein Schwert, das scheinbar den anderen, in Wirklichkeit aber den eigenen Herrn verstümmelt.”Christian Morgenstern (1871 – 1914)

    Dieser Beitrag wurde bereits 1 Mal editiert, zuletzt von maikaefer ()

  • Zitat

    Original von SiCollier


    Die Verhältnisse in Paulas Familie sind schon ... nicht so schön. Von denen in anderen (Arbeiter-)Familien ganz zu schweigen. Ich habe vor einiger Zeit ein Buch über die Sowjetunion gelesen, zu dem schrieb ich:
    „Sehr bald wird deutlich, daß es im damaligen Russischen Reich Veränderungen geben mußte. Ich habe mich unwillkürlich gefragt, wie ein Volk über einen so langen Zeitraum dermaßen geknechtet (mir fällt gerade kein anderer Ausdruck ein) leben konnte wie unter der Zarenherrschaft.“


    Wenn man überlegt wie lange es Stalin gelang die Menschen zu knechten und ihm dafür auch noch gehuldigt wurde.
    Das war in diesem Buch sehr interessant beschrieben


    Winterkinder - Owen Matthews


    Zitat

    Original von SiCollier



    Als die Polizei „eingriff“, mußte ich unwillkürlich an den Polizeieinsatz während der Russischen Revolution von 1905 aus dem „Doktor Schiwago“ denken.


    Mein Gedanke, leider nicht erwähnt, so Leserunden sind einfach unersetzlich um sich ein Buch zu erarbeiten.


    Und Polizeieinsätze dieser Art gibt es ja heute noch genügend in verschiedenen Ländern.

  • @ maikaefer
    Ich auch, Film gesehen und Buch gelesen. :wave



    @ Findus
    "Winterkinder" habe ich mir vor ein paar Tagen zugelegt (als Folge des Rezithreads hier, auch wenn ich's dort nicht erwähnt habe), steht neben mir im Regal der "möglichst bald zu lesenden Bücher". :-)


    Und Polizei- und sonstige Einsätze gibt es in der Tat mehr als genug...

    Unter den Büchern finden wir wieder, was uns in der Fremde entschwand, Frieden im Innern und Frieden mit unserer Umgebung.
    (Gustav Freytag, 1816 - 1895, aus "Die verlorene Handschrift")

  • Nicht boese sein, aber in euer interessantes Gespraech mische ich mich mit meinem Gesabbel mal gar nicht ein, sondern schaue gespannt von aussen zu und freu mich.


    Herzlich,
    Charlie

  • Zitat

    Original von SiCollier




    @ Findus
    "Winterkinder" habe ich mir vor ein paar Tagen zugelegt (als Folge des Rezithreads hier, auch wenn ich's dort nicht erwähnt habe), steht neben mir im Regal der "möglichst bald zu lesenden Bücher". :-)
    ..


    :-] Bin schon gespannt was Du dazu sagst. Ich finde, dazu bräuchte man auch eine LR.

  • So, jetzt steige ich auch endlich richtig ein. Ich war krank (und bin es noch immer) und musste parallel die Aufgaben fürs mündliche Abi vorbereiten und Kind war auch angeschlagen ... denkbar blöde Voraussetzungen, um am Ball zu bleiben. Aber jetzt bin ich ein gutes Stück vorangekommen und möchte eigentlich gleich weiterlesen.


    Charlies Stil gefällt mir sehr gut. Es gibt immer wieder Sätze und Ausdrücke in dem Buch, über die ich mich beim Lesen einfach nur freue. Man merkt, dass hier jemand mit Liebe und Gefühl für Sprache am Werk ist :-)


    Faszinierend finde ich auch, wie geschickt es Charlie gelingt, ein Gefühl für die Zeit aufzubauen, ob es nun die ausgehenden 80er Jahre sind oder eben 1912. Das sind so viele kleine Details, die stimmen und das Bild rund machen und eben nicht die üblichen Klischees sind, sondern Dinge, die das Alltagsleben wiedergeben, und zwar gerade dort, wo es sich von unserem heutigen unterscheidet (z.B. die Kaffeebude mit dem Blechschild, aber auch viele andere Details). Da würde mich interessieren, wie du bei der Recherche vorgegangen bist, Charlie .


    Die Figuren - ich vertrete ja die Ansicht, dass Figuren nicht sympatisch sein müssen, sondern interessant und den Leser faszinieren sollten. Zumindest soweit, dass man sich dafür interessiert, wie es mit ihnen weitergeht. Ein Darth Vader z.B. ist mit Sicherheit keine Figur, die sympathisch ist (er handelt ja gegen sämtliche Grundsätze eines humanen Miteinanders), aber ich kenne kaum eine Figur, die mich so fasziniert. Und da gibt es noch einige andere, die eher "grau" sind, Scarlett O'Hara z.B., die weder mit ihrem Wesen noch mit ihrem Handeln dafür prädestiniert ist, Sympathieträgerin zu sein, und dennoch eine der schillerndsten und interessantesten Frauengestalten ist, die ich kenne.
    Vor dem Hintergrund werte ich für mich die Figuren eines Romans, und ich muss sagen, dass sie mir bislang fast durch die Bank sehr gut gefallen. Paula scheint eine starke Persönlichkeit zu sein, die noch in spätpubertären romantischen Träumen (Clemens) gefangen ist und gerade im Umgang mit ihm bisweilen etwas kindisch wirkt. Auf der anderen Seite weiß sie, was sie will, und bleibt trotzdem ganz ein Kind ihrer Zeit. Clemens gefällt mir auch sehr gut. Er ist vielschichtig, moralisch nicht integer und dennoch bereit, für seine Überzeugungen (oder seinen Leumund?) ins Gefängnis zu gehen. Dass er sich an Clivia hält, passt gut zu so einem charismatischen, gutaussehenden Kerl. (Oder wie meine beste Freundin einmal meinte - ab Mitte/Ende 30 füllt sich der Singlemarkt wieder, wenn all die erfolgreichen, gebildeten Kerle feststellen, dass sie mit dem geschminkten Modepüppchen an ihrer Seite nur über Schuhe und Soaps reden können :lache) Manfred und Harry bleiben noch etwas blass, aber da ich schon weitergelesen habe, weiß ich, dass das nicht so bleibt :)
    Mit Alex werde ich hingegen gar nicht warm. Für mein Empfinden ist sie zu passiv, und dass sie plötzlich drei Wochen bei Oliver bleibt, fiel mir schwer nachzuvollziehen. Sie ist eine Figur, bei der es mir im Moment ziemlich egal ist, was mit ihr geschieht - sie fasziniert mich weder, noch berührt sie mich. Farbiger war dagegen Meike (trotz ihrer kurzen Auftritte) und Momi sowieso. Ich bin sehr gespannt, wie sich der Bogen am Ende von den 1910er Jahren zu 1989 schließt.


    Dass ich den Titel einfach genial finde, habe ich ja schon gesagt. Und es freut mich ganz, ganz doll, dass es dieses Buch gibt, in dem so explizit über Politik gesprochen wird, und es dann auch noch so einen Erfolg hat :)


    :wave
    Heike

    Der Bernsteinbund - Historischer Roman - Juni 2010 im Aufbau-Verlag
    Die Tote im Nebel - Historischer Kriminalroman - März 2013 im Gmeiner-Verlag

    Rabenerbe/ Rabenbund - DSA-Fantasyromane - 2017/2018 bei Ulisses

  • Zitat

    Original von Findus
    Ich finde, dazu bräuchte man auch eine LR.


    Das wäre eine Idee, wenn es zeitlich paßt, wäre ich dabei. Mal gucken, ich eröffne ich übers Wochenende einen Thread (vorher schaffe ich es nicht). Am Ende gibt es diesen Herbst dann zwei "Russen-Leserunden."



    Zitat

    Original von Heike
    Die Figuren - ich vertrete ja die Ansicht, dass Figuren nicht sympatisch sein müssen, sondern interessant und den Leser faszinieren sollten.


    :gruebel Darüber muß ich erst mal nachdenken.



    Zitat

    Original von Heike
    Mit Alex werde ich hingegen gar nicht warm.


    Ich schon. Alleine aus dem Grund, weil es in Romanen mit zwei Zeitebenen, zumindest soweit ich sie kenne, in der der „Haupthandlung“ (also i. d. R. in der Vergangenheit) meist ziemlich tragisch zugeht/endet, was durch eine am Ende positiv endende Rahmenhandlung in der neuen Zeit quasi „aufgehoben“ wird. Für mich ist oft nur so die Tragik früherer Tage ertragbar. Krass ausgedrückt: ohne die Hoffnung, daß es in der neueren Zeitebene nicht irgendwie gut ausgeht, würde ich solche Bücher meist nicht lesen.

    Unter den Büchern finden wir wieder, was uns in der Fremde entschwand, Frieden im Innern und Frieden mit unserer Umgebung.
    (Gustav Freytag, 1816 - 1895, aus "Die verlorene Handschrift")

  • So, ich schleich mich jetzt auch mal hier rein, nachdem ich jetzt beschlossen habe, das Buch doch gleich zu holen.


    Ich bin über den ersten Abschnitt vermutlich schon weit raus, ich lese das e-Book und habe da noch nicht gekuckt, ob es da auch Seitenzahlen gibt.


    Ich muss sagen, ich war von Anfang an von dem Buch fasziniert. Der erste Abschnitt mit Alex und Oliver hat mir Gänsehaut auf die Arme gezaubert.
    Mir ist diese Zeit noch sehr in Erinnerung und habe immer Tränen in den Augen wenn ich da die Bilder im Fernsehen sehe. Ich war damals knapp 17 und hatte das Glück einen Geschichtslehrer zu haben, der Geschichte in Geschichten lehrte und damit das Interesse dauerhaft geweckt hatte.
    Im Sommer 89 war ich noch in Berlin zum Kirchentag und damals auch in Ostberlin und die Stimmung, die hier im Buch beschrieben wird erinnert mich an die Zeit damals.



    Auch Paulas Zeit ist für mich sehr faszinierend, auch wenn meine Großmutter Jahrgang 18 warund die Großmutter meines Mannes Jahrgang 12 ist (ja, sie lebt noch und auch sie hat ne ziemliche Berliner Schnauze, ähnlich wie Momi)


    Ich finde die Zeit eh total spannend, leider wird sie ja im Schulunterricht eher kurz abgehandelt, um dann gleich in die Nazizeit zu springen.


    Und jetzt werde ich mich mal durch die Kommentare zum zweiten Abschnitt lesen. :-)

  • Zitat

    Original von streifi
    So, ich schleich mich jetzt auch mal hier rein, nachdem ich jetzt beschlossen habe, das Buch doch gleich zu holen.


    So ähnlich ging's mir auch.



    Zitat

    Original von streifi
    (...) auch wenn meine Großmutter Jahrgang 18 warund die Großmutter meines Mannes Jahrgang 12 (...)


    Ups, mein Vater war Jahrgang 1918, und meine Großmutter (mütterlicherseits) 86. 1886.

    Unter den Büchern finden wir wieder, was uns in der Fremde entschwand, Frieden im Innern und Frieden mit unserer Umgebung.
    (Gustav Freytag, 1816 - 1895, aus "Die verlorene Handschrift")

  • Ich freu mich sehr, dass ihr beide noch dazugestossen seid und hier immer noch Leben herrscht.
    Diese Leserunde ist fuer mich sehr, sehr schoen.


    Alles Liebe von Charlie

  • Zitat

    Original von SiCollier


    So ähnlich ging's mir auch.




    Ups, mein Vater war Jahrgang 1918, und meine Großmutter (mütterlicherseits) 86. 1886.


    Meine Urgroßmutter Mütter-Mütterlicherseits war Jahrgang 1887 ;-)
    sprich, du bist wohl einiges alter als ich ;-)

  • Zitat

    Original von streifi
    sprich, du bist wohl einiges alter als ich ;-)


    Yep, sieht so aus. Im Jahre 1989 war ich 31. Meine Güte, wie alt bin ich dann jetzt??? :yikes ;-)

    Unter den Büchern finden wir wieder, was uns in der Fremde entschwand, Frieden im Innern und Frieden mit unserer Umgebung.
    (Gustav Freytag, 1816 - 1895, aus "Die verlorene Handschrift")