'Die linke Hand der Dunkelheit' - Kapitel 01 - 04

  • Interessant finde ich, dass es doch einige Eulen gibt, die der Ökumene die hehren Motive nicht abnehmen. Vielleicht bin ich zu sehr von Star Trek geprägt, aber mir kam der Ansatz Handel und Wissen eigentlich sehr glaubwürdig rüber.

    Geht mir auch so.


    Mit Genly Ai werde ich aus ähnlichen Gründen auch noch nicht ganz warm. Muss man wirklich in jedem immer das vermeintlich männliche/weibliche suchen? Ich denke, hier merkt man dem Buch einfach das Alter an. 1969 waren Geschlechterrollen enger definiert und von daher vermutlich auch präsenter in der Wahrnehmung.

    Ich kann das schon verstehen, dass er dieses Denken männlich/weiblich nicht so einfach ablegen kann.

    Ich finde unsere Gesellschaft ist auch heute noch stark von diesem Denken geprägt.

    Ich muss das leider im Moment in einem eigenen Umfeld feststellen, dass es für viele immer noch nicht normal ist, wenn ein Junge nen rosa Libelingspulli hat, ne Puppe mit in den Kindergarten schleppt und am liebsten mit Mädchen spielt ...

  • Mir ging es anfangs auch so, dass es mich gestört hat, wie sehr Ai in männlichen Kategorien denkt. Aber letztlich ist er ein Vertreter seiner Art, mit all ihren Urteilen und Vorurteilen.

    Allerdings finde ich auch, er könnte ein wenig differenzierter damit umgehen. Das hat man ihm offenbar nicht beigebracht.


    Die hehren Ziele nehme ich der Ökumene schon ab. Welchen Sinn sollten Eroberungen über Lichtjahres-Entfernungen machen? Auch für diese Zivilisationen dürften Zeit und Raum nur mit großem Aufwand zu überwinden sein. Da machen Eroberungen in jahrzehnte entfernten Gegenden wenig Sinn.

  • Vielleicht denkt Ai in männlichen Kategorien, weil die meisten Gethenianer, die nicht gerade in Kemmer sind, den (fälschlichen) Eindruck vermitteln als wären sie Männer? In Gehabe, Auftreten, und Austrahlung. Anscheinend verstärkt sich meist nur in Kemmer bei einem Partner gethenianischer Paare der weibliche Ausdruck und die weiblichen Eigenschaften. Danach kehren sie wieder zu ihrer vergleichsweise männlichen Ausstrahlung zurück.

    Ich glaube nicht, dass Ursula K. Le Guin diesen Ansatz zufällig oder von unserem Rollenverständnis geprägt gewählt hat. Sie will damit etwas vermitteln uns auf Rollenbilder aufmerksam machen. Dazu kommt, dass sie mit "Winter" eine sehr kalte Welt als Schauplatz gewählt hat, in der nicht mal die Behausungen beheizt werden und in der die Leute meistens ziemlich dick angezogen sind. Unter vielen Schichten von Kleidung kann man ein Geschlecht nicht erraten und man kann es nicht durch figurbetonte Kleidung herausstellen. Ist es nicht so, dass dann Frauen, die sich weniger auf ihre weiblichen Reize verlassen, sondern intelligent, tatkräftig und entschlossen handeln, mit klaren Zielen und Vorstellungen ohne weibliche Accessoires einen eher männlichen, nämlich dominanten Eindruck vermitteln?

    Ich finde es richtig cool, dass die Bevölkerung anscheinend in allen Belangen gleich ist, es keine zwei Geschlechterrollen gibt, mit Ausnahme der zeitlich begrenzten Fortpflanzungszwecke und es die Gethenianer pervers und monströs finden, in diesem zu verharren.

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    "Es hat alles seine Stunde und ein jedes seine Zeit, denn wir gehören dem Jetzt und nicht der Ewigkeit."

  • Ich finde es richtig cool, dass die Bevölkerung anscheinend in allen Belangen gleich ist, es keine zwei Geschlechterrollen gibt, mit Ausnahme der zeitlich begrenzten Fortpflanzungszwecke und es die Gethenianer pervers und monströs finden, in diesem zu verharren.

    Cool finde ich auf diesem Planeten nur das Wetter. Und das im wörtlichen Sinn ;)


    Ich finde überhaupt nicht, dass die Geschlechter gleichgestellt sind. Im Gegenteil. Durch die alleinige Verwendung der männlichen Personalpronomina wird das weibliche Element totgeschwiegen. Jede(r) ist Er, ein Mann. Und Sprache erzeugt Wirklichkeit.


    Für mich ist es so, dass durch das Verleugnen jeglicher Weiblichkeit in der Sprache das Weibliche herabgewürdigt und als etwas Negatives dargestellt wird, als eine abnorme Erscheinungsform.

    Kinder lieben zunächst ihre Eltern blind, später fangen sie an, diese zu beurteilen, manchmal verzeihen sie ihnen sogar. Oscar Wilde

  • Mit dem Unterschied, dass das weibliche Element dort jeden treffen kann und man nicht in diese Rolle hinein geboren wird, ohne Chance auf Entkommen, Alice . Dein Widerwillen entspringt eher aus der Position, die Frauen bei uns einnehmen.

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    "Es hat alles seine Stunde und ein jedes seine Zeit, denn wir gehören dem Jetzt und nicht der Ewigkeit."

  • Mein Widerwillen beruht auf der Heuchelei, mit der die Autorin den Deckmantel der Gleichheit über diese offensichtliche Diskriminierung breitet.

    Kinder lieben zunächst ihre Eltern blind, später fangen sie an, diese zu beurteilen, manchmal verzeihen sie ihnen sogar. Oscar Wilde

  • Ich glaube nicht, dass die Gethenianer sich selbst als „er“ bezeichnen, das ist die Übersetzung des Icherzählers Ai. Das würde sonst überhaupt keinen Sinn machen.

    Die Rollen können dabei von Mal zu Mal variieren, so dass Gethenianer sowohl Kinder zeugen als auch austragen können. Erbberechtigt sind offenbar nur die vom Gethenianer ausgetragenen Kinder, was in meinen Augen dem weiblichen Geschlecht eine wichtigere gesellschaftliche Rolle zuschreibt. Nur dass das im Roman überhaupt keine Rolle spielt, was ich sehr ärgerlich finde. Ebenso wie ich diese permanente sprachliche Beschränkung auf das männliche Geschlecht in dieser Geschichte als ausgesprochen unpassend empfinde.


    Edit: Argh! Suzann, du hast recht, das kam ja noch gar nicht in diesem Abschnitt. Ich habe meinen Text jetzt gespoilert, sorry!!!

  • In diesem Zusammenhang ist Kapitel 7 ab Seite 125 sehr erhellend, bei dem ich gerade angekommen bin, in dem anonyme Investigative der Ökumene ihre Feststelllungen erläutern.

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    Dieser Beitrag wurde bereits 1 Mal editiert, zuletzt von Suzann ()

  • Es ist ein bisschen schade, dass diese Gesellschaft nur von außen dargestellt und beschrieben wird. Ich glaube gar nicht, dass es dort ein Bild von männlich und weiblich gibt. Es gibt ein gebären können und ein nicht gebären können. Es ist Ais Sicht, die das als männlich und weiblich einschätzt.

  • Es ist ein bisschen schade, dass diese Gesellschaft nur von außen dargestellt und beschrieben wird. Ich glaube gar nicht, dass es dort ein Bild von männlich und weiblich gibt. Es gibt ein gebären können und ein nicht gebären können. Es ist Ais Sicht, die das als männlich und weiblich einschätzt.

    Das kann ich so nur unterstreichen! Wir lesen hier (leider) nur Ais Sicht, der aus der Sicht eines typischen Mannes erzählt. Viel mehr aber würde mich die Sicht der Genthianer auf sich selbst interessieren!


    Aber auch Zustimmung zu meinen Vorschreibern, dass sich Ai besser anpassen sollte! Er ist als einziger seiner Rasse auf einen fernen Planeten - zu so einer verantwortungsvollen Aufgaben schickt man doch jemanden, der möglichst frei von Vorurteilen ist und die Menschen, denen er begegnet, ganz genau anschaut.


    Was für mich auch noch unklar ist: wie kleiden sich die Genthianer, wie ist ihre Haarmode ... Auch das trägt ja wesentlich dazu bei, dass wir einen Menschen sofort in Mann/Frau einteilen - auch dazu gibt es für mich leider zu wenig Info. Oder ist das gewollt?

    "Alles vergeht. Wer klug ist, weiß das von Anfang an, und er bereut nichts." Olga Tokarczuk (übersetzt von Doreen Daume), Gesang der Fledermäuse, Kampa 2021

  • Was für mich auch noch unklar ist: wie kleiden sich die Genthianer, wie ist ihre Haarmode ... Auch das trägt ja wesentlich dazu bei, dass wir einen Menschen sofort in Mann/Frau einteilen - auch dazu gibt es für mich leider zu wenig Info. Oder ist das gewollt?

    Ich kann mir vorstellen, dass Le Guin das bewusst ausgelassen hat, es sei denn, dass später noch etwas dazu geschrieben wird. Vielleicht klammert sie eben diese Äußerlichkeiten bewusst aus, um eben nicht durch äußere Attribute das Geschlecht, dass es dort ja nicht gibt, kenntlich zu machen. :gruebel

  • Was für mich auch noch unklar ist: wie kleiden sich die Genthianer, wie ist ihre Haarmode ... Auch das trägt ja wesentlich dazu bei, dass wir einen Menschen sofort in Mann/Frau einteilen - auch dazu gibt es für mich leider zu wenig Info. Oder ist das gewollt?

    Ich denke, dass liegt auch daran, dass es auf dem Planeten so kalt ist, dass Kleidung vor allem einfach warm halten muss, da bleibt nicht viel Raum für modischen Schnickschnack ;)

  • Ich kann mir vorstellen, dass Le Guin das bewusst ausgelassen hat, es sei denn, dass später noch etwas dazu geschrieben wird. Vielleicht klammert sie eben diese Äußerlichkeiten bewusst aus, um eben nicht durch äußere Attribute das Geschlecht, dass es dort ja nicht gibt, kenntlich zu machen. :gruebel

    Das kann natürlich sein. Aber warum schreibt sie dann so "männlich". Oder ist das vielleicht Absicht und will sie uns so draufhinweisen, dass wir alles zunächst mal männlich sehen????


    @ Zwergin: Könnte natürlich auch sein, wobei ja die Kälte viele Völker nicht von "modischen" Schnickschnack abhält. Aber vielleicht ist es ihnen einfach egal. Wobei mich grundsätzlich (nicht nur geschlechtsbezogen) interessieren würde, wie sie sich kleiden und vor allem wie sie die Haare trage - alle gleich oder alle ganz anders oder?

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  • Das kann natürlich sein. Aber warum schreibt sie dann so "männlich". Oder ist das vielleicht Absicht und will sie uns so draufhinweisen, dass wir alles zunächst mal männlich sehen????

    Ich denke eher, dass es, wie weiter vorn schon mal jemand schrieb, daran liegt, dass Ai ein Mann ist und aus seiner männlichen Sicht berichtet. Vielleicht wirken ja, wenn wir von unserer Sicht ausgehen, alle eher für uns männlich, weil das für uns typisch Weibliche fehlt, was die Äußerlichkeiten betrifft. :gruebel

  • Clare Was wäre denn „typisch weiblich“? Das, was Ai als weiblich bezeichnet, ist in der Regel abwertend, da kann ich mich wenig mit identifizieren. Ich finde auch, dass die Figuren selbst wenig Geschlechtsspezifisches zeigen. Wenn Ai nicht als Mann vorgestellt worden wäre, hätte ich ihn nicht unbedingt als solchen erkannt. Ebenso sind Estraven und die anderen in erster Linie durch Ais Verwendung des männlichen Pronomens für mich als Leser zu Männern gemacht worden.

  • Clare Was wäre denn „typisch weiblich“? Das, was Ai als weiblich bezeichnet, ist in der Regel abwertend, da kann ich mich wenig mit identifizieren. Ich finde auch, dass die Figuren selbst wenig Geschlechtsspezifisches zeigen.


    Wie im Beitrag schon gesagt, ich bezog mich auf Äußerlichkeiten, sekundäre Geschlechtsmerkmale, die uns Mann oder Frau erkennen lassen, Brüste, schmalere oder breitere Hüften etc., dazu vielleicht noch sichtbare Unterschiede in Kleidung und äußerer Erscheinung.




  • Wie im Beitrag schon gesagt, ich bezog mich auf Äußerlichkeiten, sekundäre Geschlechtsmerkmale, die uns Mann oder Frau erkennen lassen, Brüste, schmalere oder breitere Hüften etc., dazu vielleicht noch sichtbare Unterschiede in Kleidung und äußerer Erscheinung.

    Ah, okay. Dazu kommt ja noch im späteren Abschnitt eine Erklärung.

  • Clare Das, was Ai als weiblich bezeichnet, ist in der Regel abwertend, da kann ich mich wenig mit identifizieren. Ich finde auch, dass die Figuren selbst wenig Geschlechtsspezifisches zeigen. Wenn Ai nicht als Mann vorgestellt worden wäre, hätte ich ihn nicht unbedingt als solchen erkannt. Ebenso sind Estraven und die anderen in erster Linie durch Ais Verwendung des männlichen Pronomens für mich als Leser zu Männern gemacht worden.

    Stimmt, Ai hat kein besonders positives Frauenbild. Was vermutlich auch an der Zeit liegt, in der das Buch geschrieben wurde. Da war das Ansehen der Frau noch viel schlechter als jetzt. Das hat die Autorin in diesem Roman ausgedrückt. Die Figurenentwicklung von Ai ist somit sehr konsequent. Ich bin auch überzeugt davon, dass die Autorin nicht ihre Ansichten in der Figur verwirklicht, sondern ein gesellschaftliches Abbild zeigt, das sie in ihrer Gegenwart erlebt hat. Gerade durch diese negativ aufstoßende Eigenschaft von Ai, sensibilisiert die Autorin für das Problem dieser Einteilung in weiblich-männlich. Das ist zu unserer Zeit noch sehr stark verbreitet und vor 50 Jahren war es noch viel schlimmer.

  • Stimmt, Ai hat kein besonders positives Frauenbild. Was vermutlich auch an der Zeit liegt, in der das Buch geschrieben wurde. Da war das Ansehen der Frau noch viel schlechter als jetzt. Das hat die Autorin in diesem Roman ausgedrückt. Die Figurenentwicklung von Ai ist somit sehr konsequent. Ich bin auch überzeugt davon, dass die Autorin nicht ihre Ansichten in der Figur verwirklicht, sondern ein gesellschaftliches Abbild zeigt, das sie in ihrer Gegenwart erlebt hat. Gerade durch diese negativ aufstoßende Eigenschaft von Ai, sensibilisiert die Autorin für das Problem dieser Einteilung in weiblich-männlich. Das ist zu unserer Zeit noch sehr stark verbreitet und vor 50 Jahren war es noch viel schlimmer.

    Ich dachte beim Lesen ständig, was hat DIE denn für ein Frauenbild. Auf die Idee, dass es ja gar nicht ihre eigene Ansicht sein muss, sondern es Sinn macht die damalige Gesellschaft so abzubilden, und auch zu kritisieren bin ich in dem Moment alleine nicht gekommen.

  • Dass Le Guin Genly Ai die Worte so zurechtlegt, um auf die Genderprobleme der realen Gesellschaft aufmerksam zu machen, finde ich nachvollziehbar und mit dieser Erklärung komme ich gut zurecht. Das würde sein mangelndes Abstraktionsvermögen erklären.


    1969 ist für mich auch viel zu weit weg, um nachvollziehen zu können, wie damals das Frauenbild wirklich war. Klar, man kennt sowohl die "Hausfrauen"-Werbung wie auch die Mädels der 68er - doch das ist eine extrem weite Spanne.

    "Alles vergeht. Wer klug ist, weiß das von Anfang an, und er bereut nichts." Olga Tokarczuk (übersetzt von Doreen Daume), Gesang der Fledermäuse, Kampa 2021