'Mittagsstunde' - Seiten 076 - 155

  • In dem Abschnitt hat sich für mich das Buch ganz deutlich gedreht - viel mehr als um die Landschaft geht es jetzt um die Menschen (auch wenn ich alle Dorfbewohner außer dem Lehrer und dem Pastor nicht auseinanderhalten kann). Ich bin dem Buch jetzt deutlich nähergekommen, besonders den Vergangenheitskapiteln.

    Das habe ich auch so empfunden. Seitdem die Menschen weniger als Dorfbewohner, sondern mehr als Individuen auftreten bewegt mich dieses Buch manchmal mehr als mir lieb ist.


    Am interessantesten finde ich eigentlich Ingwer, seine Persönlichkeit, seine Entwicklung, das Umfeld, in dem er in Kiel lebt, seine eigenwillige WG. Ich bin wirklich sehr gespannt, wohin sein Weg in führen wird am Ende der Geschichte. Seine aktuelle Zeit in Brinkebüll scheint mir wie eine Art Schwebezustand, in das alte WG-Leben will er nicht mehr recht zurück, das ihm seinerzeit als am weitesten entfernt von der Brinkebüller Lebensweise erschienen ist.


    Die Szenen, in denen beschrieben wird wie er sich um Ella und insbesondere Sönke kümmert, bei Ella übernimmt der Pflegedienst die intimeren Hilfeleistungen, haben mich zuberührt. Als er erzählt, was er von "Katheter-Peter" gelernt hat, konnte ich die Intensität kaum aushalten.

    Dörte Hansen hat eine Art diese Dinge beim Namen, ohne großes Pathos und relativ emotionslos, die mich gerade deshalb so sehr berührt.

    Aber Ingwer und die Gegenwart beschäftigen mich. Auch das, was ein Leben lang zwischen Ella und Sönke steht ...unausgesprochen und unbewältigt die Tatsache, dass auch Marret ein "Kuckuckskind" ist, das Ella ihm viel zu früh nach dem Krieg geboren hat. Habt ihr auch den Eindruck, dass der Lehrer der Vater von Marret sein könnte :/? Vielleicht hat es auch schon jemand geschrieben und ich hab`s überlesen, Rumpelstilzchen , glaub ich.

  • Am interessantesten finde ich eigentlich Ingwer, seine Persönlichkeit, seine Entwicklung, das Umfeld, in dem er in Kiel lebt, seine eigenwillige WG. Ich bin wirklich sehr gespannt, wohin sein Weg in führen wird am Ende der Geschichte. Seine aktuelle Zeit in Brinkebüll scheint mir wie eine Art Schwebezustand, in das alte WG-Leben will er nicht mehr recht zurück, das ihm seinerzeit als am weitesten entfernt von der Brinkebüller Lebensweise erschienen ist.

    Ingwer ist auch für mich die Figur, die und dessen Geschichte/Entwicklung/Stillstand mich am meisten angreifen. Und Sönke.

    Ingwer hat so sehr versucht, ein Anderer zu werden, dazu zu gehören, das Dorf und seine eigene Dörflichkeit abzuschütteln, nur um mit 48 Jahren festzustellen, dass das nicht gelungen ist.


    Die Szenen, in denen beschrieben wird wie er sich um Ella und insbesondere Sönke kümmert, bei Ella übernimmt der Pflegedienst die intimeren Hilfeleistungen, haben mich zuberührt. Als er erzählt, was er von "Katheter-Peter" gelernt hat, konnte ich die Intensität kaum aushalten.

    Ging mir genau so. Bei den Erzählungen von Ingwers Zivildienst musst ich sehr an meine ersten Monate im Krankenhaus in der Ausbildung denken...

  • Ja, du hast recht - gefördert im heutigen Sinn wird sie nicht. Wobei das Einbeziehen in die Tätigkeiten, die sie kann, ja auch eine Art der Förderung sind (auch wenn es sicher mehr dem Zweck geschuldet war als Marrets Förderung) bzw. sie kann ja auch ihre Stärken (Singen) ausleben und hat zumindest in diesem Teilbereich Erfolg und Anerkennung.

    Soweit richtig, aber sie hat sich auch der Förderung entzogen, auch als sie in die Schule kam (ups, kommt im dritten Abschnitt). Versucht es Ella schon, vielleicht zu halbherzig? Da wäre, und da gebe ich dir vollkommen Recht, Fachlichkeit angesagt gewesen.

  • Die Szenen, in denen beschrieben wird wie er sich um Ella und insbesondere Sönke kümmert, bei Ella übernimmt der Pflegedienst die intimeren Hilfeleistungen, haben mich zuberührt. Als er erzählt, was er von "Katheter-Peter" gelernt hat, konnte ich die Intensität kaum aushalten.

    Dörte Hansen hat eine Art diese Dinge beim Namen, ohne großes Pathos und relativ emotionslos, die mich gerade deshalb so sehr berührt.

    Aber Ingwer und die Gegenwart beschäftigen mich. Auch das, was ein Leben lang zwischen Ella und Sönke steht ...unausgesprochen und unbewältigt die Tatsache, dass auch Marret ein "Kuckuckskind" ist, das Ella ihm viel zu früh nach dem Krieg geboren hat. Habt ihr auch den Eindruck, dass der Lehrer der Vater von Marret sein könnte :/? Vielleicht hat es auch schon jemand geschrieben und ich hab`s überlesen, Rumpelstilzchen , glaub ich.

    Habe jetzt den zweiten Abschnitt zu Ende gehört und mir geht es wie Dir Lumos. Gerade die Szenen mit Ingwer, seine Erinnerungen an die zeit im Pflegeheim, haben mich sehr berührt. Vielleicht zusätzlich noch, weil es gerade bei mir so ähnlich ist und ich mich ganz genau so verhalten habe. Zum Glück muss ich nicht ständig dabei sein. Aber die Schilderungen sind so real, so authentisch, da muss man der Autorin ein großes Lob aussprechen.

    Was Maret anbelangt, könnte schon sein, dass der Lehrer der Vater ist. Die Beziehung der Eltern ist schon schwierig, aber ich finde Beziehungen generell kompliziert.

    Kurz dachte ich ja, da Ella alles sammelt, sie weiß wer der Vater Ingwers ist. Es wird ja impliziert, dass sie alles hört und sieht und verlorene Dinge sammelt aber nichts darüber sagt. Außer jemand kommt und fragt nach einem Gegenstand.

  • Ingwer mag ich total gerne und seine Einsamkeit ist greifbar. Man möchte hingehen und ihn in den Arm nehmen. Ich glaube, das ist in der Familie sehr selten. Das spürt man, deshalb deprimiert mich die Geschichte um die Familie auch sehr. Alle sind sehr einsam, jeder für sich trotz des Zusammenhalts.


    Was die gewalttätigen Väter angeht, das war in den meisten Familien so. Und man leidet sein Leben lang darunter. Aber es wurde geduldet, die Männer waren ja angesehene Bürger der Dorfgemeinschaft, die Familie ihnen ausgeliefert.

  • Ja, ich finde auch, dass das Buch von Kapitel zu Kapitel intensiver wird. Ich bewundere Ingwer dafür, dass er es schafft, seine Groß- und Pflegeeltern zu pflegen. Das schafft nicht jeder.


    Ja, gewalttätige Familienväter habe ich auch genug im Umfeld erlebt - und deren Duldung durch die Nachbarn. Geredet wurde schon darüber, aber es gab nie Konsequenzen, niemand hat den Kindern oder der Frau geholfen.


    Fast genau so schlimm finde ich auch die Bedeutung, die man dem Reden der Leute zumisst, die Tatsache, dass es wichtiger ist, was die Leute über einen sagen, als wie einem Familienmitglied in einer Notsituation geht.

  • Gerade die Szenen mit Ingwer, seine Erinnerungen an die zeit im Pflegeheim, haben mich sehr berührt. Vielleicht zusätzlich noch, weil es gerade bei mir so ähnlich ist und ich mich ganz genau so verhalten habe. Zum Glück muss ich nicht ständig dabei sein. Aber die Schilderungen sind so real, so authentisch, da muss man der Autorin ein großes Lob aussprechen.

    Noch stecke ich nicht in dieser Situation drin, meine Eltern sind noch absolut fit, aber es rückt näher und natürlich beschäftige ich mich manchmal damit, was auf mich zukommen könnte.

    Ganz besonders nah gegangen ist mir, wie die Autorin über das Berühren, bzw. das Nicht berührt werden schreibt.

    Einmal die Woche trainiere ich mit einem Schlaganfallpatienten an Kraftgeräten (im Rahmen seiner Möglichkeiten). Dabei muss ich ihn natürlich sowieso anfassen mit meinen Hilfestellungen, und obwohl er nicht immer appetitlich aussieht und/oder riecht, berühre ich ihn inzwischen immer wieder ein bisschen öfter als nur das unbedingt Nötigste. Sehr vorsichtig und zurückhaltend, und es hat auch eine ganze Weile gedauert bis ich mich das getraut habe, denn wie auch Dörte Hansen schreibt, er hat seinen Stolz, der unbedingt zu respektieren ist. Inzwischen ist unser Verhältnis einigermaßen vertraut und ich wundere mich manchmal über mich selbst, wie wenig Berührungsängste (im wahrsten Sinn des Wortes) ich inzwischen habe.

  • Diese Parallele habe ich nicht gesehen, aber es kann schon sein. Hängt davon ab, was das eigentlich ist zwischen Claudius, Ragnhild und ihm. Eine Art Nähe schon, aber wirklich Beziehung? Ich sehe es eher als Zweckgemeinschaft von drei Leuten, die sich verstehen und miteinander arrangiert haben. Wirkliche Freundschaft und Nähe sehe ich nicht, eher eine Art Abhängigkeit, um nicht allein sein zu müssen..

    Vielleicht bestand mal eine engere Beziehung zu Ranghild, was sich im Lauf der Jahre zur Gewohnheit entwickelt hat und bedeutungslos für beide wurde. Sehr viel Gefühl und Zusammengehörigkeit scheint nicht vorhanden zu sein.

  • Noch stecke ich nicht in dieser Situation drin, meine Eltern sind noch absolut fit, aber es rückt näher und natürlich beschäftige ich mich manchmal damit, was auf mich zukommen könnte.

    Ganz besonders nah gegangen ist mir, wie die Autorin über das Berühren, bzw. das Nicht berührt werden schreibt.

    Einmal die Woche trainiere ich mit einem Schlaganfallpatienten an Kraftgeräten (im Rahmen seiner Möglichkeiten). Dabei muss ich ihn natürlich sowieso anfassen mit meinen Hilfestellungen, und obwohl er nicht immer appetitlich aussieht und/oder riecht, berühre ich ihn inzwischen immer wieder ein bisschen öfter als nur das unbedingt Nötigste. Sehr vorsichtig und zurückhaltend, und es hat auch eine ganze Weile gedauert bis ich mich das getraut habe, denn wie auch Dörte Hansen schreibt, er hat seinen Stolz, der unbedingt zu respektieren ist. Inzwischen ist unser Verhältnis einigermaßen vertraut und ich wundere mich manchmal über mich selbst, wie wenig Berührungsängste (im wahrsten Sinn des Wortes) ich inzwischen habe.

    Das Schlimmste ist eigentlich nicht, dass man, um zu helfen und weil man helfen muss, in den Distanzbereich, die Intimsphäre der Eltern einzudringen, sondern dass man irgendwann über alles, wirklich alles Bescheid weiß, auch Sachen, die man von seinen eigenen Eltern nicht wissen will. Ich stecke schon in dieser Situation.

    Schön finde ich, dass Ingwer trotzdem versucht, die Beiden auch ihre Geheimnisse haben zu lassen, Abstand hält, wo es möglich ist oder wenigstens so tut, als würde er nichts mitbekommen.

  • Schön finde ich, dass Ingwer trotzdem versucht, die Beiden auch ihre Geheimnisse haben zu lassen, Abstand hält, wo es möglich ist oder wenigstens so tut, als würde er nichts mitbekommen.

    Sie lassen es ihn aber auch machen. Da Du auch drin steckst, manchmal lassen Eltern einem keine Chance Abstand zu halten. Das macht es für mich so schwierig. Man wird aufgesaugt in ein fremdes Leben, das man so nicht will.

  • Sie lassen es ihn aber auch machen. Da Du auch drin steckst, manchmal lassen Eltern einem keine Chance Abstand zu halten. Das macht es für mich so schwierig. Man wird aufgesaugt in ein fremdes Leben, das man so nicht will.

    Wollen wir eine Selbsthilfegruppe gründen, Findus?:knuddel1

    Aufgesaugt ist das richtige Wort. Du hast Recht, Abstand halten ist manchmal unmöglich, besonders wenn man eingreifen muss. Ich kriege das auch sehr schlecht hin, weil ich nicht die Augen und Ohren zumachen kann und sie machen oder nicht machen lassen kann, auch wenn ich mir sage, dass es ihr Leben ist. Alles sehr schwierig...

  • Wollen wir eine Selbsthilfegruppe gründen, Findus?:knuddel1

    Aufgesaugt ist das richtige Wort. Du hast Recht, Abstand halten ist manchmal unmöglich, besonders wenn man eingreifen muss. Ich kriege das auch sehr schlecht hin, weil ich nicht die Augen und Ohren zumachen kann und sie machen oder nicht machen lassen kann, auch wenn ich mir sage, dass es ihr Leben ist. Alles sehr schwierig...

    Machen wir. Ich glaube so ein Austausch hilft ungemein. Wenn man schon merkt, man ich nicht alleine und bei anderen ist es ähnlich. :knuddel

    Irgendwie habe ich aber das Gefühl, das Buch hilft mir, die Belastung aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten.


    Unbedingt erwähnen möchte einen der raren für mich wirklich heiteren Momente. Nämlich die Winterfreuden genießenden Männer von Brinkebüll (S. 114), die vor lauter Begeisterung über den Schnee alle Last des Alltags abschütteln und sich unbeschwert balgen wie die Kinder :grin.

    Solche Szenen sind viel zu rar. Aber schön, dass es auch solche gibt. Bei uns schneit es hier nur sehr selten ;)


  • Ingwer hat so sehr versucht, ein Anderer zu werden, dazu zu gehören, das Dorf und seine eigene Dörflichkeit abzuschütteln, nur um mit 48 Jahren festzustellen, dass das nicht gelungen ist.

    Ja. Wobei dieses Abschütteln nie funktionieren wird, schließlich ist es ein Teil seiner Persönlichkeit. Ich hoffe sehr, dass ihm dieses Jahr "back to the roots" hilft, sich diesem Teil von ihm selbst zu öffnen und es als positive Erfahrung anzunehmen. Schließlich wäre er ein (ganz) anderer, wenn er diese Wurzeln nicht hätte.


    Aber die Schilderungen sind so real, so authentisch, da muss man der Autorin ein großes Lob aussprechen.

    Auch hier: ja! Dieses ganz genaue Hinsehen im kleinsten Detail finde ich soooo klasse! Und dann ganz knapp das Wichtigste auf einen Punkt bringen. Punktlandungen! Das tröstet mich auch immer wieder über die oft sehr melancholische Stimmung hinweg.

    "Alles vergeht. Wer klug ist, weiß das von Anfang an, und er bereut nichts." Olga Tokarczuk (übersetzt von Doreen Daume), Gesang der Fledermäuse, Kampa 2021

  • Machen wir. Ich glaube so ein Austausch hilft ungemein. Wenn man schon merkt, man ich nicht alleine und bei anderen ist es ähnlich. :knuddel

    Irgendwie habe ich aber das Gefühl, das Buch hilft mir, die Belastung aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten.

    Ich stell dann auch mal einen Aufnahmeantrag! ;) Was du in deinem zweiten Satz feststellst, Findus, empfinde ich auch so. Ich habe kurz vorher ein weiteres Buch gelesen, das von der Thematik ähnlich war (Mädelsabend) und es tut gut, wenn man liest, dass manche Probleme und Verhaltensweisen von Älteren und älteren Ehepaaren "ganz normal" sind. Und hilft, sich in seiner Situation zu überleben, wie und wo man sich abgrenzen kann. Das hilft nicht in Stresssituationen, aber vielleicht in "ruhigen" Zeiten.

    "Alles vergeht. Wer klug ist, weiß das von Anfang an, und er bereut nichts." Olga Tokarczuk (übersetzt von Doreen Daume), Gesang der Fledermäuse, Kampa 2021

  • Irgendwie habe ich aber das Gefühl, das Buch hilft mir, die Belastung aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten.

    Erst hat mich das Buch, gerade auch was das Thema betrifft, stark getroffen oder angegriffen, aber inzwischen bin ich versöhnt. Du hast Recht, eine andere oder auch ähnliche Denkweise aus eine Richtung, wo man sie nicht erwartet hätte, hier in einem Roman, erdet manchmal die eigenen Blicke auf so eine Situation.

  • Erst hat mich das Buch, gerade auch was das Thema betrifft, stark getroffen oder angegriffen, aber inzwischen bin ich versöhnt. Du hast Recht, eine andere oder auch ähnliche Denkweise aus eine Richtung, wo man sie nicht erwartet hätte, hier in einem Roman, erdet manchmal die eigenen Blicke auf so eine Situation.

    Ich weiß glaube ich, was Du meinst. Ingwer hat so eine Geduld und ja, auch Liebe zu den Beiden, nimmt Rücksicht auf ihre Gefühle, hat eine Selbstverständlichkeit mit ihren Gebrechen und Schnurren umzugehen,dass ich mich am Anfang richtig schlecht gefühlt habe, weil mir das sehr selten gelingt.

  • Ich weiß glaube ich, was Du meinst. Ingwer hat so eine Geduld und ja, auch Liebe zu den Beiden, nimmt Rücksicht auf ihre Gefühle, hat eine Selbstverständlichkeit mit ihren Gebrechen und Schnurren umzugehen,dass ich mich am Anfang richtig schlecht gefühlt habe, weil mir das sehr selten gelingt.

    :knuddel1Ingwer ist halt doch eine Romanfigur und tut sich da leichter als wir Menschen. ;)Was trotzdem sicher eine Rolle spielt: er hat durch sein Sabbatjahr viel Zeit und keine weiteren Verpflichtungen. Keine eigene Familie, die Aufmerksamkeit fordert; kein eigener Haushalt, der auch irgendwann getan werden will; kein Job, kein Ehrenamt, kein gar nichts. Das macht es sicher einfacher, da er sich auf seine Großeltern fokussieren kann. Abgesehen davon steht trotzdem in vielen Nebensätzen, dass er sich eine Zigarette Auszeit gönnt oder seinen Kaffee draußen trinkt, weil er schon so genervt ist. Nur steht das nicht so im Mittelpunkt.

    "Alles vergeht. Wer klug ist, weiß das von Anfang an, und er bereut nichts." Olga Tokarczuk (übersetzt von Doreen Daume), Gesang der Fledermäuse, Kampa 2021

  • Der graue, schwere Himmel über dem Dorf erdrückt mich, genauso wie alles Erzählte, was halt so ist und wozu man im Dorf besser nichts sagt (Eheleute schlagen nicht nur einander, sondern auch Väter ihre Kinder, auffällig, für alle sichtbar etc.).

    Mir geht es ganz anders mit dem Buch. Ich genieße es sehr, endlich mal wieder ein richtig gutes Buch zu lesen. Ich finde es ist auch viel Wärme in diesem Dorf spürbar.

    Ella beeindruckt mich zum Beispiel sehr. Wie schwer es ihr gefallen sein muss, mit Marret über die bevorstehende Geburt zu sprechen. Sie sieht sich in der Verantwortung und findet einen super Weg.

    Zu dieser Zeit wurde einfach über nichts gesprochen, was sich unterhalb des Bauchnabels abspielt.


    Auch der Lehrer ist für mich eine sehr gelungene Figur. Mit all seinen Schrullen hat er doch auch ein gutes Herz. Und ein Auto und ist fahrtüchtig. Er kümmert sich auch nach Feierabend noch um die Leute im Dorf.

    Die eigentliche Geschichte aber bleibt unerzählt, denn ihre wahre Sprache könnte nur die Sprachlosigkeit sein. Natascha Wodin

  • Ingwer in seinem verstaubten Tanzsaal habe ich gar nicht als übrig geblieben empfunden. Er hat eine ungewöhnliche Entscheidung getroffen. Sich ein freies Jahr gegönnt und "zahlt" seine Schulden. Für mich ein bisschen eine Wiedergutmachtung, dass er so etwas nutzloses wie ein Studium und eine Unikarriere angefangen hat.

    :write

    Mir scheint auch, als müsse er sich klar werden, wie er eigentlich sein Lebe gestalten will, z.B. diese Dreiecksbeziehung weiterführen oder einen ganz anderen Weg einschlagen.

    Was ich kaum ertragen kann ist die Duldsamkeit gegen den gewalttätigen Vater. Das Schweigen, wenn ein Junge blau geschlagen in die Schule kommt. Weil der Vater einer aus dem Dorf ist.

    Da möchte ich dreinschlagen. Und weiß, genau so ist es gewesen.

    Gewalt in den Familien war völlig normal und die Stellung vieler Väter und Ehemänner eher die von Sklavenhaltern.

    Das Schweigen beginnt nicht erst in der Schule, sondern im eigenen Zuhause. Das Schlagen wird ja zunächst von der Familie geduldet.

    Es gibt immer noch genug Gewalt in Familien und der Kampf mit dem Jugendamt ist manchmal ermüdend, weil manchmal hoffnungslos. Auf die Ansicht, dass Schläge nicht schaden, treffe ich täglich.

    Die eigentliche Geschichte aber bleibt unerzählt, denn ihre wahre Sprache könnte nur die Sprachlosigkeit sein. Natascha Wodin