Die ersten drei Sätze eures aktuellen Buches (ab 23.08.2020)

  • Baumgartner sitzt an seinem Schreibtisch im ersten Stock, in einem Zimmer, das er je nach Laune als Arbeitszimmer, Cogitorium oder seinen Bau bezeichnet. Stift in der Hand, befindet er sich mitten in einem Satz im dritten Kapitel seiner Monografie über Kierkegaards Pseudonyme, als ihm einfällt, dass das Buch, aus dem er zitieren muss, um den Satz zu beenden, noch unten im Wohnzimmer ist, wo er es gestern vor dem Zubettgehen hat liegen lassen. Auf dem Weg nach unten, um das Buch zu holen, entsinnt er sich, dass er seiner Schwester versprochen hat, sie heute früh um zehn anzurufen, und da es gerade kurz vor zehn ist, will er gleich in die Küche gehen und den Anruf erledigen, bevor er das Buch aus dem Wohnzimmer holt.

  • Sie waren wie Schmuck, wie ein lebendiger Schmuck, und sie stellte sich vor, wie sie sich eine um die Schulter legen und vor Bobo oder dem Cornerstone an einem Tisch auf dem Bürgersteig sitzen würde, und Leute würden vorbeigehen und so tun, als würden sie sie nicht bemerken. Es wäre ein Statement, so viel war sicher. Sie würde ein Tube-Top tragen, das einen schönen Kontrast zu ihrer nackten Haut bildete - in Schwarz, auf jeden Fall in Schwarz, und dazu eine schwarze Jeans und vielleicht ihren Fedora-, und sie würde einfach ihr Glas oder Todd ansehen, als wäre alles ganz normal.

    Die eigentliche Geschichte aber bleibt unerzählt, denn ihre wahre Sprache könnte nur die Sprachlosigkeit sein. Natascha Wodin

  • Berechtigte Frage! :lache Aber ich kann dich beruhigen: diese Protagonistin, die ich meine, ist nicht die Mörderin. Also glaube ich zumindest... :zwinker

    Sowas denke ich mir bei unseren Agatha Christie-Leserunden auch immer. Und behalte nicht immer Recht. :lache

  • >>Danke<<, sage ich zum gefühlt tausendsten Mal, schüttle eine Hand, lasse mir einen Kuss auf die Wange hauchen, mich drücken. Ich atme die Gerüche der verschiedenen Menschen ein, fühle die unterschiedlichen Temperaturen ihrer Hände, zwinge mich dazu, die Beileidsbekundungen entgegenzunehmen, wie es von mir erwartet wird. Aber ich fühle nichts.


  • Eines vor allem hat mich bis jetzt treu durch mein Leben begleitet: Eine immer wache, nie versiegende Neugierde, die mir zwar manchmal Schwierigkeiten bereitete, aber auch mein Leben abenteuerlich und kurzweilig gestaltet hat. Ich muss allerdings auch zugeben, daß meine Neugier jetzt im Alter näherliegende, überschaubare Ziele hat.

    Wird der Roggen gedeihen, der Wein wieder so sauer, die Kälber überleben und wird es ein gutes Bienenjahr?


  • Die beiden Barfüßermönche, welche sich dem Schrotendorfer Tor der Oldenstadt Magdeborch näherten, wechselten nicht ein Wort. Das rührte nicht daher, daß sie sich nichts zu sagen hatten, oder müssiges Geschwätz verabscheuten. Der Grund war einfacher: Der Ältere von beiden war stumm und taub.


  • Benjamin Honey—American, Bantu, Igbo—born enslaved—freed or fled at fifteen, only he ever knew—ship’s carpenter, aspiring orchardist, arrived on the island with his wife, Patience, née Raferty, Galway girl, in 1793. He brought his bag of tools—gifts from a grateful captain he had saved from drowning or plunder from a ship on which he had mutinied and murdered the captain, depending on who said—and a watertight wooden box containing twelve jute pouches.

    Each pouch held seeds for a different variety of apple.


    Benjamin Honey – Amerikaner, Bantu, Igbo – als Sklave geboren – mit fünfzehn befreit oder geflohen, nur er wusste es – Schiffszimmermann, angehender Obstgärtner, kam 1793 mit seiner Frau Patience, geborene Raferty, einem Mädchen aus Galway, auf der Insel an. Er brachte seine Tasche mit Werkzeugen – Geschenke eines dankbaren Kapitäns, den er vor dem Ertrinken oder vor der Plünderung von einem Schiff gerettet hatte, auf dem er meutert und den Kapitän ermordet hatte, je nachdem, wer das sagte – und eine wasserdichte Holzkiste mit zwölf Jutebeuteln. Jeder Beutel enthielt Samen für eine andere Apfelsorte.


  • Sie ist dir gleich aufgefallen, als du in die Straßenbahn eingestiegen bist. Die meisten starren auf ihre Handys, manche lesen in einem Buch oder unterhalten sich, ein paar schauen aus dem Fenster und blinzeln in die Herbstsonne. Aber dieses Mädchen tut nichts davon.


  • Die Bäume waren voll Krähen und die Wälder voller Verrückten, die Grube war voll Knochen, und in den Händen hielt sie Draht.

    Dort, wo die Drahtenden sie geschnitten hatten, bluteten ihre Finger.

    Der Blutstrom der ersten Wunden war versiegt.

    Irrlicht und Hexe (7. Hexenregel: Unterschätze nie die Kraft des Wortes - es hat eine besondere Kraft, es kann befreien, anstoßen und verändern, aber auch verletzen und zerstören)

  • Es war ein Kampf auf Leben und Tod. Noch schaffte sie es, sich an der Oberfläche zu halten, doch sie wurde schwächer. Das Ufer des Sees konnte nicht weit sein, aber sie hatte die Orientierung verloren, wusste nicht, in welche Richtung sie schwimmen sollte.


  • Blank lag das Schwert zwischen uns.

    Diese Worte bat er auf seinen Grabstein zu schreiben. Er richtete die Bitte an die schöne Maria Kodama, eine Halbjapanerin, die seine Sekretärin war, bevor der Schriftsteller sie im hohen Alter von 87 Jahren heiratete.

  • Ich arbeitete nie gern in einer neuen Umgebung. Da weiß man nicht, wie man ungesehen rein- und wieder rauskommt, man weiß nicht, mit welchen Mitteln man an eine Zielperson rankommt, man weiß nicht, wo man auffällt, wo man mit dem Hintergrund verschmelzen oder in der Menge untertauchen kann. Zum Ausgleich studiere ich das Einsatzgebiet stets zunächst aus der Ferne, begebe mich erst dorthin, wenn ich mir möglichst gründliche Kenntnisse dazu angeeignet habe, und reise immer früh genug an, um mich mit den Örtlichkeiten vertraut zu machen, ehe ich aktiv werde.


  • Als in der Nacht vom 3. Auf den 4. März 1995 plötzlich Sturm aufkam, Böen von fast hundert Stundenkilometern durch die Strassen Norderneys fegten, auf dem Hafengelände Türen schlugen und die Stage und Wanten der Boote sangen, wanderten Michael Waagmanns Gedanken, wie immer, wenn er bei Sturm in seiner Koje Notrufe wartete, zu jener windstillen Nacht des Jahres 1974, als er Technischer Wachoffizier auf der MS Antwerpen war. Sie waren mit einer Ladung Holz aus Rumänien im Marmarameer unterwegs, um durch die Dardanellen ins Mittelmeer und dann nach Hamburg zu fahren, und er und der dritte Offizier Jannes Boll hielten auf der Brücke nach den Leuchtfeuern Ausschau, und es war so merkwürdig still unter den Sternen. Kurz vor Mitternacht kam der Kapitän auf die Brücke und sagte, dass man den Zweiten Offizier nicht für die Hundewache wecken sollte, weil er ihm die heikle Einfahrt in die Dardanellen nicht zutraute und er das Steuern lieber selbst übernahm.