'Der Gang vor die Hunde' - Seiten 080 - 154

  • Ich mache hier nur ungern den Anfang, aber nun habe ich das Buch fertig und will meinen Senf auch loswerden ;)


    Ich habe den Romantext gestern noch fertig gelesen und heute morgen noch den Anhang. Zu den einzelnen Abschnitten habe ich mir beim Lesen haufenweise Notizen gemacht und eine Grobfassung mitgeschrieben, so dass auch die Kommentare nur den jeweiligen Abschnitt betreffen. Die werde ich jetzt aber gleich alle auf einmal in die entsprechenden Threads posten.


    Mit dem ersten Abschnitt hatte ich mich noch ziemlich schwer getan und ich hatte darin auch Dinge gesucht, die ich von anderen, "üblichen" Büchern her kenne, die es hier aber gar nicht gibt. Erst mit der Zeit und mit dem Weiterlesen hat sich jetzt für mich herauskristallisiert, dass der Roman gar keine stringente Handlung hat, wie ich sie erwartet hätte, und auch nicht die geläufigen Merkmale wie Anfang-Mittelteil-Schluss, Spannunsgbogen und solche Dinge, sondern dass er eher in Episoden aufgebaut ist, die zwar alle zusammenhängen, aber eher wie zufällige Schnappschüsse sind, die der Autor vom Zeitgeschehen gemacht und mit seinen Figuren angereichert hat.


    Er richtet seinen Scheinwerferstrahl auf einzelne Begebenheiten, auf die Zustände der Zeit damals, auf die Probleme, auf die Einstellung der Menschen, die Moral, die politischen Anschauungen, das Elend. Und die Figuren fungieren dabei als eine eine Art Filter oder Katalysator, durch die er das alles dem Leser sichtbar macht und seine Botschaft vermittelt. Die Figuren verstehe ich inzwischen auch als Metaphern oder Sinnbilder, eine Art Personifizierung der genannten Zustände.


    Der zweite Abschnitt ist vom Grundton her positiver und hoffnunsgvoller als der erste, finde ich, aber ich fürchte, dass es sich nur um ein Zwischenhoch handelt. Fabian lernt in diesem wilden Bildhaueratelier der "Baronin" die junge Cornelia Battenberg kennen, in die er sich wohl ernsthaft verliebt, und auf einmal wird aus dem haltlosen Trudeln, das im ersten Abschnitt noch seine übliche Gangart war, ein vorübergehendes energisches Ausschreiten. Jetzt ist er nicht mehr nur Beobachter, sondern aktiver Teilnehmer, und er scheint die Welt um sich herum auch plötzlich mit ganz anderen Augen wahrzunehmen.


    Mit Cornelia hat er Halt und Sinn gefunden, und vielleicht die Hoffnung, aus seinem bis dahin recht inhaltslosen Leben durch sie mehr zu machen. Ich fand es fast rührend, wie er da an einer Stelle sinniert, er könnte ja vielleicht "ein klein wenig Ehrgeiz in dieser Stadt aussäen". Auf einmal hat er doch welchen - vielleicht hat der nur den richtigen Auslöser gebraucht, etwas, wofür sich er Einsatz und das Kämpfen lohnen.


    Aber kaum geht es ihm hier mal besser, bekommt er mit seiner Kündigung schon den nächsten Dämpfer. Trotzdem gibt er da noch nicht auf, sondern glaubt irrigerweise, irgendwo wieder Arbeit zu finden. Aber der Tag, den er bei den verschiedenen Ämtern vertrödelt und hin und her geschickt wird, zeigt schon, wie die Arbeitsmarktlage wirklich ist, und dass es nicht so leicht wird.


    In diesem Abschnitt nimmt er viel mehr am Leben teil, hat viel engeren Kontakt zu seinen Mitmenschen, und tut von sich aus Anderen Gutes, was er vorher eigentlich nicht getan hat. Er bezieht Position. Er mischt sich ein. Den flüchtigen Professor nimmt er bei sich auf, er rettet eine kleine Kaufhausdiebin, und widersteht Irene Molls schlüpfrigen Jobangeboten.


    Für mich stach in diesen Szenen vor allem deutlich hervor, wie der Kontrast zwischen ihm als moralischen, höchst anständigen Menschen und seiner komplett irre gewordenen Umgebung allmählich immer größer wird. Er wirkt völlig verloren und fehl am Platze in dieser durchgedrehten, auf einen Abgrund zurasenden Welt, der alle Werte wie Mitgefühl, Anstand und Menschlichkeit abhanden gekommen scheinen. Aber er findet auch kein Mittel, dagegen anzugehen. Wie ihm ging es wahrscheinlich vielen, die sich von lauter Verrückten umgeben sahen, aber in diesem ganzen Gekreische und Gepolter kein Gehör fanden, weil sie viel zu leise waren.


    Ich weiß natürlich nicht, ob das vom Autor so gedacht war, aber ich würde da vielleicht schon eine Aussage hineininterpretieren wie: "Wehrt euch, ihr Stillen! Steht auf! Findet ein Mittel, damit die euch zuhören und wieder zur Vernunft kommen!"


    Später kommt noch diese schreckliche Traumsequenz, die ich als zwar als sehr bedrückend und beängstigend empfunden habe, von der ich aber trotzdem nicht so recht weiß, was der Autor dem Leser damit sagen will. Wahrscheinlich, dass alles vor die Hunde geht und die Menschheit auf die Apokalypse zusteuert, wenn sie so weitermacht, aber ganz sicher bin ich da nicht. Hat Kästner da möglicherweise seine Kriegserlebnisse verarbeitet?


    Und ganz zum Schluss lässt Cornelia dann die Bombe platzen, und fängt ein Verhältnis mit dem einflussreichen Filmdirektor an, um Karriere zu machen. Vielleicht war ihrerseits die Liebe ja nicht groß genug, um mit einem Arbeitslosen in Armut zu leben. Wohlstand vor Anstand heißt es da wohl. An der Stelle tat mir unser Held wirklich leid, das muss ihn jetzt ja komplett in die Krise stürzen. Mal sehen, wie er das jetzt schluckt und verarbeitet...

  • :thumbup: Ja, in dieser Hinsicht lagen auch meine Überlegungen zu diesem Abschnitt.


    Den Traum deute ich einerseits in Richtung Arbeitsvernichtung durch Maschinen, andererseits in Richtung Kriegsmaschinerie, in der die Menschenkinder verheizt werden.

    Man könnte sie sogar noch prophetisch deuten, auf die Vernichtung der Menschen hin, die tatsächlich völlig sinnlos in den Konzentrationslagern vernichtet und verbrannt wurden. Die letzte Szene vor dem Aufwachen spiegelt wohl die Erlebnisse Kästners im Ersten Weltkrieg wieder. :gruebel


    Dazu passt gut das Zitat aus dem Wikipedia-Artikel über Erich Kästner:

    Zitat
    „Das entscheidende Erlebnis war natürlich meine Beschäftigung als Kriegsteilnehmer. Wenn man 17-jährig eingezogen wird, und die halbe Klasse ist schon tot, weil bekanntlich immer zwei Jahrgänge ungefähr in einer Klasse sich überlappen, ist man noch weniger Militarist als je vorher. Und eine dieser Animositäten, eine dieser Gekränktheiten eines jungen Menschen, eine der wichtigsten, war die Wut aufs Militär, auf die Rüstung, auf die Schwerindustrie.“

    – Erich Kästner

    :(

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    Von den vielen Welten, [...] ist die Welt der Bücher die größte. (Hermann Hesse)


    :lesend Virginia Woolf: Orlando

  • Den Traum deute ich einerseits in Richtung Arbeitsvernichtung durch Maschinen, andererseits in Richtung Kriegsmaschinerie, in der die Menschenkinder verheizt werden.

    Genau, das hier und das Wiki-Zitat, sowas zusammen könnte wohl ein Hintergrund sein, gerade weil da so übermächtige Maschinen in dem Traum vorkommen. Ich fand den wirklich gruselig.

    Und Arbeitsplatzvernichtung, ja .... damit hatte ja auch der nette Professor mit seinen Webstühlen zu tun.

  • Ja, der Traum war gruselig und auch ein wenig lang geschildert. Die Menschen werden von allen Maschinen aufgefressen und die Individuen oder auch Rücksichtnahme zählen nicht mehr. Schade und tragisch, dass Glück und Pech für Fabian so eng zusammenfallen. Seine Cornelia, in die er sich recht schnell verliebt, unterliegt dann ebenfalls dem Drang, die unmoralische, aber für sie scheinbar sichere, Wahl zu treffen. Aber sie wollte sich ja ohnehin an der Männerwelt rächen, bei Fabian fängt sich schon mal damit an.

  • Seine Cornelia, in die er sich recht schnell verliebt, unterliegt dann ebenfalls dem Drank, die unmoralische, aber für sie scheinbar sichere. Wahl zu treffen. Aber sie wollte sich ja ohnehin an der Männerwelt rächen, bei Fabian fängt sich schon mal damit an.

    So hart würde ich mit ihr nicht ins Gericht gehen. Alle, die wir hier im Buch kennenlernen, prostituieren sich auf irgendeine Art und Weise, um an Geld zu kommen. Sie erschläft sich eine Rolle, will von Fabian nicht abhängig sein und begibt sich gleich in eine andere.

    Die eigentliche Geschichte aber bleibt unerzählt, denn ihre wahre Sprache könnte nur die Sprachlosigkeit sein. Natascha Wodin

  • Der zweite Abschnittist vom Grundton her positiver und hoffnunsgvoller als der erste,finde ich, aber ich fürchte, dass es sich nur um ein Zwischenhochhandelt.

    Ich habe den zweiten Abschnitt jetzt auch durch, aber ich fand ihn nicht unbedingt positiver.


    Gerde der Anfang dieses Abschnittes hat mich recht beschäftigt und traurig gemacht: Das Gespräch zwischen Fabian und Cornelia über die Frauen und die Liebe. Die Frauen werden nur als reine Ware betrachtet und so was wie echte Liebe oder eine ernsthafte Beziehung scheint für die meisten Männer ( und auch Frauen? ) gar nicht möglich zu sein. Ich habe mir die Sätze auf Seite 85 notiert: "Wenn wir Euch nicht behalten dürfen, wollen wir euch auch nicht lieben. Wenn ihr uns kaufen wollt, dann sollt ihr teuer dafür bezahlen" Es scheint, als ob es gar keine echten Werte mehr gäbe.Das ganze Gespräch hat mich einfach nur traurig und fassungslos gemacht.

    Umso schöner ist es natürlich, dass Fabian mit Cornelia ein bisschen Glück findet, auch wenn es nur von kurzer Dauer ist.


    Er wirkt völlig verloren und fehl am Platze in dieser durchgedrehten, auf einen Abgrund zurasenden Welt, der alle Werte wie Mitgefühl, Anstand und Menschlichkeit abhanden gekommen scheinen. Aber er findet auch kein Mittel, dagegen anzugehen.

    Das hast Du sehr treffend beschrieben. Genau so sehe ich Fabian auch


    Ich finde es auch erstaunlich, dass das Buch auf mich zwar sehr düster und desillusionierend wirkt, ich es aber trotzdem total gerne lese und ich das ganze Geschehen wie ein Beobachter von außen und mit einer gewissen Distanz betrachte . Das ist wirklich eine tolle Leistung von Erich Kästner.

  • Den zweiten Abschnitt habe ich nun auch gelesen.


    Die Traumszene empfand ich dann doch als sehr beängstigend oder als Fabian seine Anstellung verlor, hatte er doch eine gute Idee, die er letztendlich seinem Kollegen überlies. Vielleicht hätte er sein berufliches Schicksal doch noch abwenden können, hätte er seine Idee noch besser vermarktet? Wer weiß.


    Als Lichtblick erschien diese Cornelia, ich hegte schon die Hoffnung, dass sie ihm etwas Halt bieten könne, aber sie verfolgt wohl ihre eigenen Pläne.


    Gerde der Anfang dieses Abschnittes hat mich recht beschäftigt und traurig gemacht: Das Gespräch zwischen Fabian und Cornelia über die Frauen und die Liebe. Die Frauen werden nur als reine Ware betrachtet und so was wie echte Liebe oder eine ernsthafte Beziehung scheint für die meisten Männer ( und auch Frauen? ) gar nicht möglich zu sein. I

    Ist es heutzutage nicht manchmal auch so? Gelegentlich habe ich zumindest das Gefühl, dass ernsthaftere Beziehungen für einige Menschen gar nicht (mehr) möglich ist bzw. nicht in Betracht kommt.


    So hart würde ich mit ihr nicht ins Gericht gehen. Alle, die wir hier im Buch kennenlernen, prostituieren sich auf irgendeine Art und Weise, um an Geld zu kommen. Sie erschläft sich eine Rolle, will von Fabian nicht abhängig sein und begibt sich gleich in eine andere.

    Tja, am Ende sind wir doch alle irgendwie abhängig, suchen uns gute Jobs um angeblich frei und undgebunden oder besser gesagt finanziell unabhängig zu sein, aber am Ende sind wir doch von unserem Geldgeber abhängig. :-)

  • Ist es heutzutage nicht manchmal auch so? Gelegentlich habe ich zumindest das Gefühl, dass ernsthaftere Beziehungen für einige Menschen gar nicht (mehr) möglich ist bzw. nicht in Betracht kommt.

    Ja, leider sind viele Themen aus diesem Buch erschreckend aktuell. Das fällt mir immer wieder beim Lesen auf. Da hat sich nicht wirklich was geändert. Schon traurig.:(

  • Ich habe den zweiten Abschnitt jetzt auch durch, aber ich fand ihn nicht unbedingt positiver.

    Ich auch nicht. Die Grundstimmung bleibt bedrückend, egal wie sich die Figuren abstrampeln. Irgendwie ist es wie ein Tanz auf einem Vulkan, so als gäbe es kein Morgen, was ja auch für viele der Handelnden zutreffen wird.

  • Irgendwie ist es wie ein Tanz auf einem Vulkan, so als gäbe es kein Morgen, was ja auch für viele der Handelnden zutreffen wird.

    Als Tanz auf dem Vulkan wurde die Zeit speziell in Berlin schon mal in einem anderen Buch geschildert. Über Parallelen zur heutigen zeit wurde ja schon viel geredet, wobei ich finde, dass das nicht nur auf politischer sondern auch ökologischer Ebene gelten kann.

  • Wenn du meinst, dass die Leute damals wie heute echt nichts merken und so tun, als ginge alles schon irgendwie seinen Gang, ohne dass man zielgerichtet aktiv werden muss, dann stimme ich die zu.


    Ich muss seit ich dieses Buch lese immer wieder an Klaus Manns Romane denken, die ich mit Anfang Zwanzig verschlungen habe. Vielleicht ist es an der Zeit, sie mal wieder hervor zu holen.:gruebel

  • Wenn du meinst, dass die Leute damals wie heute echt nichts merken und so tun, als ginge alles schon irgendwie seinen Gang, ohne dass man zielgerichtet aktiv werden muss, dann stimme ich die zu.


    Ich muss seit ich dieses Buch lese immer wieder an Klaus Manns Romane denken, die ich mit Anfang Zwanzig verschlungen habe. Vielleicht ist es an der Zeit, sie mal wieder hervor zu holen.:gruebel

    :thumbup: Das habe ich in meinen 20er Jahren auch gemacht.

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    Von den vielen Welten, [...] ist die Welt der Bücher die größte. (Hermann Hesse)


    :lesend Virginia Woolf: Orlando

  • Genauso meine ich das. Klaus Mann wäre doch auch mal was für eine Leserunde. "Der Vulkan" wäre mir sympathisch.

    :wave Bei so einer Leserunde wäre ich auch dabei. :thumbup:

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    Von den vielen Welten, [...] ist die Welt der Bücher die größte. (Hermann Hesse)


    :lesend Virginia Woolf: Orlando

  • Ich muss seit ich dieses Buch lese immer wieder an Klaus Manns Romane denken, die ich mit Anfang Zwanzig verschlungen habe. Vielleicht ist es an der Zeit, sie mal wieder hervor zu holen.

    Lustig, ich habe jetzt unabhängig von Dir gedacht, dass ich mal wieder das Buch von Heinrich Mann "Der Untertan" lesen könnte.


    Von Klaus Mann habe ich noch gar nichts gelesen. Das sollte ich vielleicht auch mal nachholen. Kannst Du ein Buch von ihm besonders empfehlen??

  • Lustig, ich habe jetzt unabhängig von Dir gedacht, dass ich mal wieder das Buch von Heinrich Mann "Der Untertan" lesen könnte.


    Von Klaus Mann habe ich noch gar nichts gelesen. Das sollte ich vielleicht auch mal nachholen. Kannst Du ein Buch von ihm besonders empfehlen??

    Zu Klaus Mann: alles!:grin

    Ist schon viele Jahre her. Ich könnte gar nicht sagen, welches ich dir als erstes empfehlen würde.


    Haben wir den Untertan nicht vor ein paar Jahren noch mal als LR gelesen? Kann aber gut vor deiner Zeit gewesen sein. Ich habe früher echt zu viele LR gemacht...