'Alles, was wir geben mussten' - Kapitel 10 - 13

  • Auch die Herkunft der Kinder erfährt man nun so halb nebenbei und als wäre das ziemlich unspektakulär: Sie sind tatsächlich Klone. Und genauso, wie Adoptivkinder irgendwann meistens ihre leiblichen Eltern suchen, halten diese nun in der echten Welt, jenseits von Hailsham, Ausschau nach ihren "Vorlagen", von denen sie kopiert wurden. Das wird weder an die große Glocke gehängt noch weiter in Frage gestellt. Und ich wiederhole meine Befürchtung, dass dies auch den ganzen Roman über so bleiben wird, dass die Gehirnwäsche über die Zeit und den Ort von Hailsham hinaus das Leben dieser jungen Menschen bis zum Ende bestimmen wird. Fürchterlich. :(

  • Ruth tut mir unheimlich leid. Diese verzweifelten Versuche, jemand zu sein, mehr zu sein als eben nur ein Ersatzteillager. Die Sehnsucht, einen greifbaren Ursprung und eine selbstbestimmte Zukunft zu haben, gemocht und geliebt zu werden... Kathy beobachtet und analysiert das mit viel Feingefühl, wobei ich mich immer frage, wie man in so einem Umfeld wie Hailsham (was ja vergleichsweise noch ein Glücksgriff zu sein scheint) aufwachsen und dann so empathiefähig sein kann, auch wenn sie Ruth' Wünsche oft nicht teilt.

  • Allmählich interessiert mich doch die rechtliche Situation, in der das Ganze im Roman verortet ist. Die geklonten jungen Menschen stellen den ihnen vorgezeichneten Weg nicht in Frage, der einzige Lichtblick scheint es zu sein, wenn man "Aufschub" gewährt bekommt - 2-3 Jahre, bevor man dann doch zuerst betreuen und dann spenden muss. (Dass dies ihren Tod bedeutet, scheinen sie an dieser Stelle noch nicht verstanden zu haben, das wird ja nur aus den Reflexionen der erzählenden 30-jährigen Betreuerin Kathy deutlich.) Dabei leben sie nun ganz normal mitten in der Welt unter anderen Menschen. Haben sie keinen Kontakt zu denen? Sagt ihnen keiner mal, dass es Menschenrechte gibt? Lesen sie keine Zeitungen und Bücher? Wie kann es sein, dass sie weiterhin so weltfremd durchs Leben schlittern und ihrer "Bestimmung entgegengehen, ohne dass mal einer auf die Idee kommt, "nein" zu sagen und aus diesem System einfach auszusteigen? Da werden am Rande mal eine junge Frau in einer Boutique und ein Parkwächter erwähnt, die ja offenbar keine Betreuer und Spender geworden sind... Bin gespannt, ob und wann diese Figuren noch einmal aufgegriffen und vertieft werden.


    Das Ganze erinnert mich doll an eine Dokumentation über einen nordkoreanischen Flüchtling, die ich mal gesehen habe. Dieser junge Mann, als Kind von politischen Häftlingen in einem nordkoreanischen Straflager geboren und aufgewachsen, kennt nichts als Hunger, Kälte, Arbeit und drakonische Strafen. Als er mitbekommt, dass seine Mutter und sein Bruder fliehen wollen (und ihn nicht einweihen oder gar mitnehmen wollen), denunziert er sie. Seine Hoffnung, als Belohnung wenigstens einmal im Leben so viel Reis essen zu dürfen, dass er satt ist, erfüllt sich nicht - man unterstellt ihm Mitwissertum, foltert ihn... Später gelingt ihm mit Hilfe eines anderen Häftlings die Flucht nach Südkorea. Aber er schafft es nicht, dort in ein anderes, "normales" Leben zu finden, seine Sozialisation hinter sich zu lassen. Er braucht gar nicht im Lager zu sein - das Lager ist in ihm. In seinem Kopf, in seinem Körper, der für immer die Spuren der Folterungen trägt. Nach einigen Jahren in Südkorea gefragt, wo er am liebsten leben würde, wenn er die Wahl hätte, antwortet er: Im Lager.


    Daran muss ich bei diesem Buch immer denken. Die Leute sind nicht mehr in Hailsham, sie könnten mitten im Leben stehen - aber sie tun es nicht. Hailsham ist anscheinend unlöschbar in ihnen drin. Und anders als der junge Nordkoreaner sind sie ja noch nicht einmal an dem Punkt angelangt, dass sie das Ganze überhaupt in Frage stellen. Von Überwinden ganz zu schweigen.

  • Das Ganze erinnert mich doll an eine Dokumentation über einen nordkoreanischen Flüchtling, die ich mal gesehen habe. Dieser junge Mann, als Kind von politischen Häftlingen in einem nordkoreanischen Straflager geboren und aufgewachsen, kennt nichts als Hunger, Kälte, Arbeit und drakonische Strafen. Als er mitbekommt, dass seine Mutter und sein Bruder fliehen wollen (und ihn nicht einweihen oder gar mitnehmen wollen), denunziert er sie. Seine Hoffnung, als Belohnung wenigstens einmal im Leben so viel Reis essen zu dürfen, dass er satt ist, erfüllt sich nicht - man unterstellt ihm Mitwissertum, foltert ihn... Später gelingt ihm mit Hilfe eines anderen Häftlings die Flucht nach Südkorea. Aber er schafft es nicht, dort in ein anderes, "normales" Leben zu finden, seine Sozialisation hinter sich zu lassen. Er braucht gar nicht im Lager zu sein - das Lager ist in ihm. In seinem Kopf, in seinem Körper, der für immer die Spuren der Folterungen trägt. Nach einigen Jahren in Südkorea gefragt, wo er am liebsten leben würde, wenn er die Wahl hätte, antwortet er: Im Lager.

    Deine Schilderung erinnert mich an den freigelassenen Sklaven in der Underground Railroad, der nur schlafen konnte, wenn er sich angekettet hat.

    Aus manchen Gefangenschaften kann man sich nie befreien.


    Über die Stellung der Klone wird bisher nichts gesagt - aber sie haben wohl nicht die Wahl. Vermutlich ist die Gesellschaft nur von Weitem der unseren ähnlich und es gibt "richtige" Menschen und die "Ersatzteillager".



    Diese Zeit in dem Cottage ist wohl sei eine Art Zwischenzeit. Eine kurze Phase von Freiheit, die sie aber durch ihre Erziehung gar nicht wirklich genießen können. Für ihren Lebensunterhalt wird offensichtlich gesorgt. Ansonsten sind sie sich selbst überlassen.

  • Diese Zeit in dem Cottage ist wohl sei eine Art Zwischenzeit. Eine kurze Phase von Freiheit, die sie aber durch ihre Erziehung gar nicht wirklich genießen können. Für ihren Lebensunterhalt wird offensichtlich gesorgt. Ansonsten sind sie sich selbst überlassen.

    Ich glaube auch das ist so eine Art Übergang. Zum einen lösen sich die letzten Bindungen, die die Hailsham Kollegiaten haben, am Ende sogar Ruth Kathy und Tom, zum anderen lernen sie von den Veteranen, ein interessantes Wort in dem Zusammenhang, was auf sie zukommt. Wobei sie auch da genaueres nicht erfahren.

    Was mich auch erschreckt ist der technische Umgang mit Sex. Es ist wie eine Art Gruppenzwang. Schon am Ende der Hailsham - Aera wird das ja stark zum Thema. Und im Cottage scheint es fast keine andere Art der Unterhaltung zu geben.

  • Diese Zeit in den Cottages wundert mich sehr. Vorher wurde sehr darauf geachtet, dass sie gesund bleiben, aber hier leben sie in so ärmlichen Verhältnissen, dass sie frieren müssen. Das scheint mir unlogisch. Wenn sie der Gesellschaft so wertvoll sind, dass sie in Hailsham sorgsam aufgezogen werden, wieso wird dann nicht weiter so gut für sie gesorgt? Der ganze Aufwand wäre doch umsonst, wenn sie sich ernsthaft erkälten und ihre kostbaren Organe beschädigt würden.


    Auch hätten sie jetzt die Möglichkeit sich davon zu machen - ins Ausland, wo sie sich verstecken und diesem System entgehen könnten. Oder soll damit angedeutet werden, dass die ganze Welt sich auf diese Verfahren geeinigt hat. :gruebel

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    Von den vielen Welten, [...] ist die Welt der Bücher die größte. (Hermann Hesse)


    :lesend Siegfried Lenz: Der Verlust

  • Ruth nervt mit ihrer Geltungssucht. Kann sie nicht mal zugeben, dass sie von irgendwas keine Ahnung hat. Von dem Gerücht mit dem Aufschub hat sie sicher noch nie etwas gehört, tut aber so, als wüsste sie etwas darüber. Ich glaube, Tommy hat langsam genug von ihrer Art.

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    Von den vielen Welten, [...] ist die Welt der Bücher die größte. (Hermann Hesse)


    :lesend Siegfried Lenz: Der Verlust

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  • Ich vermute ja, dass Tommy im Geheimen Kathy liebt, sofern sie solche Gefühle empfinden können und Kathy ihn ebenso, sie fühlt sich ihm ja immer verbunden und kann gut mit ihm reden.

  • Ja, da war immer eine besonders innige Beziehung zwischen ihnen. Dass sie nie Sex miteinander hatten, lässt darauf schließen, dass sie lieber eine Art Geschwistergefühl pflegen wollen.

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    Von den vielen Welten, [...] ist die Welt der Bücher die größte. (Hermann Hesse)


    :lesend Siegfried Lenz: Der Verlust

  • Ja, da war immer eine besonders innige Beziehung zwischen ihnen. Dass sie nie Sex miteinander hatten, lässt darauf schließen, dass sie lieber eine Art Geschwistergefühl pflegen wollen.

    Ich glaube eher, sie haben es nocht nicht entdeckt, dass sie sich lieben. Ich könnte mir gut vorstellen, meine romantische Ader in dem Fall ;), dass die beiden auch in sexueller Hinsicht Erfüllung finden würden. Denn Kathy spürt, dass ihr bei aller sexueller Aktivität, etwas fehlt.

  • ... Da werden am Rande mal eine junge Frau in einer Boutique und ein Parkwächter erwähnt, die ja offenbar keine Betreuer und Spender geworden sind... Bin gespannt, ob und wann diese Figuren noch einmal aufgegriffen und vertieft werden.

    Ich glaube, die Beiden gibt es nicht wirklich. Sie sind bestimmt eine Legende, um noch einen letzten kleinen Hoffnungsschimmner aufrechtzuerhalten, dass es einen Ausweg gibt, das nicht allles schon feststeht.

    Genauso wie der Aufschub für 2-3 Jahre.

  • Haben sie keinen Kontakt zu denen? Sagt ihnen keiner mal, dass es Menschenrechte gibt? Lesen sie keine Zeitungen und Bücher?

    Ich denke auch, dass es hier eine ganz klare Trennung gibt, eben auf der einen Seite die Menschen und auf der anderen Seite die Spender. Mich würde allerdings interessieren, wie diese beiden Gruppen sich weiterhin unterscheiden. Ich meine Miss Lucy war es, die auch schon erwähnt hat, dass Spender mit "normalen" Menschen Sex haben können, also scheint der Kontakt nicht eingeschränkt zu sein. Sie dürfen sich ja auch ganz normal in der Welt bewegen, wie zum Beispiel der Ausflug zeigt. Aber mich würde halt interessieren, ob es vielleicht ein äußerliches Merkmal gibt, das sie als Spender kennzeichnet, oder ob es einen anderen Hinderungsgrund gibt, sich als normale Menschen auszugeben, außer diesem:

    Wie kann es sein, dass sie weiterhin so weltfremd durchs Leben schlittern und ihrer "Bestimmung entgegengehen, ohne dass mal einer auf die Idee kommt, "nein" zu sagen und aus diesem System einfach auszusteigen?

    Hier scheint die ganze "Erziehung" von Hailsham und ähnlichen Orten zu greifen. Sie haben ja schon als Kinder nichts groß hinterfragt und scheinen so auch als Erwachsenen keine größere Motivation dazu zu haben. Sie nehmen alles hin, lassen alles mit sich machen, weil es "eben so gemacht wird".


    Ich glaube, die Beiden gibt es nicht wirklich. Sie sind bestimmt eine Legende, um noch einen letzten kleinen Hoffnungsschimmner aufrechtzuerhalten, dass es einen Ausweg gibt, das nicht allles schon feststeht.

    Genauso wie der Aufschub für 2-3 Jahre.

    Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass es Ruth Mögliche wirklich gibt. Beides erscheint mir eher als eine Art Wunschdenken. Allein schon die Möglichkeit, irgendwie aus dem System zu entkommen ist fantastisch. Da reicht auch ein völlig unspekakulärer Job, Hauptsache, man kann zumindest in Gedanken, dem Ganzen entfliehen. Im Zusammenhang mit dem Aufschub habe ich mich gefragt, ob Hailsham wirklich etwas besonderes unter den Erziehungsheimen war, oder ob das nur im Zusammenhang mit diesem Aufschub so gesagt wird. Wenn ja, was macht es wohl so besonders? Funktioniert hier einfach die Konditionierung am besten, so dass hier die besten Spender herkommen?


    Interessant fand ich im Zusammenhang mit den Möglichen auch die Wortwahl: Kathy spricht immer wieder von "Modellen" und meint damit eigentlich die Originale, von denen sie geklont wurden. Dem eigentlichen Wortsinn nach ist Modell das Abbild bzw. die Abstraktion eines Originals zu einem bestimmten Zweck. Damit würde diese Definition genau auf die Klone zutreffen. Sie allerdings verwendet den Begriff, um die Originale zu charakterisieren und zeigt damit eben schon, dass für sie sie selbst die Originale sind. Die Möglichen sind eher eine abstrakte Idee, die nichts wirkliches mit ihrer Realtität zu tun hat.

    :lesend Jay Kristoff; Nevernight - Die Rache

    :lesend Laura Imai Messina; Die Telefonzelle am Ende der Welt (eBook)

    :lesend Rebecca Gablé; Teufelskrone (Hörbuch: Detlef Bierstedt)

  • Ruth nervt mit ihrer Geltungssucht. Kann sie nicht mal zugeben, dass sie von irgendwas keine Ahnung hat. Von dem Gerücht mit dem Aufschub hat sie sicher noch nie etwas gehört, tut aber so, als wüsste sie etwas darüber.

    Ich kann mit ihr auch nichts wirklich anfangen. Ich kann sie schon insoweit verstehen, dass sie versucht, sich irgendwie Geltung zu verschaffen. Sie versucht in diesem System nicht unsichtbar zu sein und zumindest von den anderen Kollegiaten und Veteranen "gesehen" zu werden. Sie klammert sich an ihr Ansehen, ihre Stellung in der Gruppe, als könnte das irgendetwas an ihrer Zukunft ändern. Das stimmt mich schon irgendwie traurig und lässt mich, wenn ich darüber nachdenke schon Mitgefühl mit ihr haben, sympathisch wird sie mir dadurch allerdings keineswegs.

    :lesend Jay Kristoff; Nevernight - Die Rache

    :lesend Laura Imai Messina; Die Telefonzelle am Ende der Welt (eBook)

    :lesend Rebecca Gablé; Teufelskrone (Hörbuch: Detlef Bierstedt)

  • Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass es Ruth Mögliche wirklich gibt.

    So wie ich es verstanden habe, sind die "Possibles" identisch mit den Modellen - also mögliche Modelle - und Modell im Sinne von Vorlagen, nach dem die Klone gestaltet wurden bzw. deren Genmaterial sie weitertragen.

    Ruth glaubt, sie hätte das Zeug dazu, so wie ihr Modell in einem Büro zu arbeiten - somit eine Alternative zu dem bedrohlichen Leben als Spender.

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    Von den vielen Welten, [...] ist die Welt der Bücher die größte. (Hermann Hesse)


    :lesend Siegfried Lenz: Der Verlust

  • Ich kann mir einfach gar nicht vorstellen, wie es wohl für einen selber ist, wenn man weiß, dass man "nur" ein Klon von einem anderen Menschen ist. Ich weiß nicht, wie man mit diesem Wissen leben kann. Und wenn man die Gewissheit hat, eigentlich nur für eine Organspende "gezüchtet" worden zu sein. Das stelle ich mir einfach ganz furchtbar vor. Anscheinend muss man das irgendwie verdrängen oder kann nur damit leben, weil man in dieser Gruppe von anderen "Klonen" eine Art Familie hat. Kathy, Ruth und die anderen leben so sorglos in den Tag hinein, wie wenn sie ein ganz normales Leben vor sich hätten. Das ist einfach so unbegreiflich für mich. Aber sie wissen wohl auch, dass sie daran einfach nichts ändern können und müssen irgendwie das beste daraus machen.


    Ruth nervt mit ihrer Geltungssucht. Kann sie nicht mal zugeben, dass sie von irgendwas keine Ahnung hat

    Also mich nervt Ruht gar nicht. Sie tut mir eher furchtbar leid. Und sie kommt mir sehr einsam vor in ihrem Bemühen, sich bei den Ältern beliebt zu machen und dazuzugehören.

    Und ich verstehe ihre Sehnsucht, ihr Modell, also ihre "Mögliche" in Echt zu sehen richtig gut. Ich befürchte nur, dass es ihr nicht viel bringen wird, bzw. dass sie falls es zu einer Begegnung kommt, danach nur schlecht damit umgehen kann.