'Unter ihren Augen' - Seiten 001 - 083

  • Aber nun zum eigentlichen Text. Ich habe nichts gegen Prologe, selbst wenn sie das Ende einer Entwicklung vorwegnehmen. Der erste Eindruck zählt. Meiner ist der einer leichtfertigen Frau, die ohne große Bedenken ihre Lehrerin denunziert. Und das zu einem Zeitpunkt, an dem in Deutschland das Denunzieren schwerwiegende Folgen haben konnte und nicht nur in politischen Kreisen Existenzen vernichtet hat.


    So startete ich also mit einer gewissen Verachtung für die Hauptdarstellerin in diesen Roman. Im ersten Kapitel wird versucht Sympathie für Lieselotte zu etablieren, indem sie im akuten Prüfungsstress mit ihren Mitschülerinnen gezeigt wird. Später kommt noch ihre schwierige Kindheit dazu.


    Richtig sympathisch wird sie mir erst im Kontrast mit ihrer schwatzhaften Freundin Else Marie. Dieses verwöhnte Mädchen aus gutem Hause zerrt nicht nur an Lottes Nerven.

    - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - -
    Von den vielen Welten, [...] ist die Welt der Bücher die größte. (Hermann Hesse)


    :lesend Siegfried Lenz: Der Verlust

  • Mit den Zeitsprüngen hatte ich einige Schwierigkeiten, so dass ich bei jedem Kapitelanfang unsicher war, wo wir uns gerade befinden und ich nach Anhaltspunkten gesucht habe. Warum die Endprüfung und das Ergebnis vorgezogen und dann erst die Prüfungsvorbereitungen und die Tanzaufführung in der Schauburg beschrieben wurden, erschließt sich mir nicht. Zuerst habe ich befürchtet, dass der gesamte Roman Kapitel für Kapitel in umgekehrter Chronologie geschrieben ist.


    Aber dann geht es mit dem Jahr 1925 weiter. Lotte ist also 19 als sie ihren ersten Kuss von ihrem leidenschaftlichen Verehrer bekommt. Erwin hat wirklich Geduld und Respekt gezeigt und lange auf diesen besonderen Moment hingearbeitet. Leider hat er ihn dann mit seiner plötzlichen Zudringlichkeit verdorben. Wenn er es hier etwas sanfter begonnen hätte, wäre die Chance für ein echtes Entgegenkommen Lottes größer gewesen.

    - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - -
    Von den vielen Welten, [...] ist die Welt der Bücher die größte. (Hermann Hesse)


    :lesend Siegfried Lenz: Der Verlust

  • Die leichte Erotik, die Lotte bei Bertas Berührung empfunden hat, muss nicht unbedingt etwas mit homosexueller Neigung zu tun haben, sondern kann einfach aus der Freude des Wahrgenommenwerdens heraus entstanden sein. Lotte schwärmt ja schon seit Jahren für die Lehrerin und fühlt sich geehrt, wenn sie von ihr anerkannt wird. Da lässt sie sich sogar nach der Aufführung in der Schauburg vor aller Welt von Berta vorführen.


    Nicht ganz logisch fand ich Bertas verhalten als sie mit ihrer Lebenspartnerin auf der Straße herumknutscht. Das haben die beiden, die zusammen wohnen, doch nicht nötig. Außerdem wird kurz danach beschrieben, wie sehr Berta auf ihre Diskretion achtet. War das also nur ein Schaustück für Lotte? Will Berta ihr zeigen, was es heißt, eine „Freundin“ zu sein?

    - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - -
    Von den vielen Welten, [...] ist die Welt der Bücher die größte. (Hermann Hesse)


    :lesend Siegfried Lenz: Der Verlust

  • Auch wenn das jetzt ein wenig vom Buch wegführt - der Film ist toll. Aber mindestens ebenso großartig fand ich Der Totmacher mit Götz George als Haarmann.

    Ich denke, ich habe zum ersten Mal beim Erscheinen von diesem Film mit Götz George ausführlich über diesen Massenmörder gehört und gesehen. Damals wurde der Fall ja in Presse und Fernsehen wieder groß aufgerollt.


    Bei "M" geht es doch eher um kleine Mädchen, die ermordet werden und es spielt in Berlin.

    - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - -
    Von den vielen Welten, [...] ist die Welt der Bücher die größte. (Hermann Hesse)


    :lesend Siegfried Lenz: Der Verlust

  • Aber dann geht es mit dem Jahr 1925 weiter. Lotte ist also 19 als sie ihren ersten Kuss von ihrem leidenschaftlichen Verehrer bekommt. Erwin hat wirklich Geduld und Respekt gezeigt und lange auf diesen besonderen Moment hingearbeitet. Leider hat er ihn dann mit seiner plötzlichen Zudringlichkeit verdorben. Wenn er es hier etwas sanfter begonnen hätte, wäre die Chance für ein echtes Entgegenkommen Lottes größer gewesen.

    Er hatte ja genau so wenig Erfahrung wie sie. Und da übermannt ihn die Leidenschaft, von weiblicher Antatomie bezüglich des sexuellen Empfindens von Frauen haben die wenigsten Männer Ahnung, heute noch. Und damals auch nur diejenigen, denen etwas daran lag. Bei Erwin ist es der Unwissenheit und Unerfahrenheit geschuldet. Von Lottes anderer Neigung weiß er ja nichts.

  • Die Schauburg, von der die Rede ist, musste ich auch erstmal googeln. 1911 gebaut, 1943 zerstört, muss es ein prachtvoller Bau gewesen sein.

    Das fand ich auch interessant. Besonders weil in meiner Kindheit und Jugend das beliebteste Kino in Erlangen "Schauburg" hieß.

    - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - -
    Von den vielen Welten, [...] ist die Welt der Bücher die größte. (Hermann Hesse)


    :lesend Siegfried Lenz: Der Verlust

  • Gut gefällt mir, was ich alles über die damals bekannten Tänzer*innen und ihr Umfeld lernen kann, wenn ich die beiläufig eingestreuten Namen bei Wikipedia eingebe, wie Mary Wigman, Anita Berber, Valeska Gert oder Rudolf Laban.

    - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - -
    Von den vielen Welten, [...] ist die Welt der Bücher die größte. (Hermann Hesse)


    :lesend Siegfried Lenz: Der Verlust

    Dieser Beitrag wurde bereits 1 Mal editiert, zuletzt von Tante Li ()

  • Auf welches Alter schätzt Ihr Berta?

    Bei so einer durchtrainierten Gestalt entwickelt sich ein Bauch und Doppelkinn erst später, würde ich meinen.

    - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - -
    Von den vielen Welten, [...] ist die Welt der Bücher die größte. (Hermann Hesse)


    :lesend Siegfried Lenz: Der Verlust

  • Das fand ich auch interessant. Besonders weil in meiner Kindheit und Jugend das beliebteste Kino in Erlangen "Schauburg" hieß.

    In einiger Entfernung gibt es auch noch ein Kino, das „Neue Schauburg“ heißt.


    Über Bertas Alter habe ich auch gerätselt, zumal sie ja irgendwie nach einer Nachfolgerin sucht. Im nächsten Abschnitt wird es erwähnt.

  • Ich hinke etwas hinter her, das tut mir leid.

    Mir gefällt das Buch gut, und ich bin sehr schnell in der Geschichte angekommen.

    Ich habe eure Beiträge gelesen. Ihr habt schon viele Aspekte genannt, die ich mir auch notiert hatte. Deshalb beschränke ich mich auf die Punkte, die ich anders wahrgenommen habe.

    Zu der Prolog-Diskussion:

    Merkwürdigerweise gibt es nur wenige Prologe, die mir während des Lesens die ganze Zeit im Hinterkopf bleiben und mein Leseerlebnis beeinflussen. Dieser hier schon, denn das Reizwort "denunziert" und die Jahreszahl lassen daraus schließen, dass Lottes Brief schwerwiegende Konsequenzen haben wird. Trotzdem empfinde ich Sympathie mit ihr. Der Prolog erhöht die Spannung, wie aus diese kämpferischen und ehrgeizigen jungen Frau eine Verräterin wird. Jeder Mensch trägt positive und negative Seiten in sich, auch Lotte. Ich finde die Figur spannend angelegt.


    Ganz toll beschrieben fand ich die erste Begegnung Lottes mir Berta. Das hat mich sehr an eine Szene in dem Film "Blau ist eine warme Farbe" erinnert. Dieser Moment des schlagartigen Verliebens wird eingefangen, das ist hier im Buch auch sehr gelungen.


    Berta kann ich noch überhaupt nicht einschätzen.


    Berührt hat mich außerdem noch, wie sehr eine gute Ausbildung und das Ausleben der Sexualität doch sehr vom sozialen Setting abhängig war. Lotte hat Glück, dass Onkel und Tante sie protegieren, sonst hätte sie dazu wohl keine Chance gehabt.

    Ich wünsche ihr, dass sie auch die Gelegenheit bekommt, ihre Sexualität auszuleben. Das wird nicht leicht.

    Sehr realistisch finde ich auch beschrieben, dass das ein absolutes Tabuthema war, dass Lotte nur wage vom Hörensagen kennt. Ganz im Gegensatz zu heute. Im Internet ist alles zu finden, auch wenn die Jugendlichen noch nicht die psychische Reife dazu haben, es zu verarbeiten.

    Die eigentliche Geschichte aber bleibt unerzählt, denn ihre wahre Sprache könnte nur die Sprachlosigkeit sein. Natascha Wodin

  • Ich hinke etwas hinter her, das tut mir leid.


    Zu der Prolog-Diskussion:

    Merkwürdigerweise gibt es nur wenige Prologe, die mir während des Lesens die ganze Zeit im Hinterkopf bleiben und mein Leseerlebnis beeinflussen. Dieser hier schon, denn das Reizwort "denunziert" und die Jahreszahl lassen daraus schließen, dass Lottes Brief schwerwiegende Konsequenzen haben wird. Trotzdem empfinde ich Sympathie mit ihr. Der Prolog erhöht die Spannung, wie aus diese kämpferischen und ehrgeizigen jungen Frau eine Verräterin wird. Jeder Mensch trägt positive und negative Seiten in sich, auch Lotte. Ich finde die Figur spannend angelegt.

    Hinterherhinken ist doch nicht schlimm. Schön, dass Du trotzdem dabei bist.


    Ja, das Wort "denunziert" hat schon Signalwirkung. Man ist gleich alarmiert und denkt, wie kann man nur. Und es ist spannend, ich bin schon fast am Ende, zu lesen wie sich die Personen entwickeln, und wie es dann dazu kommt. Welche Vorkommnisse dann das Zünglein an der Waage sind, da sucht man dann im ganzen Buch danach. Also, ich meine, man ist ständig auf der Lauer. Spannend ist es allzumal.

  • Wenn ich nicht in letzter Zeit so müde wäre, wäre ich sicher schon viel weiter mit dem Buch.
    Ich werde morgen mehr schreiben und wollte nur ein Lebenszeichen und ein „gefällt mir“ da lassen.

    Es ist übrigens die erste Geschichte, die ich lese, in der eine Frau in eine Frau verliebt ist und ich weiß nicht mal warum. Ich bin jedenfalls froh hier mitzulesen, denn der Schreibstil gefällt mir richtig gut.

  • Ich liebe die Sprache, die zu der Zeit in der das Buch spielt, gesprochen wurde und irgendwie auch das galante Werben um die Frau. Heute würde man für beides nur ein müdes Kichern übrig haben.


    Schon der Prolog hat mich total mitgenommen. Am liebsten hätte ich gar nicht mehr aufgehört zu lesen.

    In meiner Vorstellung ist Berta alt und grau, woher meine Annahme kommt, kann ich gar nicht sagen. Vielleicht, weil sie anfangs so fies zu Lieselotte ist? So eine Art verbinde ich wohl immer mit verhärmten alt aussehenden Frauen. Ich sollte mal meine Vorurteile überdenken :gruebel


    Dieser Erwin ist ja ein gruseliger Typ. Den würde ich auch nicht küssen wollen. Da schüttelt es mich, wenn ich von dem lese. Ich finde, dass die Szenen, in denen Lieselotte an Berta denkt, total großartig beschreiben sind.


    Zum Thema Prolog: Die meisten Prologe vergesse ich im Laufe des Buches wieder. Hier wohl eher nicht.


    Als True Crime Fan kannte ich Fritz Haarmann natürlich auch. Ich war total erstaunt, dass er hier am Rande vorgekommen ist. Ich habe gerade erfahren, dass wir das Lied sogar zu Hause haben. Der Gatte wieder :lache Auf dem Plattencover ist ein Wimmelbild - Haarmann ist da auch drauf. Vielleicht findet ihn ja jemand ;-)


    Wenn ich Bücher lese, die in den 20ern des letzten Jahrhunderts spielen, bekomme ich immer eine unfassbare Lebenslust. Ganz anders als heutzutage (auch ohne Corona), wenn sich alle nur noch beschweren und meckern können.

  • Es ist übrigens die erste Geschichte, die ich lese, in der eine Frau in eine Frau verliebt ist und ich weiß nicht mal warum. Ich bin jedenfalls froh hier mitzulesen, denn der Schreibstil gefällt mir richtig gut.

    Ich habe gerade überlegt weil ich erst dachte, ich hätte auch noch kein Buch mit diesem Thema gelesen. Dann ist mir aber eingefallen, dass es bei den Krimis von Ian Hamilton auch eine Protagonistin gibt, die Frauen liebt. Aber insgesamt kommt dieses Thema anscheinend nicht so häufig in Romanen vor, habe ich das Gefühlf:gruebel

    ASIN/ISBN: B07C5YRJ9Z


    Dieser Erwin ist ja ein gruseliger Typ.

    Als er das erste mal im Buch auftaucht, fand ich ihn auch nicht so sonderlich sympathisch. Aber je länger ich lese um so mehr mag ich ihn. Ich glaube, er ist gar nicht so gruselig. Nur am Anfang halt auch sehr unerfahren und ungestüm und sehr verliebt. Aber sonst ist er glaube ich ein ganz netter Kerl.

  • Danke Booklooker für den Text des Liedes und das gruselige Wimmelbild. Ich denke, Haarmann wird der blonde Typ mit dem grobkarierten Hemd sein, der mit seinem Messer gerade einen Jüngling zerteilt.


    Dieser Erwin ist ja ein gruseliger Typ. Den würde ich auch nicht küssen wollen.

    Was findest Du denn an Erwin gruselig? Mir ist er eigentlich recht sympathisch.

    - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - -
    Von den vielen Welten, [...] ist die Welt der Bücher die größte. (Hermann Hesse)


    :lesend Siegfried Lenz: Der Verlust

  • Was findest Du denn an Erwin gruselig? Mir ist er eigentlich recht sympathisch.

    Ich finde ihn zu bemüht und zu freundlich und nett. Und die Geschichte mit der Brosche und seine Lüge dazu hat mich ihn noch unsympatischer werden lassen.