'Auf Tiefe - See- und Küstengeschichten' - Dunkles Wasser

  • Fußnoten mit Übersetzungen wären eine Möglichkeit gewesen.

    Ach nöö, das würde ich persönlich nicht gut finden... Irgendjemand (sorry, ich weiß gerade nicht, wer es war) hat schon geschrieben, dass die plattdeutschen Sätze wenig inhaltliches vermitteln, sondern eher zur Atmosphäre beitragen sollen, dem kann ich mich voll und ganz anschließen...

  • Mich hat die erste Geschichte geradezu verzaubert. Bin 1957 geboren, auf einem Bauernhof als Familienbetrieb aufgewachsen. Da ist man früh in die tägliche Arbeit eingebunden worden. Urlaub gab es schlicht nicht, ein Tagesausflug war das Höchste der Gefühle, denn die Tiere mussten versorgt werden.

    Bei dieser Geschichte habe ich erstaunt festgestellt, dass mir Lars mehr am Herzen lag als sein blonder Bruder. Ja, er ist jähzornig und trunksüchtig, aber er ist auch einsam und fühlt sich vom Rest der Familie isoliert. Als großer Bruder kenne ich das Gefühl, das den kleinen Brüdern oft mehr nachgesehen wird. Lars glaubt sich gemobbt. Und als der kleine Bruder ihm die Freundin ausspannt, ist es zu viel.

    Die Überführung des Mörders Lars zeigt auch die geringe Wertschätzung von Lars durch seinen Vater. Im umgekehrten Fall (Lars wäre verschwunden) hätte es eine solche Aktion sicher nicht gegeben. Lars hatte aus meiner Sicht nie eine Chance, sein eigenes Leben zu führen. Sicherlich ist die Familie eine eingeschworene Gemeinschaft, aber vor allem um das Auskommen zu sichern. Wie es den Einzelnen dabei geht, interessiert eigentlich niemanden.

    :lesend James Lee Burke - Die Tote im Eisblock

    hörend: Hanna von Feilitzsch - Bittersüße Mandeln

  • Aufregend geradezu, dass das Thema Plattdeutsch bei manchen von euch eine so große Rolle zu spielen scheint. Dazu dies:

    Ich hatte die Gelegenheit, bei der Feier zur Preisverleihung des Nord Mord Award 2018 in St. Peter-Ording mit drei Mitgliedern der Jury, unter ihnen Feridun Zaimoglu, (insgesamt fünf SchriftstellerInnen u. Literaturfachleute waren in der Fachjury) ein paar Worte zu wechseln. Sie haben mir berichtet, dass drei von ihnen kein Wort Platt verstünden, das aber nicht von Bedeutung gewesen sei, um den literarischen Wert des Textes zu beurteilen, der es dann ja auch auf Platz 1 geschafft hat. Diese Leute sagten mir, bis auf die entscheidende Frage des Vaters "Du giffst dat nu to?" (Du gibst es jetzt zu?" - was man sich sicher erschließen kann, auch ohne Platt zu beherrschen) könne man nämlich alles, was der Alte sagt, schlicht streichen und würde dennoch die Geschichte voll verstehen. Die derbe Sprache des Alten in seiner gewohnten Mundart, so sagten die Juryleute, sei jedoch unverzichtbar für die Stimmung in diesem Text, brächte wichtige zeithistorische und zwischenmenschliche Aspekte zutage und sei daher absolut richtig gewählt.

    Es gab übrigens neben dem Jurypreis auch einen sog. Publikumspreis. Da lagen andere Texte vorn, solche, die leichter zu lesen, "süffiger" und somit wohl intellektuell massentauglicher waren ... (sorry, das war etwas boshaft). :lache

    Hier übrigens ein paar Impressionen von der damaligen Preisverleihung: https://www.hdieterneumann.de/nordmordaward

  • Und als der kleine Bruder ihm die Freundin ausspannt, ist es zu viel.

    Ich überlege gerade, ob wir eigentlich sicher sein können, dass Gesa tatsächlich die Freundin von Lars war, bevor der jüngere Bruder was mit ihm anfing, oder ob das Wunschdenken von Lars war. Als die beiden sich streiten, fragt Christoph "Sie ist dir doch nicht versprochen, oder?" Möglicherweise wollte Lars Gesa als Braut und hat ihr das vielleicht auch gesagt - aber sie hat sich für den jüngeren, sympathischeren Bruder entschieden. Beziehungsanbahnung lief ja damals noch etwas anders als bei heutigen Jugendlichen (oder auch nur Jugendlichen meiner Generation).

  • Ich überlege gerade, ob wir eigentlich sicher sein können, dass Gesa tatsächlich die Freundin von Lars war, bevor der jüngere Bruder was mit ihm anfing, oder ob das Wunschdenken von Lars war. Als die beiden sich streiten, fragt Christoph "Sie ist dir doch nicht versprochen, oder?" Möglicherweise wollte Lars Gesa als Braut und hat ihr das vielleicht auch gesagt - aber sie hat sich für den jüngeren, sympathischeren Bruder entschieden. Beziehungsanbahnung lief ja damals noch etwas anders als bei heutigen Jugendlichen (oder auch nur Jugendlichen meiner Generation).

    Ich habe das so verstanden, dass Lars Gesa gerne hätte, vielleicht haben auch die Eltern schon Absprachen getroffen, nur Gesa hat noch keiner gefragt. Wo wir dann wieder bei der Sprachlosigkeit wären.


    Ich gehöre nur zu der Generation, der der Dialekt in der Schule ausgetrieben wurde, ich bin sozusagen dialektmäßig heimatlos und finde das extrem schade.

    Deshalb ist mir das Thema vermutlich besonders wichtig.

    Ich kenne immer noch Eltern, die mit ihren Kindern nur Hochdeutsch reden, untereinander aber schlimmstes "platt schwätze" finde ich furchtbar.

  • Ich glaube, dass zu der Zeit das Mädchen eh die letzte war, die gefragt wurde (wenn überhaupt).


    Und zur Sprachlosigkeit - ich finde es schon interessant, dass das Schicksal von Christoph im Prinzip dadurch besiegelt wird, dass er die Sprachlosigkeit durchbrochen hat. Er hat mit Gesa geredet und hat versucht, es seinem Bruder zu sagen.

  • Wie hättest du es denn gelöst?


    Noch eine Randbemerkung zu dem Thema: ich finde es interessant, dass in meiner dialektsprechenden Heimat sehr viele junge Menschen anfangen, im Dialekt in Social-Media-Angebote zu schreiben. Trotz erhöhtem Aufwands. Der Wunsch, auch da die eigene Sprache einzubringen, ist also da.

    in Südtirol werden private Facebook Einträge tatsächlich nur im Dialekt gemacht.

  • Für mich (in Ostwestfahlen aufgewachsen und seit mehr als einem Vierteljahrhundert in der Region Hannover lebend) klingt Dialektnutzung auf Facebook extrem anstrengend.


    Früher habe ich mir immer gewünscht, einen Dialekt zu sprechen, irgendeine sprachliche Verbindung zu meinen Wurzeln zu haben. Aber dafür ist meine Familie in den letzten Generationen nie lange genug an einem Ort geblieben.

  • Ein Satz wie: "Utnanner! Wi hebt keen Tied to'n Strieten" ist von jemandem, der Plattdeutsch weder spricht noch jemals gehört hat, kaum zu verstehen und schon gar nicht in seinem Lautwert wiederzugeben.

    Da sehe ich eigentlich gar kein Problem. Wenn man den Satz laut liest, erschließt sich meiner Meinung nach die Bedeutung recht einfach.


    Facebook Einträge in Dialekt sind mir zum Glück noch nicht begegnet. Die nordischen Dialekte mag ich recht gern, aber alles andere rangiert bei mir unter "muss nicht sein". Und Grundschüler tun mir leid genug, weil die heutzutage schon ab der zweiten Klasse Englisch lernen müssen... Sprachen sind einfach nicht meins.

    “You can find magic wherever you look. Sit back and relax all you need is a book." ― Dr. Seuss

  • Lese-rina da gibt es gar keine perfekte Lösung und ich finde, Dieter hat das Nötige dazu gesagt.


    Ich gehöre nur zu der Generation, der der Dialekt in der Schule ausgetrieben wurde, ich bin sozusagen dialektmäßig heimatlos und finde das extrem schade.

    Deshalb ist mir das Thema vermutlich besonders wichtig.

    War bei uns auch so. Mein Klassenlehrer aus der Volksschule hat sogar meine Eltern und Großeltern aufgefordert, mit mir nur noch hochdeutsch zu reden. Mittlerweile kämpft der Dialekt ums Überleben. Zuhause spricht es kaum noch eine Familie. Es braucht schon Theatergruppen oder VHS-Kurse, damit man den Dialekt zu hören bekommt.

    :lesend James Lee Burke - Die Tote im Eisblock

    hörend: Hanna von Feilitzsch - Bittersüße Mandeln

  • Da bin ich sehr froh, dass ich so "jung" :-] bin und Dialekt in meiner Schulzeit größtenteils schon toleriert wurde. Da war durchaus ein Umdenken zu bemerken.


    Dialekt in der Schule, Kursen oder im Theater ist schön und mehr als gar nichts. Überleben als lebende gesprochene Sprache wird er so aber nicht, da braucht es schon Dialekt als Alltagssprache.

    "Alles vergeht. Wer klug ist, weiß das von Anfang an, und er bereut nichts." Olga Tokarczuk (übersetzt von Doreen Daume), Gesang der Fledermäuse, Kampa 2021

  • So, langsam bin ich nun auch dabei. Mein Verlauf ist Gott sei Dank nicht zu heftig, hat mich aber die ersten Tage doch vom lesen und mehr noch vom schreiben abgehalten.


    Als ich die Geschichte anfing zu lesen, hatte ich sofort wieder Dieters Stimme im Hennies im Ohr. Sehr emotional, gerade beim Dialekt, hat er sie damals vorgetragen. Ich war dabei.


    Und so hatte ich doch schon fast Gänsehaut beim Lesen und wiedererkennen. Sehr bildlich habe ich alles gespürt, sehr emotional mitgefühlt, sehr intensiv mit allen Beteiligen mitgelitten.


    Ich halte es wie Ayasha. Ich muss nicht alles verstehen von den Fachbegriffen. Das ist zweitrangig bei dieser Geschichte. Das Platt hatte ich ja noch im Ohr und beim langsam lesen, erschloss sich mir das meiste. Aus dem Kontext konnte man dann aber auch viel deuten.


    Kurzgeschichten bestechen durch ihre Intensität ohne viel Geschnörkel. Das Drama einer Fischerfamilie, wie es seinerzeit üblich war. Ein Sohn unglücklich, einer glücklich, eine Liebe zur gleichen Frau, einem Vater, der es auch nicht anders erlebt haben wird. Lars, der unglücklichste Charakter. Vielleicht wünschte er sich den Tod, weil er nicht mit der Schuld leben wollte. Der Vater, der da stand und nicht half. Welche Rolle spielte Uwe? So tragisch, so düster und vielleicht auch für die Zeit nicht untypisch. Was aber nicht immer mit dem Tod enden musste, aber es ging bestimmt vielen Familien so.


    Diese Geschichte hat nicht umsonst einen Preis verdient und war so der perfekte Einstieg. Ich bin wirklich gespannt auf die nächsten Geschichten.

    :lesend Derek Meister - Rungholts Sünde

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    Hörbuch: Mario Giordano - Tante Poldi und die schwarze Madonna

    Hörbuch: Peter Beer - Achtsamkeit statt Angst und Panik

    SuB: 317

  • Da in diesem (und nicht nur in diesem) Thread recht intensiv über Plattdeutsch und dessen Gebrauch heutzutage diskutiert wurde, habe ich hier was Niedliches zum Übergang in ein sonniges Wochenende:

    Vorausgeschickt sei, dass unsere Kinder mit ihren Familien ebenfalls hier oben im Norden ganz in unserer Nähe leben. In den Kitas (und teilweise auch in Schulen) hier bei uns hat man schon vor Jahren die plattdeutsche Sprache "wiederentdeckt".

    Heute Morgen nun kam eine wunderschöne WhatsApp einer unserer Töchter bei uns an, in der sie schrieb, sie habe gerade mit unserer Enkelin Alma (2,5 Jahre) ein Buch angeschaut und das Kind gefragt: "Alma, was ist das da für ein Tier?"

    Almas Antwort kam prompt: "En Boompicker!"

    Und ein anderes Tier nannte sie "Plüschmors". Dazu kann sie sogar ein kleines Kinderlied singen.


    So, nun dürft ihr raten, welche Tiere das wohl sind. :lache

    Vorschlag für die Nordlichter: Lasst es erst mal die Schluchtenjodlerinnen und -jodler und andere Südländer versuchen ... :rofl