'Auf Tiefe - See- und Küstengeschichten' - Flucht übers Eis

  • Das ist meine zweite Lieblingsgeschichte in diesem Buch. Sie ist ja etwas länger als die anderen und insbesondere durch die Perspektivwechsel unglaublich spannend. Ich fand die Gegensätze hier großartig herausgearbeitet. Einerseits die ruhigere heimelige Weihnachtsvorbereitung und das Familientreffen, andererseits die Flucht, die Verzweiflung, der politische und historische Hintergrund. Es ist wie eine Berg- und Talfahrt. Je ruhiger es bergauf geht, desto rasanter spürt man auch als Leserin die Talfahrt, die Kälte, die Verzweiflung dieser mutigen Menschen.

    Und ich liebe das Ende, dieser bodenständige, geerdete Umgang mit der Situation. Ich bin völlig fasziniert von deiner Erzählweise und nachhaltig beeindruckt.


    Was ich ja auch in deinen Romanen so schätze, ist, dass du immer wieder politische und historische Hintergründe mit einfügst ohne zu langweilen, ohne erhobenen Zeigefinger, aber mit eindeutiger Aussage. Das gelingt dir auch hier in diesem Format. Und bei all der Nostalgie, ist es gut, sich immer wieder in Erinnerung zu rufen, was diese DDR für ein Regime, warum Menschen, es dort nicht aushalten konnten und sich solchen Gefahren ausgesetzt haben. Danke, dass du mit dieser Geschichte diese wahre Begebenheit nicht vergessen lässt.


    Kennst du selbst die Geschichte dieser Flucht "nur" aus der Presse oder hattest du Kontakt mit den Beteiligten? Wie bist du darauf gekommen, ausgerechnet diese zu erzählen?

  • Kennst du selbst die Geschichte dieser Flucht "nur" aus der Presse oder hattest du Kontakt mit den Beteiligten? Wie bist du darauf gekommen, ausgerechnet diese zu erzählen?

    Tatsächlich bin ich irgendwann einmal durch einen Zeitungsbericht auf diese abenteuerliche Flucht gestoßen, habe dann später in allen möglichen Quellen weiter dazu recherchiert und die Geschichte dann geschrieben.

    Eine oder einen der vier Flüchtenden habe ich leider nie kennengelernt - das wäre toll gewesen. Soviel ich weiß, haben sie immer Wert darauf gelegt, nie mit ihren Klarnamen genannt zu werden.

  • Auch ich habe diese Geschichte voller Spannung gelesen. Und gerade diese Diskrepanz zwischen den beiden Perspektiven hat für mich die Dramatik der Flucht noch deutlicher dargestellt.


    Aufgrund der Familiengeschichte meines Mannes kann ich mir ansatzweise vorstellen, was Menschen dazu bringt, so ein Risiko auf sich zu nehmen, um ein neues Leben beginnen zu können. Aber eben nur ansatzweise... Ich bewundere den Mut dieser Menschen sehr und hoffe, dass ihr neues Leben in Freiheit nach ihren Wünschen verlaufen ist. Ich bin mir nicht sicher, ob ich so eine Courage aufbringen könnte. :gruebel

    ... Und bei all der Nostalgie, ist es gut, sich immer wieder in Erinnerung zu rufen, was diese DDR für ein Regime, warum Menschen, es dort nicht aushalten konnten und sich solchen Gefahren ausgesetzt haben. Danke, dass du mit dieser Geschichte diese wahre Begebenheit nicht vergessen lässt.

    Das möchte ich genauso unterschreiben! :write

  • Das war eine Geschichte genau nach meinem Geschmack!!!

    Wie ich schon mehrmals erwähnt habe (sorry, es tut mir leid für die Wiederholungen!) bin ich ja nicht so für Kurzgeschichten, aber was mir aufgefallen ist: bei Kurzgeschichten ist fast jedes Wort wichtig, weil sie auch viel zur Stimmung beitragen müssen: in Romanen kann der Autor / die Autorin die Stimmung "beschreiben" , in Kurzgeschichten muss der Leser / die Leserin sie selbst "erfühlen"... Oh, sehr kompliziert ausgedrückt - versteht Ihr, was ich meine?

    Und hier ist es m.E. wieder mal großartig gelungen: auf der einen Seite die bittere Kälte, die Angst vor Entdeckung, die (Lebens-) Gefahr - dagegen auf der anderen Seite die weihnachtliche Tradition, die Wärme, die Gemütlichkeit (einschl. des angeschwipsten Sohnes), kurz: das, was Möbelhäuser etwas inflationär gern als "hyggelig" bezeichnen...

    Besonders der Schluss hat es mir angetan: dass Pedersen noch einmal rausgeht und sieht, dass es aufgeklart hat (jetzt wäre die Flucht gefährlicher oder gar unmöglich), seine Gedanken... Ja, es ist ein Märchen, aber ein wahres, auch das gibt es...

    An den Winter selbst habe ich keine Erinnerung, aber an der Ostseeküste sieht man häufiger Fotos in Rathäusern, Restaurants etc. von der zugefrorenen Ostsee -beeindruckend die aufgetürmten riesigen Eisschollen... Und die Geschichte dieser Flucht habe ich als sog. Tatsachenbericht schon mal gelesen, ich glaube, bei der Berichterstattung zum Mauerfall... Aber so war sie natürlich viel schöner...

    Eine wunderbare Geschichte, die mir ausgesprochen gut gefallen hat!

  • Ja, diese Geschichte gefällt mir auch richtig gut. Die beiden Perspektiven und der Geschichtsbezug in spannenden Szenen und menschlichen Gefühlen. :thumbup:

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    Von den vielen Welten, [...] ist die Welt der Bücher die größte. (Hermann Hesse)


    :lesend Siegfried Lenz: Der Verlust

  • Ich fand die Geschichte auch großartig, was möglicherweise mit meinem Familienhintergrund zu tun hat. Meine Oma ist mit kleinen Kindern aus der DDR in den Westen geflohen, allerdings nicht so dramatisch übers Eis, sondern mit dem Zug. Über die Angst, im letzten Moment zu scheitern und dann in der DDR schweren Repressalien ausgesetzt zu sein, hat sie mit mir öfter gesprochen.


    Sehr schön fand ich gerade den Anfang der Geschichte. Tino scheint fest entschlossen, auf jeden Fall zu fliehen, auch gegen jedes Hindernis, während Robert Gründe findet, warum die Gelegenheit falsch, die Gefahr zu groß ist. Das arbeitet für mich schön den inneren Konflikt heraus, auf der einen Seite in die Freiheit zu wollen, auf der anderen Seite aber die Gefahr zu scheuen und sich stattdessen lieber in dem ungeliebten Staat einzurichten.


    Schön finde ich auch, dass die Geschichte an Heiligabend spielt. Tatsächlich klopfen unsere vier Flüchtenden an eine Tür und werden aufgenommen. Soll ja vor vielen Jahren mal nicht so gelaufen sein ... ;)

  • Danke Ellemir ❣ Diese Hintergrundinfo ist sehr interessant.

    Ich hatte mir kaum vorstellen können, dass die jungen Leute eine so lange Unterkühlung überleben konnten. Die dänische Familie hat ihnen wirklich das Leben gerettet. Da hätten sie sich wenigstens nach dem Mauerfall mal bedanken kommen können.

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    Von den vielen Welten, [...] ist die Welt der Bücher die größte. (Hermann Hesse)


    :lesend Siegfried Lenz: Der Verlust

  • Was für eine Geschichte. Ich habe ab dem ersten Moment Angst um die vier gehabt und gehofft, dass sie es schaffen. Wobei ich mir nach den ersten beiden Geschichten im Buch nicht so sicher war ;-)


    der heilige Abend in Dänemark ist wunderschön beschrieben, da habe ich mich auch gleich wieder auf Weihnachten gefreut.
    wie schön, dass die Familie dann auch gleich so schnell reagiert hat und sich gekümmert hat.


    dass die Geschichte wohl wirklich so passiert ist zeigt auch, dass es auch in schwierigen und schrecklichen Zeiten gute Ereignisse gibt und Menschen, die helfen und unterstützen. Das eben nicht alles schlecht ist und es auch in dunklen Zeiten Licht gibt gibt….


    Huch jetzt werde ich selbe noch poetisch :lache


    Ellemir danke für den Artikel!

  • Ich habe mir auch noch eine Geschichte gegönnt. Diese hat ein versöhnliches Ende - als Bettlektüre besser geeignet ;-)

    Sie hat mir sehr gut gefallen, ich habe so richtig mit den jungen Leuten mitgelitten. Ins eiskalte Wasser zu fallen und dann noch eine so lange Strecke bei -8°C (laut Artikel) weiterzuradeln - alle Achtung, das klingt echt heftig. Die Spannung kommt wirklich super rüber! Und dann noch so ein Ende, das hat mich an unseren Büchereulen-Adventskalender erinnert.

    “You can find magic wherever you look. Sit back and relax all you need is a book." ― Dr. Seuss

  • Die Beschreibung von Tino als "Antreiber" gefällt mir gut. Ohne ihn hätte die ganze Aktion nicht stattgefunden.

    Vor allem, nachdem das Unglück geschehen war, sie alle im Wasser lagen und zum Glück wieder aufs Eis zurückkamen, zeigten sich seine Qualitäten so richtig.

    Hätte er nicht alle mit seiner Willenskraft zum Weitermachen gezwungen, wären sie wohl alle erfroren.

  • dass die Geschichte wohl wirklich so passiert ist zeigt auch, dass es auch in schwierigen und schrecklichen Zeiten gute Ereignisse gibt und Menschen, die helfen und unterstützen. Das eben nicht alles schlecht ist und es auch in dunklen Zeiten Licht gibt gibt….


    Huch jetzt werde ich selbe noch poetisch :lache

    Das hast du schön gesagt. :) Und es lässt die Hoffnung, dass die Menschheit nicht ganz verloren ist, weiter glimmen.

    Und ich finde, dass man bei solchen Geschichten, die schon fast märchenhaft aufhören, ohne weiteres poetisch werden darf. :grin

  • Hach, eine wirklich schöne Geschichte und zwischendurch wahnsinnig spannend!

    Was für eine Geschichte. Ich habe ab dem ersten Moment Angst um die vier gehabt und gehofft, dass sie es schaffen. Wobei ich mir nach den ersten beiden Geschichten im Buch nicht so sicher war ;-)


    Ellemir danke für den Artikel!

    Beides :write. Ich befürchtete - auch gerade nach der Lektüre von anderen Geschichten Dieters - schon das Schlimmste, als die vier da übers Eis geradelt und auch noch eingebrochen sind! Unvorstellbar, wie sie diese enormen Schwierigkeiten und vor allem die Kälte überlebt haben. Als reine Literatur würde ich sagen: unrealistisch. Zum Glück zeigt das Leben, dass der Überlebenswillen doch zumindest manchmal siegt!


    Ich stelle mir das sowieso sehr gruselig vor: du radelst bei tiefdunkler Nacht über eine riesige Eisplatte und weißt genau, unter dir ist die kalte Ostsee. Ohne ein sichtbares Ziel und vor allem ohne den Weg zu sehen, immer in der Gefahr, (wie dann tatsächlich geschehen) das Eis könnte brechen. Und das bei Eiseskälte, wo wirklich gilt: Stillstand bedeutet Tod. Eine unvorstellbare Anstrengung!


    Und bei all der Nostalgie, ist es gut, sich immer wieder in Erinnerung zu rufen, was diese DDR für ein Regime, warum Menschen, es dort nicht aushalten konnten und sich solchen Gefahren ausgesetzt haben. Danke, dass du mit dieser Geschichte diese wahre Begebenheit nicht vergessen lässt.

    :writeDa gebe ich Saiya absolut recht, durch diese Geschichte wird (wieder) deutlich bewusst, was Menschen alles auf sich genommen haben, um aus der DDR rauszukommen. Hier zum Glück mit gutem Ausgang, bei vielen hat das so leider nicht geklappt und es haben viele auch mit ihrem Leben bezahlt.

    "Alles vergeht. Wer klug ist, weiß das von Anfang an, und er bereut nichts." Olga Tokarczuk (übersetzt von Doreen Daume), Gesang der Fledermäuse, Kampa 2021

  • Eine sehr stimmungsvolle Geschichte, die mich berührt hat. Wahnsinn, kaum vorstellbar, dass so eine Flucht wirklich gelungen ist.

    Mittendrin habe ich schon befürchtet, dass die vier Flüchtenden es schaffen, die junge Familie aber vielleicht nicht unbeschadet im Ferienhaus ankommt. Um so schöner dann, dass diese Geschichte gut ausgegangen ist.


    Die Geschichte ist spannend geschrieben und stimmungsvoll zugleich. Auch hier ist für meinen Lesegeschmack der richtige Ton gefunden worden.

    Der Perspektivwechsel ist absolut gelungen.

    Die eigentliche Geschichte aber bleibt unerzählt, denn ihre wahre Sprache könnte nur die Sprachlosigkeit sein. Natascha Wodin

  • Wieder eine sehr eindrucksvolle Geschichte, umso mehr, da sie ja einen realen Hintergrund hat. Es ist immer wieder beeindruckend zu welchen Höchstleistungen der Mensch in Ausnahmesituationen in der Lage ist.


    Ich habe fest damit gerechnet, dass die vier Flüchtlinge es heil (mehr oder weniger) zu dem Ferienhaus schaffen. Welchen Sinn hätten sonst diese zwei Perspektiven? Und trotzdem war es spannend bis zum Schluss.