'Der Gang vor die Hunde' - Seiten 001 - 079

  • Es ist mein erstes Kästner-Buch für Erwachsene und ich finde es sehr spannend, wie er mit der gleichen Sprache wie in den Kinderbüchern über völlig andere Dinge schreibt.

    Das Gleiche hat mich auch absolut fasziniert. Ich habe die ersten paar Sätze gelesen und habe mich sofort an meine Kindheit und die tollen Kinderbücher von Erich Kästner erinnert. Er verwendet wirkich die gleiche Sprache und es passt trotzdem absolut zu dem ernsten und eher depremierenden Inhalt dieses Buches.

  • Überrascht hat mich, wie genau Kästner das Nachtleben des damaligen Berlin mit all seinen sexuellen Ausschweifungen und anderen Absonderlichkeiten kennt - das hätte ich so nicht erwartet. Irgendwie hatte ich von ihm auch eher das Bild des braven Muttersöhnchens, aber hier kommt es ja schon so rüber, als kenne er das meiste aus eigener Anschauung.

    Das habe ich mich auch gefragt, denn als Lebemann hätte ich ihn auch nicht eingeschätzt, nach dem, was ich über ihn gelesen oder im Film gesehen habe.

    Aber wenn es zu der Zeit in Berlin wirklich so wild zuging, und er sich als junger, neugieriger Journalist und Beobachter in diesem Umfeld bewegt hat, wird er da vielleicht zwangsläufig einiges mitbekommen haben, selbst wenn er gar nicht an solchen Ausschweifungen beteiligt war.

    Kästner muss damals auch schon recht bekannt gewesen sein ... irgendwo habe ich gelesen, dass er zu der Zeit schon ein "aufgehender Stern" in Berlin gewesen sei. Bestimmt hatte er viele Freude, Bekannte und Kollegen, die auch über so etwas reden oder ihn mal in solche Etablissements mitschleppen. Ich glaube, man hätte schon extrem riesige Scheuklappen gebraucht, um von diesen Dingen gar nichts mitzukriegen :)

  • Erich Kästner war ja schon als Student in Leipzig im Theatermilieu und als Journalist unterwegs - da hat er sicher auch schon so manches von lockeren Verhaltensweisen mitbekommen ohne selber daran beteiligt gewesen sein gemusst zu haben.

    Ab 1927 war er in Berlin ebenso unterwegs.

    Zitat

    :
    Dem kritischer werdenden Kästner wurde 1927 gekündigt, nachdem seinem von Erich Ohser illustrierten erotischen Gedicht Nachtgesang des Kammervirtuosen Frivolität vorgeworfen worden war. Im selben Jahr zog Kästner nach Berlin, von wo aus er unter dem Pseudonym „Berthold Bürger“ weiter als freier Kulturkorrespondent für die Neue Leipziger Zeitung schrieb.

    :

    Regelmäßig schrieb er als freier Mitarbeiter für verschiedene Tageszeitungen, wie das Berliner Tageblatt und die Vossische Zeitung sowie für die Zeitschrift Die Weltbühne.

    :

    [Wikipedia]

    Und dann hat er auch noch satirisch übertrieben, um das Ganze noch krasser darzustellen und die ganze Absurdität zu verdeutlichen.

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    Von den vielen Welten, [...] ist die Welt der Bücher die größte. (Hermann Hesse)


    :lesend Tom Liehr: Im wechselnden Licht der Jahre

  • Der Wikipedia-Eintrag ist Blödsinn, oder? Die Machtergreifung war 1933, aber das Buch erschien schon 1931? :/

    Aber Wikipedia greift ja bereits bekannte Fakten auf. So können sie freilich sagen "am Vorabend". Hätte es Wiki bereits 1931 gegeben und sie dann den Eintrag gemacht wäre es Blödsinn, so aber wohl nicht. Und viel Menschen wussten damals, dass die Nazis den Untergang bedeuten. Sie hatten ja nicht gerade im Geheimen darauf hingearbeitet und ihre Mittel waren nicht gerade sanft.

  • Wahnsinn! Alle Beiträge hier zu lesen dauert ja fast so lange wie den Leseabschnitt.


    Ich werde jetzt nicht auf einzelne Beiträge eingehen, sondern nur die zwei Punkte erwähnen, die mir aufgefallen sind.


    Hier der erste:


    Zunächst erscheint mir Fabian wie ein pubertierender Jugendlicher. Er lebt von einem Moment zum anderen ohne Ehrgeiz oder Pläne für die Zukunft. Er hat keine Angst vor Arbeitslosigkeit, irgendwas würde er immer finden. Doch so oberflächlich, wie es scheint, ist er nicht. Er sieht den Untergang Europas kommen. Es hat für ihn keinen Sinn, Energie in Karriere und Familie zu investieren, auch wenn er diejenigen, die das tun, zu beneiden scheint. Im 4.Kapitel:

    Zitat

    „Den Untergang Europas konnte er auch dort abwarten, wo er geboren worden war … Europa hatte große Pause. Die Lehrer waren fort. Der Stundenplan war verschwunden, der alte Kontinent würde das Ziel der Klasse nicht erreichen, das Ziel keiner Klasse.“


    Wieso vergleicht er Europa mit einer Schule?


    Dass Fabian und Labude sich den Scherz in der Straßenbahn erlauben, wird im Buch, wenn ich das richtig verstanden habe, als Galgenhumor bezeichnet. Weltuntergangsstimmung.


    Der zweite Punkt:


    Fabian erklärt sein Einlassen auf Frauen wie Irene Moll mit Neugier. Es geht ihm um die „gemischten Gefühle“.

    Zitat

    „Wer sie untersuchen wollte, musste sie haben. Nur während man sie besaß, konnte man sie beobachten. Man war ein Chirurg, der die eigene Seele aufschnitt.“

    Meint er das ernst? Kann man gemischte Gefühle nicht auch in anderen Lebenslagen untersuchen? Oder haben je nach Situation die gemischten Gefühle eine andere Aussagekraft?

  • Wieso vergleicht er Europa mit einer Schule?

    Vielleicht soll das ja ein Wortspiel sein zu der sozialistisch bemängelten Klassengesellschaft. :gruebel

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    :lesend Tom Liehr: Im wechselnden Licht der Jahre

  • Der zweite Punkt:


    Fabian erklärt sein Einlassen auf Frauen wie Irene Moll mit Neugier. Es geht ihm um die „gemischten Gefühle“.

    Meint er das ernst? Kann man gemischte Gefühle nicht auch in anderen Lebenslagen untersuchen? Oder haben je nach Situation die gemischten Gefühle eine andere Aussagekraft?

    Ich würde es so sehen, dass Fabian seine eigenen Gefühle in Bezug auf Frauen untersuchen will. Einerseits begehrt er die Weiblichkeit aus rein körperlichen Gründen, andererseits will er mit so leicht zu habenden Frauen keinen näheren Kontakt haben, weil er die Käuflichkeit und Gefühllosigkeit verachtet. Oder weil er sie als Menschen sieht, die doch eigentlich mehr Würde haben sollten. :gruebel

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    :lesend Tom Liehr: Im wechselnden Licht der Jahre

  • Wieso vergleicht er Europa mit einer Schule?

    Ich finde den Vergleich eigentlich ganz gut. Außerdem erinnert sich Fabian ja auch noch an seine Schulzeit und er hatte ja wohl auch mal Lehramt studiert, aber nicht beendet.



    Was Frau Moll und die "gemischten Gefühle" angeht: Fabian sieht sich selbst ja eher als Beobachter, er macht alles mit, probiert alles aus, ohne innerlich wirklich dabei zu sein - so empfinde ich das jedenfalls. Dabei macht er keinen Unterschied, ob das jetzt moralische oder unmoralische, sexuelle oder andere Angebote sind. Hinterher bildet er sich dann seine Meinung - auch bei Frau Moll, aus deren Wohnung er ja mehr oder weniger flüchtet, weil er ihr Arrangement mit ihrem Mann nicht gutheißen kann.


    LG, Bella

  • Ganz toll finde ich gewisse Formulierungen, bei denen ich erst einmal unterbrechen muss und über die Bedeutung nachdenken, wie z. B. (sinngemäß):

    Ihr Gesicht sah aus, als ob sie krumme Beine hätte.

    oder

    Sie tranken, als ob sie 8 Tage nichts gegessen hätten.

    :gruebel


    Ich hab keinen Sinn entdeckt.:lache

  • Gerade solche Formulierungen habe ich sehr genossen beim Lesen. Sinn braucht es ja nicht immer, oder?;)

  • Gerade solche Formulierungen habe ich sehr genossen beim Lesen. Sinn braucht es ja nicht immer, oder?;)

    Ich wollte nur auf Nummer sicher gehen. Nicht dass mir hier tiefgründige Gedankenspiele entgehen. :grin

    Ich muss aber zugeben, dass es mir schon Spaß gemacht hat, mir ein Gesicht eines Menschen vorzustellen, wenn er/sie krumme Beine hat. Vielleicht schielt er ja, wenn er an sich heruntersieht?:lache

  • Trotz der ernsten Themen möchte ich gerade Kästners ganz besondere Art zu schreiben, dieses Launige, Überspitzte, beißend Satirische. Man merkt, dass er es liebt zu schreiben, in jeder Zeile!

    :write:write

    Das ging mir ganz genauso!! Ich habe jetzt auch noch mal den Anhang gelesen und da wird ja deutlich betont, dass Kästner das Buch als eine Satire geschrieben hat und mit Absicht viele Sachen übertrieben hat.

    Die Sprache von Kästner in diesem Buch war einfach grandios.

  • Mir hat ja der Satz so gut gefallen: "Manchmal könnte ich vor Freude in den Sonnenschein hinein beißen, oder in die Luft, die durch die Parks weht." In seinen Gedichten kommt seine sprachliche Ausdruckskraft fast noch mehr zur Geltung.

  • Mir hat ja der Satz so gut gefallen: "Manchmal könnte ich vor Freude in den Sonnenschein hinein beißen, oder in die Luft, die durch die Parks weht." In seinen Gedichten kommt seine sprachliche Ausdruckskraft fast noch mehr zur Geltung.

    Den Satz habe ich mir auch rausgeschrieben.

    Überhaupt finde ich das Buch toll, nur leider fehlt mir im Moment die zeit zum Eulen und zum Lesen.:cry