'Mittagsstunde' - Seiten 001 - 075

  • Da hast du natürlich recht, nur frage ich mich jetzt wirklich, was man anstellen muss, um dauerhaft geschnitten zu werden. Nur nicht "dem Schema" (welchem?) entsprechen? Ich kenne das eigentlich schon so, dass - wenn jemand Kontakt möchte - das an sich kein Problem ist - auch nicht auf dem Land. Natürlich muss man dazu aber auch rausgehen, offen auf Menschen zugehen und darf nicht in seiner Bude hocken und warten, bis jemand kommt - dann wird es natürlich schwierig. Aber auch das ist wohl überall so.

    Es reicht schon, in ein total katholisches/evangelisches Dorf zu ziehen und mit der Kirche nichts zu tun haben zu wollen. Dann noch ein wenig alternativ daherkommen und schon ist man suspekt. Geschnitten ist vielleicht zu krass, aber Anschluss zu bekommen wird sehr schwierig.

    Auch hier in der "MIttagsstunde" passiert das, hat eine andere Ursache, allerdings erklärt sich das erst in einem spätere Abschnitt.

  • Es reicht schon, in ein total katholisches/evangelisches Dorf zu ziehen und mit der Kirche nichts zu tun haben zu wollen. Dann noch ein wenig alternativ daherkommen und schon ist man suspekt. Geschnitten ist vielleicht zu krass, aber Anschluss zu bekommen wird sehr schwierig.

    Auch hier in der "MIttagsstunde" passiert das, hat eine andere Ursache, allerdings erklärt sich das erst in einem spätere Abschnitt.

    Das war mit Sicherheit früher (70 er, 80 er, keine Ahnung wie lange) in den meisten Orten so, kann ich mir gut vorstellen, aber heute sind die Menschen auf dem Land (Ausnahmen gibt es natürlich überall) genauso offen und tolerant wie in der Stadt.

  • Ja, da kann ich Zwergin nur zustimmen. (Abgesehen davon, dass man heute eher komisch angeguckt wird, wenn man gläubig ist. ;)) Nur bleiben die negativen Erfahrungen hängen und man schleppt sie lang mit sich, auch wenn sich mittlerweile doch vieles geändert hat.


    Was ich mir gestern überlegt habe: Wenn man aufs Dorf zieht, haben viele das Bedürfnis, zur empfundenen Dorfgemeinschadt dazuzugehören. Aber wer in der Stadt lebt, hat diese Gemeinschaft doch auch nicht und vermisst anscheinend auch nichts. Warum diese Diskrepanz?

    "Alles vergeht. Wer klug ist, weiß das von Anfang an, und er bereut nichts." Olga Tokarczuk (übersetzt von Doreen Daume), Gesang der Fledermäuse, Kampa 2021

  • Was ich mir gestern überlegt habe: Wenn man aufs Dorf zieht, haben viele das Bedürfnis, zur empfundenen Dorfgemeinschadt dazuzugehören. Aber wer in der Stadt lebt, hat diese Gemeinschaft doch auch nicht und vermisst anscheinend auch nichts. Warum diese Diskrepanz?

    Vielleicht ist es gerade diese Anonymität der Stadt, die viele Menschen aufs Dorf zieht in der Hoffnung, dort mehr Gemeinschaft zu erfahren, eben weil es dort nicht so viele Leute gibt und es einfacher ist, jemanden kennenzulernen.

  • Ich habe es endlich auch geschafft, das Buch anzufangen und war gleich in der gespenstischen Atmosphäre des Buches gefangen.

    Mich hat der Anfang sehr an den "Schimmelreiter" von Theodor Storm erinnert.

    Den habe ich vor kurzem mit dem kleinen Regenfischlein nochmal gelesen, der diese Novelle in der Schule durchgenommen hat.

    Ich mag Ingwer, der seine scheinbar graue Aura wie eine Last mit sich herumschleppt, der sich nicht aus der Sicherheit einer WG, die sich schon lange selbst überlebt hat, lösen kann und der sein Sabbatical dafür ntzen wird, sich um seine uralten Großeltern zu kümmern und um deren Gasthof, nutzen wird. Interessant, dass von der Mutter, Marret, nur in den allgemeinen Erzählungen die Rede ist und nicht in seinen Gedanken. Er ist vielleicht mehr bei den Großeltern aufgewachsen?

    Ich kann mir auch gut vorstellen, dass Ingwer vor allem von den Großeltern aufgezogen wurde. Marret scheint ganz in ihrer eigenen Welt zu leben, es klingt fast, als sei sie Autistin. Bisher wird das nur angedeutet, ich bin gespannt, welche Raum Marret in Ingwers Leben einnimmt.


    Mich rührt die enge Verbundenheit Ingwers zu seinen Großeltern. Hansen beschreibt die Verschiebung der Verantwortung sehr anschaulich und berührend.

    Die eigentliche Geschichte aber bleibt unerzählt, denn ihre wahre Sprache könnte nur die Sprachlosigkeit sein. Natascha Wodin

    Dieser Beitrag wurde bereits 1 Mal editiert, zuletzt von Regenfisch ()

  • Ich habe kleinere Höfe gar nicht erlebt. In der DDR wurde die Landwirtschaft schon Ende der 50er verstaatlicht. Es gab fast gar keine wirklichen Höfe mehr, jedenfalls bei uns in den Dörfern nicht.

    Ich bin in einem kleinen hessischen Dorf aufgewachsen. Es gab viele Bauern und nur zwei Straßen, die das "Neubaugebiet" bildeten. Dort lebten wir als Nichtbauern und Zugezogene.

    Ich habe als Kind das Dorfleben noch voll erlebt. Ich fand das toll, dass wir Kinder bei allem helfen durften, Traktor fahren konnten, ohne Uhr lebten. Aber ich habe auch die harten Arbeitszeiten der Bauern miterlebt, die mehr schlecht als recht von ihren Erträgen leben konnten, die nie Urlaub hatten und selten aus ihrem Dorf herauskamen. Es fuhr kaum ein Bus in die nächste Stadt. Ich war auch ein Kartoffelkind, das gefühlt länger im Schulbus saß als in der Schule.

    Mittlerweile sind die Felder verschwunden und sind bebaut worden. Das Dorf liegt in der Nähe der Autobahn, die nach Frankfurt führt, eine beliebte Anbindung. Einen Bauernhof gibt es heute wahrscheinlich nicht mehr.

    Die eigentliche Geschichte aber bleibt unerzählt, denn ihre wahre Sprache könnte nur die Sprachlosigkeit sein. Natascha Wodin

  • Ich habe es endlich auch geschafft, das Buch anzufangen und war gleich in der gespenstischen Atmosphäre des Buches gefangen.

    Mich hat der Anfang sehr an den "Schimmelreiter" von Theodor Storm erinnert.

    Den habe ich vor kurzem mit dem kleinen Regenfischlein nochmal gelesen, der diese Novelle in der Schule durchgenommen hat.

    Theodor Storms Novellen sind ja auch meistens recht düster und beklemmend und nehmen kein gutes Ende. Nichts desto trotz einer meiner Lieblingsschriftsteller der früheren Generation.


    Ich sehe, Du hast Natascha Wodin in Deiner Signatur. Ihre Bücher mag ich auch sehr.

  • Hmm, ich kann nicht anders, als einen Lehrer, der dem Schüler das Heft um die Ohren schlägt und ihn in der nächsten Stunde für das kaputte Heft bestraft, als negativ zu empfinden.

    Und der Lehrer, der in der Pause liebevoll über den Kopf streichelt und jedem Schüler am Ende der Schulzeit einen persönlichen Brief schreibt? Ich will auf keinen Fall die Schläge rechtfertigen, aber auch auf die liebevolle Seite des Lehrers hinweisen.

    Die eigentliche Geschichte aber bleibt unerzählt, denn ihre wahre Sprache könnte nur die Sprachlosigkeit sein. Natascha Wodin

  • Erstaunt nehme ich wahr, dass viele von euch Leben im Dorf als sehr beengt wahrgenommen haben oder noch wahrnehmen. Das hat mich dann zum Nachdenken angeregt und ich empfinde gerade große Dankbarkeit, dass das bei mir nie der Fall war und ist.

    Ich bin mit 12 Jahren in eine Stadt umgezogen und empfand die Anonymität als wirkliche Enge. Auf dem Dorf durfte ich tagsüber umherstreifen und mehr oder weniger machen, was ich wollte, zumindest bis 17 Uhr, dann mussten meine Schwester und ich nach Hause. Im Grunde waren wir überall zu Hause, denn alle Gartentörchen und Hoftore waren offen, auch die Wohnhäuser waren unverschlossen. Wir wussten genau, wann wer Kuchen backte, wo es noch Reste vom Mittagessen gab usw.

    In der Statdt gab es dies für uns dann nicht mehr. Allerdings ist das auch eine fürchterliche Umgebung, in die ich zum Glück nur noch selten hin muss.

    Heute genieße ich das Leben in einer Kleinstadt. Dörflich genug, um beim Bäcker etwas zu tratschen, auf dem Markt Bekannte zu treffen... und groß genug, um die Infrastruktur einer Stadt zu haben und unliebsamen Menschen aus dem Weg gehen zu können.

    Die eigentliche Geschichte aber bleibt unerzählt, denn ihre wahre Sprache könnte nur die Sprachlosigkeit sein. Natascha Wodin

  • Und der Lehrer, der in der Pause liebevoll über den Kopf streichelt und jedem Schüler am Ende der Schulzeit einen persönlichen Brief schreibt? Ich will auf keinen Fall die Schläge rechtfertigen, aber auch auf die liebevolle Seite des Lehrers hinweisen.

    Ich gestehe zu, der Lehrer hat auch positive Seiten. Ich will ihm auch ganz sicher nicht vorwerfen, er würde seinen Job nicht ernst nehmen, im Gegenteil. Ich bin mir sicher, dass er das tut und eigentlich das Beste für seine Schüler will. Aber seine pädagogischen Fähigkeiten halte ich für zumindest hinterfragungswürdig.

  • Was ich mir gestern überlegt habe: Wenn man aufs Dorf zieht, haben viele das Bedürfnis, zur empfundenen Dorfgemeinschadt dazuzugehören. Aber wer in der Stadt lebt, hat diese Gemeinschaft doch auch nicht und vermisst anscheinend auch nichts. Warum diese Diskrepanz?

    Ich denke, dass es mit dem Grundbedürfnis nach Gemeinschaft zu tun hat. Das liegt uns wahrscheinlich noch urgeschichtlich im Blut, denn Gemeinschaft bedeutet Schutz und Hilfe in Notsituationen und Gefahr.

    Ich denke, dass das viele Menschen auch in der Stadt haben, unterschiedlich ausgeprägt, es dort aber weitgehend ruht. Trotzdem suchen sich auch Städter Gemeinschaften, Vereine, Gruppen, die sich regelmäßig treffen und wo enge Kontakte und Freundschaften entstehen, so etwas wie ein kleines "Dorf" mitten im Stadtleben.

  • Mich rührt die enge Verbundenheit Ingwers zu seinen Großeltern. Hansen beschreibt die Verschiebung der Verantwortung sehr anschaulich und berührend.

    Weiter hinten habe ich das ähnlich beschrieben. Vielleicht hat die Autorin da auch selbst Erfahrungen gemacht, denn was sie schreibt, ist sehr echt und wirklichkeitsnah.


    Heute genieße ich das Leben in einer Kleinstadt. Dörflich genug, um beim Bäcker etwas zu tratschen, auf dem Markt Bekannte zu treffen... und groß genug, um die Infrastruktur einer Stadt zu haben und unliebsamen Menschen aus dem Weg gehen zu können.

    So ähnlich sieht für mich auch der Idealzustand aus. Auch ich bin auf dem Dorf groß geworden, allerdings wollte ich weg, auch wenn ich eine wirklich schöne Kindheit hatte.

  • Ich denke, dass es mit dem Grundbedürfnis nach Gemeinschaft zu tun hat

    Ich würde es noch frühgeschichtlicher ausdrücken.

    Der Mensch ist ein Herdentier und sucht nach seinesgleichen. Die kleinste Einheit wäre eigentlich die Familie aber Großfamilien gibt es in Städten immer weniger. Dies wird durch andere Gruppen kompensiert. (Früher gingen zwei Handvoll Jäger auf die Pirsch - heute spielen sie am Sonntag zusammen Fußball und jagen den Ball. :lache)

    Deshalb ist es auch heute noch schwer in kleine Dorfgemeinschaften reinzukommen. Man ist immer der Fremde (der Feind sozusagen).

    Hollundergrüße :wave




    :lesend








    (Die Freiheit des Menschen liegt nicht darin, daß er tun kann, was er will, sondern daß er nicht tun muß, was er nicht will - Jean Rousseau)

  • Deshalb ist es auch heute noch schwer in kleine Dorfgemeinschaften reinzukommen. Man ist immer der Fremde (der Feind sozusagen).

    Das kann ich für mich nicht unbedingt bestätigen.

    Aufgewachsen bin ich in einer Großstadt, allerdings in Vororten, nicht direkt citynah. Bin dann als junge Erwachsene aufs Dorf gekommen und kann mich an keine Eingewöhnungsprobleme erinnern (inzwischen wohne ich dort nicht mehr, sondern in einer Kleinstadt), hab aber auch heute noch nette Kontakte dorthin. Ich bin damals bewusst auf die Leute zugegangen, in Vereinen und Veranstaltungen gewesen, und hilfreich war sicher auch, dass ich dort mein Kind großgezogen habe. Wenn man einen Kinderwagen rumschiebt, kriegt man schneller Kontakt :-].

  • Ich spreche nicht aus eigener Erfahrung. Ich bin eine Stadtpflanze. Aber meine Mutter kommt aus einem Dorf, einige meiner engsten Familienmitglieder leben noch dort und einige Freunde sind aus München weggezogen wegen der Wohnsituation. Und viele Neuzugezogene hatten Probleme mit der Eingewöhnung ober blieben über viele Jahre fremd. Ja, Kinder sind hilfreich. Und Vereine sicher auch. Kommt sicher auch darauf an, ob das Dorf wirklich aus Alteingesessenen besteht oder schon viele Zuagroaste dort wohnen. :) Ist wohl eine Verallgemeinerung von mir gewesen, die NICHT auf ALLE zutrifft. Gott sei Dank.

    Hollundergrüße :wave




    :lesend








    (Die Freiheit des Menschen liegt nicht darin, daß er tun kann, was er will, sondern daß er nicht tun muß, was er nicht will - Jean Rousseau)

  • Ja, Kinder sind hilfreich. Und Vereine sicher auch. Kommt sicher auch darauf an, ob das Dorf wirklich aus Alteingesessenen besteht oder schon viele Zuagroaste dort wohnen. :) Ist wohl eine Verallgemeinerung von mir gewesen, die NICHT auf ALLE zutrifft. Gott sei Dank.

    So ist es. Auch die Zeit spielt eine Rolle, wie es vor 30/40 Jahren war ist es heute nicht mehr. Durch die vielen neuen Baugebiete haben sich die Dorfstrukturen und somit auch die meisten Dörfler verändert.

  • So ist es. Auch die Zeit spielt eine Rolle, wie es vor 30/40 Jahren war ist es heute nicht mehr. Durch die vielen neuen Baugebiete haben sich die Dorfstrukturen und somit auch die meisten Dörfler verändert.

    Da hast du auf alle Fälle recht Findus. Man kann das Dorfleben, so wie es im Buch beschrieben wird, nur noch sehr bedingt mit dem heutigen vergleichen. Ich danke euch sehr für eure ganz persönlichen Eindrücke, für mich bereichert das die Leserunde ungemein :knuddel1. Jeder empfindet da ganz unterschiedlich, das war mir zwar vorher auch klar, aber es so zu Lesen ist dann doch nochmal was anderes.


    Was mir mittlerweile noch dazu eingefallen ist: neben den eigenen Erwartungen dazu spielt wohl auch die Freiwilligkeit eine ganz große Rolle. Jemand, der sich bewusst dafür entscheidet, aufs Land zu ziehen oder dort zu bleiben wird wohl eher Anschluss suchen (und damit auch finden) als jemand, der nur wegen Wohnungsnot/Partner/finanzielle Gründe ... mehr oder weniger unfreiwillig dort landet. Dann ist natürlich alles blöd. Umgekehrt gilt beim Stadtleben natürlich das Gleiche.

    "Alles vergeht. Wer klug ist, weiß das von Anfang an, und er bereut nichts." Olga Tokarczuk (übersetzt von Doreen Daume), Gesang der Fledermäuse, Kampa 2021