Gendern - notwendig oder nervig?

  • Es ist eine Form von Respekt, andere so zu nennen wie sie genannt werden möchten.

    Genau wegen solcher Argumente ziehe ich mich inzwischen schnellstmöglich aus Diskussionen wie diesen zurück.


    Diese Argumentation, die eigentlich eine rhetorische Figur ist, impliziert nämlich zweierlei:


    1. Du bist respektlos gegenüber "anderen" (meistens ist eine irgendwie geartete, mehr oder weniger heterogene Gruppe gemeint, die sich von der ebenfalls heterogenen Metagruppe - also der Gesellschaft - durch bestimmte Merkmale unterscheidet), wenn Du dem nicht folgst. Das fällt in eine ähnliche Sparte wie das schillernde Bild von den religiösen Gefühlen, die man verletzt, wenn man sich z.B. als Atheist blasphemisch (oder auch nur religionskritisch) verhält, was eine oxymorotische Verhaltensweise wäre (einen nicht existenten Gott kann man nicht lästern), und außerdem gehen einem, wenn man Atheist ist, sämtliche Gottheiten und Religionen am Gesäß vorbei, während es für solche, die ihnen zugeneigt sind, jeweils eine Gottheit oder Religion weniger ist. Diese Behauptung, man wäre respektlos gegenüber der Gruppe, wenn man sich nicht an die Regeln hält, deren Einhaltung die Gruppe (vermeintlich, tatsächlich stimmt das beim Gendern nicht) verlangt, kommt einer soziologischen Armutserklärung zumindest nahe, denn Einseitigkeit verneint Diskurse und Konsensfindung. Außerdem lädt sie emotional auf, wie man quasi in Sekundenschnelle erleben kann, wenn man Begriffe wie "gendern" nur fallen lässt, und das ist eben der Tatsache geschuldet, dass es einen Anspruch auf elementare Wahrheit zu geben scheint, dass selbsternannte Vertreter einer Gruppe etwas einfordern, dessen Verneinung sie als Verneinung der Gruppe(nrechte) insgesamt auslegen. Außerdem vermengt dieses Argument Sprachgebrauch und -bedeutung.


    2. Dieses Argument entstammt der Diskriminierungsdiskussion, die indigene Völker, afrikanischstämmige Menschen und ähnliche Gruppen betrifft, für die es tatsächlich diverse explizite Bezeichnungen gibt, davon tatsächlich nicht wenige, die diskriminierend und herabwürdigend sind oder waren. Wenn Menschen mit dunkler Hautfarbe einfordern, bitte nicht mit dem N-Wort bezeichnet zu werden, bin ich vollständig auf der Seite dieser Argumentation, denn wenn es schon nötig ist (woran ich tatsächlich meine Zweifel habe), Menschen einen Gruppenbegriff aufzupflanzen, weil sie ein körperliches Merkmal teilen, dann sollten diese Menschen bitteschön auch (mit)bestimmen dürfen, wie diese Begrifflichkeiten ausfallen, konnotiert sind, historisch-linguistisch einzuordnen sind usw. usf. - aber auch hier sei der Verweis auf 1. zumindest vorsichtig gestattet. Es ist meiner Überzeugung nach nicht so, dass jemand sofort ein Rassist, Ableist, xenophob oder ähnlich unterwegs ist, nur weil er eine Begrifflichkeit verwendet, die inzwischen als gebrandmarkt gilt, was heutzutage manchmal eine Sache von nur wenigen Minuten ist.

    Anders als beim Gendern, denn hier geht es nicht um einzelne Bezeichnungen, sondern um die gesamte Sprache, der man Ungerechtigkeit unterstellt, weil bei vielen (übrigens längst nicht allen) Oberbegriffen vermeintlich nur Männer angesprochen werden. Das leitet man davon ab, dass der männliche Singular in der Konkretisierung des Begriffs dem generischen Plural entspricht. Ich halte diese Behauptung für falsch, denn es ist eben die Aufgabe von Oberbegriffen, alle zu meinen, zu abstrahieren und eben nicht zu konkretisieren. Es sind auch viele andere Gruppenunterscheidungen und Merkmale in Oberbegriffen nicht abgebildet, was daran liegt, dass das semantisch einfach keinen Sinn hat - Oberbegriffe sind semantische und syntaktische Kompromisse. "Ärzte" aber sind einfach alle Menschen, die dieser Tätigkeit nachgehen, gleich welchen Geschlechts diese Menschen sind, wo sie herkommen, was sie glauben, welchen Alters sie sind, welche körperlichen, geistigen und weiteren Merkmale sie haben, wo sie gerade wohnen oder vorher gewohnt haben. Wenn man der Argumentation folgt, dass der Begriff "Ärzte" eigentlich nur weiße, alte Männer bezeichnet, die im strahlenden Chirurgenkittel für tausend Euro pro Sekunde ästhetische Operationen an Milliardärsgattinnen vornehmen, wohingegen alle anderen Menschen, die dieser Profession nachgehen, vor allem, wenn sie keine Männer sind, höchstens gönnerhaft "mitgemeint" werden, eröffnet man nicht nur ein Problemfeld, das für die meisten Menschen keines ist, sondern nimmt auch etwas als wahr an, über das sich sehr intensiver Streit zumindest lohnt. Vor allem aber ist die Perspektive dieser Denkrichtung eine sehr problematische, denn wenn der Versuch unternommen wird, (erst) eine Sprache zu schaffen, die angeblich immer alles mitmeint (statt das den Sprechenden zu überlassen), verlagert man das Mehrheitsprinzip, das der Sprachgestaltung vermeintlich zugrundelag, nur zu Gunsten derjenigen, die jetzt eine Lobby haben. Alle anderen werden nachrücken, und am Ende streiten wir intensiv und bis aufs Blut über Formalitäten (die allerdings alle Menschen im Alltag behindern), während die gelebte Diskriminierung gemütlich weiterkocht und den misogynen Arschlöcher*innen Kanonenfutter für ihre Stammtische geliefert wird.


    Unter anderem aus diesen Gründen nehme ich an solchen Diskussionen nicht mehr teil, und ich rechtfertige meine Überzeugungen auch nicht mehr so häufig. Denn in den Repliken wird höchstens auf einen kleinen Teil der Argumentation eingegangen, wenn überhaupt. Es ist ein hochemotionales Thema, und das ist auch die Absicht der Menschen, die das propagieren. Gegen Gefühle, ob nun echte oder behauptete, sind keine Argumente möglich.


    Ich verweise noch einmal auf den guten Kommentar, den ich weiter oben verlinkt habe. Und noch einmal zur Klarstellung: Es ist sehr, sehr wichtig, dass Strukturen aufgebrochen werden, dass der stark in der Gesellschaft verankerten Misogynie, die es immer noch gibt, entgegengetreten wird, aber diese "Ach so, Frauen können das auch"-Sprachum- und -fehlgestaltung ist (nicht nur) meiner Überzeugung der falsche Weg dorthin.

  • Marlowe na ich kenne genug Frauen, die jeder und jedem für das eigene Vorteil im Berufsleben ans Bein pinkeln. Natürlich gibt es auch andere Frauen, aber ich schaffe lieber mit Männern, mit offenem Visier und klarem "Hochdeutsch" und wenn was nicht gut läuft, sagen, ändern, geregelt und weiter geht es ohne Nachtragen oder Nachtretten - wobei es auch Männer gibt, die dazu nicht in der Lage sind... vielleicht ist es somit kein "Geschlechterthema" sondern einfach eines wie der Mensch an sich ist.


    Aber Gendern - ich finde das "nervig" ja ich bin gelernte Kauffrau, brauche aber für mich um z.B. eine Stellenanzeige für mich passig zu finden da kein m/w/d drin oder die Schreibversion Disponent*in / Kauffrau/-mann.


    Ich bin auch keine Verfechterin der Frauenquoten, denn eigentlich sollte Leistung und Einsatz und Ergebnisse zählen. Aber leider tut es das oft aufgrund von Seilschaften schon nicht.
    Aber mittlerweile vernetz sich ja auch die Frauenwelt im Beruf viel besser und somit werden irgendwann - wohl nicht mehr in meinem Berufsleben schätze ich, solche Diskussionen ob m/w/d ein Thema sein, sondern eher "der Mensch kann seinen Job" wird zählen.

    Muff Muff Muff dat Muffelinchen


    Leben ist was uns zustößt, während wir uns etwas ganz anderes vorgenommen haben. (Henry Miller)

  • Es ist eine Form von Respekt, andere so zu nennen wie sie genannt werden möchten. Und ich kann meine Meinung/Lebensweise nicht als Maß aller Dinge nehmen oder sie zur "Normalität" erklären.

    Das ist mir auch ganz wichtig. Bei Beachtung dieses Grundsatzes kann man dann gar nicht mehr so viel falsch machen.


    In vieler Hinsicht sind die alten männlichen Bezeichnungen einfach Gewohnheitssache und viele stören sich dran, wenn Gewohntes verändert wird.

    Gar wenn dadurch vermeintliche oder echte Vormachtstellungen angekratzt werden.


    Ich gestehe, mir war früher das gendern nicht besonders wichtig. Meine Meinung darüber habe ich durch viele Diskussionen mit Frau Tocher geändert.

    Und nach der Lektüre von Kristin Kopfs klugem Buch "Das kleine Etymologicum" und den zum Teil hasserfüllten Kommentaren, die sie für die dort verwendete Verwendung von Personenbezeichnungen bekommen hat.

    Es ist also offenbar doch etwas anderes, wenn Frauen sich als mitgemeint fühlen soll, und wenn man Männern das zumutet.

  • Und nach der Lektüre von Kristin Kopfs klugem Buch "Das kleine Etymologicum" und den zum Teil hasserfüllten Kommentaren, die sie für die dort verwendete Verwendung von Personenbezeichnungen bekommen hat.

    Ich kann mich heute nur kurz melden, aber du hast mich auf das Buch neugierig gemacht - und ich hab es mir auf die Wunschliste gesetzt, nachdem ich die Kommentare überflogen habe. Du meine Güte!

  • Es ist eine Form von Respekt, andere so zu nennen wie sie genannt werden möchten.

    Wenn aufgrund einer behaupteten und keineswegs von allen "Mitgliedern" oder auch nur einem Großteil der Gruppenangehörigen geteilten, logisch zweifelhaften bzw. kaum nachvollziehbaren, in der Hauptsache unterstellten verbalen Diskriminierung von allen - und zwar einseitig - gefordert wird, eine die Kommunikation erschwerdende, nach Auffassung nicht weniger sinnlose, unästhetische und sogar nach Auffassung einiger Feministinnen (s.o.) kontraproduktive Veränderung der gesamten Sprache vorzunehmen, an der, wohlgemerkt, nur wenige immanente Diskriminierungselemente entdeckt haben, während sie fast alle sehr effektiv so nutzen und genutzt haben, wie sie gedacht ist, nämlich als strukturell neutrales Werkzeug der Kommunikation, über dessen Konnotation die Verwender entscheiden, dann ist es keine Form von Respekt, dieser einseitigen Forderung nachzukommen, sondern höchstens ein sehr armseliges Kleinbeigeben, weil man sonst Konsequenzen fürchtet, wie sie allenthalben zu erleben sind. Und es ist umgekehrt, wie ich finde, ein Verhalten, das normalerweise eher Arschlöcher auszeichnet, wenn man dahergeht und sagt, dass derjenige, der sich an diese einseitige Forderung nicht hält, automatisch respektlos wäre.


    Wenn das Gendern als symbolischer Akt eingesetzt wird, um auf die unaufhörliche und längst nicht beseitigte Misogynie und die an vielen Stellen noch vorzufindende, diskriminierende Ungleichbehandlung von Frauen oder diversen Menschen hinzuweisen, dann ist es zu begrüßen. Wenn man es aber von allen einfordert und im gleichen Atemzug behauptet, jene, die sich verweigern, wären respektlos und würden im Prinzip die Sache ablehnen, wären also misogyn, dann grenzt das m.E. an asoziales Verhalten und ersetzt die eine Gewalt durch eine andere.

  • Das Thema treibt mich aktuell auch um. Bisher war das Gender-Thema für mich eher theoretischer Natur. Ich habe die Diskussionen darum in der Presse und den Medien verfolgt, bin damit aber kaum in Berührung gekommen. Im Laufe diesen Jahres hat sich aber eine Person aus meinem Bekanntenkreis dazu bekannt, sich emotional weder mänlich noch weiblich zu fühlen. Zusätzlich bat sie darum, nicht mehr bei ihrem - eindeutig als weiblich zu erkennenden - Vornamen genannt zu werden. Sie hat sich einen - für mich eher sächlich klingenden - Namen ausgesucht, mit dem sie im direkten persönlichen Gespräch angesprochen werden möchte. Ob ich nun bei einem Treffen sage "Hallo Hans-Peter/Irmgard/whatever wie gehts dir?" sage ist mir ehrlich gesagt schnuppe. Über die Namensänderung kann ich mir meinen Teil denken, es ist der Wunsch dieser Person und ich versuche dem nach Möglichkeit nachzukommen.


    Beruflich treibt es mich zuweilen in den Wahnsinn. Ich empfinde es teilweise unheimlich anstrengend umfangreiche geschlechtsneutrale Texte zu formulieren, in denen auch ja wirklich alle Eventualitäten und - ich nenne es jetzt einfach mal ganz platt so - Befindlichkeiten abgeklopft werden. Für die Anrede "Liebe Kolleginnen und Kollegen" in einer Rundmail bin ich vom hiesigen Gleichstellungsbeauftragten abgewatscht worden. Wohlgemerkt - es gab keine offizielle Beschwerde bzgl. der Anrede in dieser E-Mail. Aber "um dem vorzubeugen".... Letztlich aktzeptiert wurde die Formulierung "Liebe Mitarbeitende". Es mag korrekt sein, hört und fühlt sich für mich aber ganz falsch und sehr distanziert an. Ich stoße da eindeutig an meine Grenzen und werde schauen, ob es dazu im nächsten Jahr Schulungen gibt, mit denen ich mich in dem Punkt fitter machen kann.

    In diesem Punkt bin ich dann bei Batcat und denke mir auch "Sonst haben wir keine Probleme?"

    Nur von gleichgeschlechtlicher Sprache lösen sich aber bspw. die unterschiedlichen Bezahlungen in einigen Berufen nicht in Luft auf und die Sprache ist da auch nicht das Hauptproblem.


    Während der Corona-Zeit las ich in der online Ausgabe des Spiegels einen Artikel über die Ausstattung der Arztpraxen. Es wurde abwechselnd von Hausärztinnen und Hausärzten gesprochen. Der Text war unheimlich anstrengend zu lesen, gerade weil er nicht einheitlich geschrieben war.


    Daraus entwickelt sich dann für mich die Frage, wem das Gendern denn letztlich nützt?

    Ich bin nicht per se dagegen, aber ich kann auch nicht erkennen, dass es wirkliche Probleme aus der Welt schafft. Eher im Gegenteil. Ich finde, es verkompliziert vieles.

  • ich würde mich weigern "Liebe Mitarbeitende" zu schreiben, weiss doch jeder, dass es immer Kolleg*innen gibt, die genau das nicht tun. Es wäre also verlogen, es denn, ich schreibe: Liebe wirklich Mitarbeitende, aber wer macht das schon.:)

    Schon der weise Adifuzius sagte: "Es gab und gibt schon immer Recht und Unrecht, leider bekommen die Unrechten fast immer Recht." :chen

  • In diesem Punkt bin ich dann bei Batcat und denke mir auch "Sonst haben wir keine Probleme?"

    Nur von gleichgeschlechtlicher Sprache lösen sich aber bspw. die unterschiedlichen Bezahlungen in einigen Berufen nicht in Luft auf und die Sprache ist da auch nicht das Hauptproblem.


    .....


    Daraus entwickelt sich dann für mich die Frage, wem das Gendern denn letztlich nützt?

    Ich bin nicht per se dagegen, aber ich kann auch nicht erkennen, dass es wirkliche Probleme aus der Welt schafft. Eher im Gegenteil. Ich finde, es verkompliziert vieles.

    Danke Nyx


    du hast das auf den Punkt gebracht, was ich seit Beginn der Diskussion versuche in Worte zu kleiden.

  • Nur von gleichgeschlechtlicher Sprache lösen sich aber bspw. die unterschiedlichen Bezahlungen in einigen Berufen nicht in Luft auf und die Sprache ist da auch nicht das Hauptproblem.


    Das ist sicher so, was dabei vergessen wird, ist, wie sehr die Sprache das Denken, das Handeln und dann auch die Realität beeinflusst.



    Und es ist nicht etwas an unserem Sprachgebrauch deswegen gut und richtig, weil wir es schon immer so gemacht haben. Unsere Sprache hat sich schon immer verändert und verändert sich ständig.

    Leicht daran zu erkennen, dass mittelhochdeutsche Texte fast als Fremdsprache erscheinen.

  • Das ist sicher so, was dabei vergessen wird, ist, wie sehr die Sprache das Denken, das Handeln und dann auch die Realität beeinflusst.



    Und es ist nicht etwas an unserem Sprachgebrauch deswegen gut und richtig, weil wir es schon immer so gemacht haben. Unsere Sprache hat sich schon immer verändert und verändert sich ständig.

    Leicht daran zu erkennen, dass mittelhochdeutsche Texte fast als Fremdsprache erscheinen.

    Gar keine Frage. Sprache ist flexibel und wandelbar. Das soll sie auch sein und darüber bin ich auch froh. Ich hätte einige Probleme in meinem Job, müsste ich mich wie einst Walther von der Vogelweide ausdrücken.

    Nicht, dass jetzt ein falscher Eindruck entsteht - ich bin absolut dafür Althergebrachtes zu hinterfragen und neu zu bewerten!


    Ich gestehe aber, dass ich sehr arge Zweifel daran habe, dass eine geschlechterneutrale Sprache Einfluss auf Rollenbilder oder gerechterer Bezahlung hat. "Sprache als Waffe" zur Veränderung - ich habe meine Zweifel daran.


    Marlowe

    Ich war mit der Formulierung auch sehr unglücklich. Einfach weil es so sehr distanziert klingt und ich nicht das Gefühl habe, die Personen auch wirklich anzusprechen und abzuholen.

    Bei dem von dir genannten Mitarbeiter-Kreis wäre ein freundliches "Liebe körperlich Anwesende" sicherlich die treffendere Anrede gewesen :saint:

  • Das Gendern ist längst nicht nur etwas, das man aus Höflichkeit oder Respekt macht oder aufgrund des Fehlens dieser Eigenschaften verneint oder ablehnt. Das Gendern ist Uniform und Speerspitze einer überwiegend digital organisierten, sehr heterogenen Bewegung, die in den soziologischen Fakultäten der Unis dieser Welt geboren wurde und deren Ziel darin besteht, das für sich selbst (oder andere, denen man sich als digitaler Söldner anschließt) als wahr und richtig erkannte (oder auch nur so bezeichnete) dem Rest der Gesellschaft aufzuzwingen, und zwar durchaus überwiegend gewaltsam. Das Arsenal zur Erreichung u.a. dieses Ziels besteht aus vernichtenden Shitstorms, gesellschaftlichen Ächtungskampagnen und wütenden Attacken vielschichtiger Art. Es kursieren Sharepics mit der Überschrift "Was alles in den braunen Müllsack gehört", und auf dem braunen Säckchen steht dann unter anderem in Versalien "Gendern-Verweigerung". Ich finde es schön, dass wir hier so sachlich (und äußerst untypisch) und voller Empathie für die vermeintlichen Opfer der vermeintlich diskriminierenden Sprache diskutieren, aber wenn man die Welt da draußen - vor allem eben die digitale Welt - betrachtet und sich anschaut, was mit (vor allem etwas prominenteren) Leuten geschieht, die sich dem verweigern oder auch nur Kritik zu äußern wagen, dann versteht man, warum die einen eingeschüchtert mitmachen und sich die anderen aus dem digitalen Mikrokosmos erschöpft zurückziehen (wenn sie sich das leisten können). Das Problem ist ein viel größeres als das der Geschlechtergerechtigkeit, die übrigens in Gesellschaften mit vermeintlich gerechterer Sprache genauso gut oder schlecht verwirklicht ist wie hierzulande (meistens aber schlechter). Wir stehen in einem sehr grausamen Krieg, bei dem es um die westglobale digitale Meinungsführerschaft geht, mit Auswirkungen für alle gesellschaftlichen Bereiche, zuvorderst aber für Kunst und Politik. Nachrichten über erfolgreiche Feldzüge gibt es täglich, und obwohl dieser Text bei "Spiegel online" leider hinter einer Paywall steckt, ist er ein weiteres Exempel für diese Vorgänge, und wäre Rowling nicht die erfolgreichste Autorin der Welt, hätte sie ihr Verlag längst hinrichten lassen. Es gibt längst keinen Diskurs mehr, sämtliche Argumente verklingen ungehört. Es gibt das Diktat der digitalen Terroristen, die von sich meinen, die Wahrheit zu kennen, und die anderen, die über Kurz oder Lang diesem Diktat zum Opfer fallen werden oder schon gefallen sind. Dazu gehören Ächtungen von Künstlern, dazu gehört alles, was - plakativ oder auch im Stillen (das sind die schlimmeren Fälle) - zur "Cancel Culture" gezählt werden muss, dazu gehören Denunziantentum, Bevormundung, aber auch politisch motivierte Eingriffe in Erziehung und Ausbildung, in erster Linie und im Zentrum aber ein Regelwerk, das einzuhalten ist, wenn man zu den Guten gehört, und dessen Nichteinhaltung ohne Anklage und Prozess auf den Scheiterhaufen führt. Das ist nicht nur vor dem Hintergrund der Schicksale bedauerlich, sondern vor allem mit Blick darauf, dass die Ziele, um die es gehen sollte, damit ebenfalls instrumentalisiert werden, und zum Zweck missraten.


    Ich bin in großer Sorge darüber, wo das hinführen wird, aber ich habe keine Zweifel daran, dass wir das Ziel dieser zweifelhaften Kampagne erleben werden.


    Unsere Welt ist ungerecht, sie ist rassistisch, ableistisch, misogyn und vieles mehr. Wir müssen unser Verhalten ändern, um das zu korrigieren, und nicht unsere Sprache. Und wir müssen einander davon überzeugen, dass diese Probleme bestehen und zu beseitigen sind, und uns nicht gegenseitig dazu mit Gewalt zwingen.

  • Ich würde es nicht ganz so drastisch formulieren, Tom.


    Edit:

    Ich habe den Beitrag gelöscht und nur den Satz stehen lassen, auf den sich Toms Antwort unten bezieht.

    Es ist für mich besser, mich hier aus derartigen Diskussionen herauszuhalten.

  • was mit (vor allem etwas prominenteren) Leuten geschieht, die sich dem verweigern oder auch nur Kritik zu äußern wagen, dann versteht man, warum die einen eingeschüchtert mitmachen und sich die anderen aus dem digitalen Mikrokosmos erschöpft zurückziehen (wenn sie sich das leisten können). Das Problem ist ein viel größeres als das der Geschlechtergerechtigkeit, die übrigens in Gesellschaften mit vermeintlich gerechterer Sprache genauso gut oder schlecht verwirklicht ist wie hierzulande (meistens aber schlechter).


    Wo ich dir, Tom unbedingt zustimme ist die Kreuzzugsmentalität manchen Protagonisten, die nur dazu da ist, andere einzuschüchtern, zu beleidigen und niederzumachen.

    Um Argumente geht es da nicht mehr.

    Es betrifft leider viel mehr als die Frage gendern oder nicht gendern.

    Offenbar ist in vielen Bereichen die Fähigkeit, zuzuhören (oder gründlich zu lesen) und sich mit dem, was gesagt oder geschrieben wird, auseinanderzusetzen, verlorengegangen.

    Wenn ich feststellen muss, dass einfach nicht mehr unterschieden wird, ob jemand eine Meinung vorträgt oder überprüfbare Fakten und alles unterschiedslos als "Meinungsfreiheit" verkauft wird, dann ist mir angst und bange.


    Ich gestehe aber, dass ich sehr arge Zweifel daran habe, dass eine geschlechterneutrale Sprache Einfluss auf Rollenbilder oder gerechterer Bezahlung hat. "Sprache als Waffe" zur Veränderung - ich habe meine Zweifel daran.


    Das ist eine der Fragen, die ich äußerst interessant finde. Wie wird unser Denken durch die Sprache beeinflusst und wie verändert Denken die Sprache. Da kann man sowohl bei den Sprachwissenschaftlern als auch bei den Hirnforschern die tollsten Dinge finden.

    Letztlich die alte Frage, beeinflusst das Sein das Bewusstsein oder ist es viel mehr umgekehrt.


    Es hängt wohl untrennbar zusammen.

  • Ich bin mir nicht sicher, ob ich wirklich von digitalen Terroristen sprechen würde. Dafür ist mir das Thema in seiner Gesamtheit und Komplexität in meinem Leben nicht präsent genug. Ich stolpere immer mal wieder darüber, ich ärgere mich immer mal wieder darüber und ich lese bestimmte Teilaspekte nach um bei manchen Sachen überhaupt zu wissen, worum bei dem neuesten Aufschrei denn nun schon wieder geht. Und ja, da ist eine gewisse Genervtheit meinerseits dabei, das gebe ich gerne zu.


    Man muss übrigens kein Person des öffentlichen Lebens sein, damit man den virtuellen Kübel Mist über dem eigenen Kopf ausgekippt bekommt. Erinnert sich noch jemand an die britische Mutter, die in den sozialen Medien die Geschichte teilte, wie sie ihrem Kind die Geschichte von "Father Christmas" vorlas und daraufhin einen Shitstorm erster Güte auslöste? (Der Weihnachtsmann habe geschlechtslos zu sein) Und mich selbst hat es auch schon getroffen. Ich habe auf einen Facebook-Beitrag geantwortet, dass ich mich bei der Anrede "Sehr geehrter Kunde" genauso angesprochen fühle wie bei "Sehr geehrte Kundin" oder "Sehr geehrte Frau". Was mir da als Antworten um die Ohren flog, war.... nun ja, zumindest interessant. Mir war bis dahin gar nicht bewusst, dass ich zwar biologisch eine Frau sein darf, mich aber bitte nicht wie eine zu fühlen habe oder mich mit einem fest definierten Geschlecht zu identifizieren habe.

    Das ganze unter dem Deckmantel einer neutralen Sprache, die "alle Geschlechter sieht und sich niemand ausgegrenzt fühlen soll".


    Da wären wir dann wieder bei einer Art Kreuzzug und dem fehlenden Diskurs. Was ich an sich schade finde. Denn ich denke schon, dass dieses ganze Thema durchaus eine Bereicherung für unsere Sprache darstellen könnte. Oder etwas in veralteten Strukturen bewegen könnte. Aber nicht mit diesem verbissenen Suchen nach dem nächsten Aufreger.

  • Diese Woche fuhr ich hinter einem Schreinerwagen her auf dem stand:
    Schreiner/Schreinerinnengeselle gesucht oder was für ein Geschlecht auch immer.

    Tatsächlich scheint mir die ganze Shitstorm-Geschichte eine grundsätzliche Entwicklung zu sein, die zu egal welchem Thema stattfindet. Wer laut sein möchte, hat dazu heute viel bessere Möglichkeiten als den Leserbrief in der Zeitung, den man vor 20 Jahren in aller Ruhe mit Klarnamen geschrieben hat.

    Beim Gendern habe ich den Eindruck, es zerfleischen sich in der Diskussion diejenigen, denen es wichtig ist.
    Das Merkwürdige, es kommt mir vor, als wären es die, denen es mit dem gleichen Ziel wichtig ist. Und dann frage ich mich immer, warum es nicht möglich ist, es einfach gut sein zu lassen.

    Es gibt so viel Lärm in dieser Welt, so viel wichtige Themen. Gendern ist ein Versuch etwas in eine positive Richtung zu ändern. Meinetwegen, ausprobieren. Aber nicht zu lange drüber diskutieren, das macht es zu mehr, als es ist. Es ist nur ein kleines Teilchen vom Weg zum Ziel und es gibt sicherlich viele Wege, die man gehen kann.
    Aber vielleicht sehe ich das auch zu einfach...

  • Warum sollten sich auch diejenigen zerfleischen, denen es nicht wichtig ist ;)?

    Sie sind diejenigen, die ihr Ding machen und zwar geräuschlos.


    Nebenbei bemerkt, da es hier auch um Sprache geht: Hält niemand das Wort "gendern" für eine Sprachkrücke?

  • Es ist halt ein Anglizismus, aber als Sprachkrücke würde ich gendern nicht sehen. Es klingt besser als "vergeschlechtlichen" und umfasst mehr als "geschlechtergerechten Sprachgebrauch" - wobei ich über das "Gerechte" auch erst grübeln könnte - ich meine es hat darüber hinaus noch einen Bezug zu den Gender Studies, die international in der Wissenschaft diskutiert werden.

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    Von den vielen Welten, [...] ist die Welt der Bücher die größte. (Hermann Hesse)


    :lesend Virginia Woolf: Orlando

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  • Tatsächlich scheint mir die ganze Shitstorm-Geschichte eine grundsätzliche Entwicklung zu sein, die zu egal welchem Thema stattfindet.

    Wenn es darum geht, die für sich selbst oder die eigene Peergroup erkannte gesellschaftliche Wahrheit durchzusetzen, werden solche Instrumente in besonderer Weise eingesetzt. Und dabei geht es in der Hauptsache um soziologische Fragen wie die hier diskutierte.


    Aber es ist nicht "nur" ein Shitstorm, den man zu fürchten hat, wenn man sich einer Strömung widersetzt, die nach Auffassung der selbsternannten Sittenwächter die derzeit einzig seligmachende ist. Wobei für viele Künstler, aber auch Menschen, die z.B. im (nicht nur oberen) Management von Unternehmen tätig sind, schon ausreichend ist, einem Shitstorm, den sie nicht einmal direkt selbst verantwortet haben müssen, ausgesetzt zu sein, denn das führt inzwischen beinahe umgehend zu Rauswürfen, Vertragskündigungen oder zur Aufgabe langfristiger Projekte, wenigstens aber zur "einvernehmlichen Aufhebung der Zusammenarbeit". Die Einschüchterungsmechanismen greifen aber inzwischen noch sehr viel tiefer, im vorauseilenden Bereich.


    Beinahe noch drastischer ist der Umgang allerdings, wenn es um die rückwirkende Bereinigung geht, um das Aufräumen im - jüngeren wie älteren - kulturellen Erbe. Die Verlage und Produktionsfirmen beschäftigen inzwischen ganze Abteilungen, die sich mit Leuten auseinandersetzen, die Bücher, Filme, Musik und Kunst nach Aufregern durchforsten, die mit Maßnahmen drohen oder sie schon initiiert haben. Dabei geht es um "geschlechtergerechten Sprachgebrauch", aber auch um viele assoziierte Themen.


    Ja, wir verzeichnen gesamtgesellschaftlich die Tendenz dazu, nach Aufregern zu suchen und möglichst laut möglichst anonym gegen Leute vorzugehen, die man dieserart als hassenswert ausgemacht hat. Aber das ist nur ein Teilaspekt. Wir erleben zugleich ein Zerbrechen der pluralistischen Strukturen, wenn es um gesellschaftliche Paradigmen und Lebensmodelle geht. Und wir erleben eine aktive Verneinung des Rechts, sich dem soziologischen Mainstream bei der Wahl der Ziele, Wege und Instrumente nicht anzuschließen. Das Gendern ist nur die Spitze eines gewaltigen Eisbergs.