'Trümmerkind' - Seiten 001 - 083

  • ich habe darauf gefreut, ein Buch über die Nachkriegszeit und den Wiederaufbau zu lesen. Jetzt bin ich doch wieder mitten im Krieg (ok, zumindest kurz danach) und dann auch noch auf Spurensuche in der Gegenwart.

    Was das Thema angeht, waren meine Erwartungen wohl ähnlich wie deine. Ich denke, mit der Geschichte um Agnes und die Kinder hätte man den Roman auch füllen können.

  • Ich verstehe deine Sichtweise, Clare, teile sie hier in Bezug auf dieses Buch nicht unbedingt.

    Die Autorin schreibt ja keinen objektive Geschichte, sondern einen Roman über gerade diese Einzelschicksale und eben aus deren Sicht auf die Dinge. Insofern geht die etwas einseitige Darstellung für mich in Ordnung.

    Allerdings kommen mir genau deine Gedanken auch in den Sinn, nämlich, dass ich für mich denke, wie sie ausblenden was die Deutschen getan haben.

    Aber es ist nun mal so, dass die meisten Menschen, gerade im eigenen Elend und täglichen Überlebenskampf verstrickt, nur selten zu Selbstreflexion und objektiven Betrachtungen neigen ;).

    Mit unserem Wissen und dem entsprechenden Abstand sieht man das verständlicherweise anders.

    So sehe ich das auch.

    Auf jeden Fall hat mich das Buch von der ersten seite an gepackt, auch die distanzierte Erzählweise finde ich absolut passend.


    Auf die Idee, dass das "Findelkind" ein Neffe von Clara sein könnte, bin ich gar nicht gekommen, obwohl ich mich natürlich auch gefragt habe, wie diese Erzählstränge zusammen passen könnten.

  • Ich verstehe deine Sichtweise, Clare, teile sie hier in Bezug auf dieses Buch nicht unbedingt.

    Die Autorin schreibt ja keinen objektive Geschichte, sondern einen Roman über gerade diese Einzelschicksale und eben aus deren Sicht auf die Dinge. Insofern geht die etwas einseitige Darstellung für mich in Ordnung.

    Allerdings kommen mir genau deine Gedanken auch in den Sinn, nämlich, dass ich für mich denke, wie sie ausblenden was die Deutschen getan haben.

    Aber es ist nun mal so, dass die meisten Menschen, gerade im eigenen Elend und täglichen Überlebenskampf verstrickt, nur selten zu Selbstreflexion und objektiven Betrachtungen neigen .

    Mit unserem Wissen und dem entsprechenden Abstand sieht man das verständlicherweise anders.

    Ich sehe das auch so.

    Der jeweilige Teil ist natürlich aus einer einseitigen Perspektive geschrieben und auf dem Gutshof erleben die Menschen eben die Grausamkeit "der Russen", nämlich ebenjener Russen, die dort in diesem Zeitausschnitt dort wüten. Dass "die Deutschen" eine enorme Schuld am Kriegsgeschehen haben und "die Russen" vielleicht Rachegefühle oder einen Vergeltungsdrangdaraufjin haben, spielt im Augenblick der Vergewaltigungen gar keine Rolle. Da regiert die nackte Angst.

    Ich finde das Leid auch nicht oberflächlich geschildert, sondern gerade noch so distanziert, dass ich das lesen kann.

    Die eigentliche Geschichte aber bleibt unerzählt, denn ihre wahre Sprache könnte nur die Sprachlosigkeit sein. Natascha Wodin

  • Ich sehe das auch so.

    Der jeweilige Teil ist natürlich aus einer einseitigen Perspektive geschrieben und auf dem Gutshof erleben die Menschen eben die Grausamkeit "der Russen", nämlich ebenjener Russen, die dort in diesem Zeitausschnitt dort wüten. Dass "die Deutschen" eine enorme Schuld am Kriegsgeschehen haben und "die Russen" vielleicht Rachegefühle oder einen Vergeltungsdrangdaraufjin haben, spielt im Augenblick der Vergewaltigungen gar keine Rolle. Da regiert die nackte Angst.

    Ich finde das Leid auch nicht oberflächlich geschildert, sondern gerade noch so distanziert, dass ich das lesen kann.

    Darum geht es mir gar nicht.

    Ich wusste, dass ich missverstanden werde. Ich habe auch nicht geschrieben, dass das Buch einseitig geschrieben wäre, sondern dass es mir zu einseitig dargestellt ist.

    Ich hoffe, dass ich hier nicht spoilere, weil ich doch schon fertig bin.

    Ich hatte beim Lesen andauernd das Gefühl, dass ich mit den Figuren, die hier beteiligt sind, Mitleid haben soll, und das kann ich nicht mit allen. Zum Beispiel nicht mit dem Heinrich Anquist, später auch nicht mit Anderen. Ich fühlte mich beim Lesen in eine bestimmte Richtung "geschrieben", wie das in Büchern so ist, aber die Richtung fand ich nicht gut.

    Ich weiß, dass es hier um diese Familie geht, um ihre Verluste, ihr Leid. Wer aber das Thema Nachkriegsjahre wie hier angeht, darf, finde ich, die Schuldfrage nicht so ausklammern.

  • Kannst du ein Beispiel nennen? :gruebel

    Kann ich, aber die kommen erst in den nächsten Abschnitten, glaube ich. Als ich das, was du zitiert hast, geschrieben habe, war ich schon fertig mit dem Buch oder fast.

    Beispiel (Ende Kapitel 6):

    Heinrich Anquist wurde verhaftet und verschleppt. Clara tritt, mutig oder leichtsinnig, den Russen gegenüber, schreit, dass er nichts getan hat, worauf der Soldat erwidert, dass die Deutschen ja alle nichts getan hätten. Clara ist verzweifelt, der Vater weg und sie fühlt sich hilflos. Alles zielt darauf hin, dass wir Mitleid mit ihr haben, was ja auch berechtigt ist, aber doch nicht nur!! Immerhin hat die Familie ganz gut gelebt unter Hitler. Da gibt es keine noch so kleine Bemerkung des Bedauerns, der Schuld, vielleicht nicht von Clara, die so kurz nach Ende des verlorenen Krieges noch nicht alles weiß und auch nicht reflektiert haben kann, aber vielleicht im Text.

  • Ich empfinde es bislang weder als einseitig, noch als verharmlosend. Es spielt halt 1945 in der Uckermark und nicht einige Jahre zuvor in Russland. Hätte die Autorin da etwa dauernd mit erklärenden Fußnoten oder Einschüben arbeiten sollen?


    Ich finde alle drei Handlungsstränge derzeit gleichermaßen interessant, wobei ich die Hamburger Ereignisse am anschaulichsten empfinde.

  • Ich hatte beim Lesen andauernd das Gefühl, dass ich mit den Figuren, die hier beteiligt sind, Mitleid haben soll, und das kann ich nicht mit allen. Zum Beispiel nicht mit dem Heinrich Anquist, später auch nicht mit Anderen. Ich fühlte mich beim Lesen in eine bestimmte Richtung "geschrieben", wie das in Büchern so ist, aber die Richtung fand ich nicht gut.

    Ich weiß, dass es hier um diese Familie geht, um ihre Verluste, ihr Leid. Wer aber das Thema Nachkriegsjahre wie hier angeht, darf, finde ich, die Schuldfrage nicht so ausklammern.

    Ich hatte dich schon verstanden, liebe Clare, nur ist mein Eindruck ein anderer. Schon ganz am Anfang wir erwähnt, dass Heinrich Nazi war und mit ihnen Geschäfte machte. Er kämpft um sein Leben in de Nacht als die Scheune brennt, aber er weiß um die Konsequenzen. Der Moment, als der Krieg aus ist, ist kein freudiges Ereignis in der Familie, sondern ein Schock. Sie wissen, was ihnen jetzt blüht und dann ja auch passiert. Ich finde das nicht einseitig dargestellt und fühle mich beim Lesen nicht gedrängt.

    So unterschiedlich sind die Wahrnehmungen und das ist gut so.

    Die eigentliche Geschichte aber bleibt unerzählt, denn ihre wahre Sprache könnte nur die Sprachlosigkeit sein. Natascha Wodin

  • Heinrich Anquist wurde verhaftet und verschleppt. Clara tritt, mutig oder leichtsinnig, den Russen gegenüber, schreit, dass er nichts getan hat, worauf der Soldat erwidert, dass die Deutschen ja alle nichts getan hätten. Clara ist verzweifelt, der Vater weg und sie fühlt sich hilflos. Alles zielt darauf hin, dass wir Mitleid mit ihr haben, was ja auch berechtigt ist, aber doch nicht nur!! Immerhin hat die Familie ganz gut gelebt unter Hitler. Da gibt es keine noch so kleine Bemerkung des Bedauerns, der Schuld, vielleicht nicht von Clara, die so kurz nach Ende des verlorenen Krieges noch nicht alles weiß und auch nicht reflektiert haben kann, aber vielleicht im Text.

    Ich will Heinrichs Tun gar nicht verteidigen. Aber auf S. 24 steht zum Beispiel, dass Heinrich sich nicht für Politik interessierte und in die Partei eintreten musste, um seine Pferdezucht weiter betreiben zu dürfen. Er hat mit den Nazis Geschäfte gemacht und hat erst beim Russlandfeldzug verstanden und gezweifelt. Ich denke, das ging vielen so. Ich will diese Haltung nicht verteidigen, nur zeigen, dass Borrmann Heinrich durchaus auch kritisch beleuchtet.

    Die eigentliche Geschichte aber bleibt unerzählt, denn ihre wahre Sprache könnte nur die Sprachlosigkeit sein. Natascha Wodin

  • Ich wusste, dass ich missverstanden werde. Ich habe auch nicht geschrieben, dass das Buch einseitig geschrieben wäre, sondern dass es mir zu einseitig dargestellt ist.

    Ich habe dich auch nicht missverstanden. Du hast ja deutlich gemacht, dass dein ganz persönliches Empfinden ist. Manchmal ist man mit bestimmten Themen einfach besonders sensibel, oder eben mit einer anderen Einstellung dazu als andere Leser, und das ist auch vollkommen in Ordnung.


    Das Interessante und Bereichernde an einer solchen Leserunde sind genau diese verschiedenen Sichtweisen und der von gegenseitigem Respekt geprägte Austausch darüber - gerade so, wie es bei uns jetzt der Fall ist :-].


    Ich fühle mich auch überhaupt nicht dazu gedrängt, mit den Figuren Mitleid haben zu müssen. Für mich ist die Darstellung relativ objektiv, mit genau der richtigen Distanz es mit Interesseund Empathie lesen zu können, ohne in ein emotionales Loch zu fallen vor Entsetzen, so wie Regenfisch es, glaub ich, auch empfindet.

  • So, mittlerweile konnte ich auch anfangen. Das Buch gefällt mir bisher sehr gut und ich komme mit dem Erzählstil gut klar. Mir gefallen bisher die Hamburger Szenen sehr gut.


    IIch bin gespannt, was es mit dem kleinen Jungen auf sich hat. Vielleicht ist er ja ein Kind der Briten und spricht nicht mit seiner neuen Familie, weil er kein Deutsch versteht. Jedenfalls scheint er das Kind der toten, nackten Frau zu sein.

    Die Idee habe ich auch - ich glaube, dass er kein Deutsch spricht und deshalb so aufmerksam lauscht....


    Wobei mir die Idee, dass es sich um Konrad handeln könnte auch gut gefällt...:gruebel

    Ich fühle mich auch überhaupt nicht dazu gedrängt, mit den Figuren Mitleid haben zu müssen. Für mich ist die Darstellung relativ objektiv, mit genau der richtigen Distanz es mit Interesseund Empathie lesen zu können, ohne in ein emotionales Loch zu fallen vor Entsetzen, so wie Regenfisch es, glaub ich, auch empfindet.


    Hier kann ich Lumos nur zustimmen. Wenn das Buch hier stärker auf die einzelnen Personen eingehen würde, hätte ich wahrscheinlich Schwierigkeiten es zu lesen.


    So, jetzt wird weitergelesen...

  • Was ich noch ergänzen möchte: mir gefällt der Strang um Agnes und ihre Familie so gut, weil er so sehr von Hoffnung geprägt ist. Die kämpfen wirklich ums Überleben, aber sie halten zusammen und warten auf bessere Zeiten. Im Gegensatz davon bricht bei Clara und ihrer Familie erst alles zusammen, da bin ich auch sehr froh, dass es so distanziert geschildert wird.

    "Alles vergeht. Wer klug ist, weiß das von Anfang an, und er bereut nichts." Olga Tokarczuk (übersetzt von Doreen Daume), Gesang der Fledermäuse, Kampa 2021

  • Ich fühle mich auch überhaupt nicht dazu gedrängt, mit den Figuren Mitleid haben zu müssen. Für mich ist die Darstellung relativ objektiv, mit genau der richtigen Distanz es mit Interesseund Empathie lesen zu können, ohne in ein emotionales Loch zu fallen vor Entsetzen, so wie Regenfisch es, glaub ich, auch empfindet.

    Es ist sehr spannend aus der Distanz eure Meinung zum Buch zu lesen. Ich habe es ja schon vor einer ganzen Weile gelesen und da bleibt dann eigentlich nur noch die endgültige Essenz meiner Eindrücke. (Ich bin versucht, es gleich noch mal zu lesen - schaffe es nur leider zeitlich gerade nicht)


    Ich denke mal, Mechthild Borrmann hat es ganz absichtlich auf diese spröde Art geschrieben. Ich habe es - aus meiner Erinnerung - so empfunden, dass sie sich ganz bewusst damit zurückhält, auf den Krieg und die politischen Geschehnisse genauer einzugehen oder die Empfindungen der Darsteller explizit zu beschreiben, was den Krieg betrifft.

    Ein bisschen ist es wie ein Blick von oben auf die Personen. Oder eben einen Schritt weiter weg. Also wir sind als Leser nicht wirklich im Kopf der Protas und die "Wunden" die der Krieg bei jedem geschlagen hat so frisch, dass keiner der Protas genauer darauf eingeht / eingehen möchte.


    Ich mag diesen sehr reduzierte Erzählstil sehr. Er lässt dem Leser sehr viel Freiraum zu interpretieren. Dennoch ist ein Grundtenor einfach durch die Handlung heraus zu erkennen.


    Die Rückblenden sind typisch für ihre Bücher. Bei verschiedenen Erzählsträngen ist es ja bei mir fast immer so, dass ich einen lieber mag als die anderen.

    Hollundergrüße :wave



    :lesend



    (Die Freiheit des Menschen liegt nicht darin,

    daß er tun kann, was er will,

    sondern daß er nicht tun muß,

    was er nicht will - Jean Rousseau)

  • ... Ein bisschen ist es wie ein Blick von oben auf die Personen. Oder eben einen Schritt weiter weg. Also wir sind als Leser nicht wirklich im Kopf der Protas und die "Wunden" die der Krieg bei jedem geschlagen hat so frisch, dass keiner der Protas genauer darauf eingeht / eingehen möchte.


    Ich mag diesen sehr reduzierte Erzählstil sehr. Er lässt dem Leser sehr viel Freiraum zu interpretieren. Dennoch ist ein Grundtenor einfach durch die Handlung heraus zu erkennen. ...

    Ich halte das für eine realistische, respektvolle und der Zeit angemessene Sicht. In die Empfindungen der Betroffenen können wir uns rückblickend wohl kaum hineinversetzen. In den Nachkriegsjahren waren Millionen von Menschen mit dem reinen Überleben beschäftigt. Wohnung suchen, Arbeit suchen, sich um Angehörige sorgen, Witwenrente beantragen oder doch hoffen, dass der Partner aus Sibirien zurückkehrt, und sich mit den Besatzungmächten herumschlagen, die Häuser und Autos beschlagnahmt hatten, die viele Menschen eben auch dringend brauchten, um ihren Beruf ausüben zu können. Meine Mutter hat mir als Kind einmal gezeigt, wie lang vor ihrem Arbeitsplatz damals die Schlange bis auf den Fußweg vor dem Haus reichte, in der Kriegsheimkehrer warteten, damit ihnen Prothesen, Gebisse und Heilmaßnahmen genehmigt wurden, die sie für ein menschenwürdiges Leben brauchten. Und diese Schlange war selten am Abend um 18.00Uhr abgearbeitet.