Braucht ein Roman eine Hauptfigur?

  • Hallo allerseits,


    in der Leserunde zu „Shirley“ von Charlotte Brontë ist unversehens eine Frage aufgetaucht, die mir nicht mehr aus dem Kopf geht, nämlich:


    Braucht ein Roman zwingend eine Hauptfigur, um beim Publikum anzukommen?


    Entsprechend dem Klappentext meiner Ausgabe hat die Autorin von „Shirley“ es dem Leser überlassen festzulegen, wer denn nun die Hauptfigur ist.


    Dabei fiel mir der Roman "Witiko" von Adalbert Stifter ein, den ich vor so vielen Jahren gelesen habe, daß ich praktisch keine Erinnerung mehr daran habe. Ich meine, es war im Nachwort meiner Ausgabe (im Internet konnte ich damals noch nicht nach Informationen suchen - nicht mal das Wort "Internet" war zu der Zeit erfunden) zu lesen, daß die "Hauptfigur" des Romans Böhmen sei (und eben nicht eine bestimmte Figur. Aus dem Gedächtnis zitiert, ich würde jetzt keinen Eid darauf leisten wollen.).


    Seit diese Frage aufgekommen ist, denke ich wirklich ernsthaft darüber nach, ob ein Roman eine Hauptfigur braucht, um mich fesseln zu können. Auf die Schnelle fällt mir kein Beispiel für so einen Roman ein (vor allem keiner, den ich auch würde lesen wollen). Aber vielleicht braucht es doch eine (oder mehrere) Hauptfigur(en)?


    Seit längerer Zeit lese ich an der 29-bändigen Serie "Spanish Bit" von Don Coldsmith. Hier wird die durchgehende Geschichte eines (fiktiven) Indianerstammes von etwa 1540 bis nach 1800 erzählt. "Hauptfigur" ist also der Stamm, doch in jedem Band gibt es Hauptfiguren, die die Handlung forttragen (und damit Sympathieträger sind). Im Moment lese ich die siebenbändige Serie "Savage Destiny" von Rosanne Bittner; die hat klare Hauptfiguren. Beginnend im Jahre 1845 mit dem ersten Treffen von Zeke und Abigail, endet die Buchreihe mit dem Tod von Abigail Jahrzehnte später - es geht also um die Geschichte dieser beiden und ihrer Familie. Das Identifikationspotential ist deutlich höher als bei der erstgenannten Serie (was natürlich auch daran liegen kann, daß die Savage-Destiny-Reihe in wesentlich ausführlicherem Stil geschrieben ist).


    Dennoch - eine (für mich) hochinteressante Frage, über die ich noch eine Weile nachdenken werde und auf die ich bisher selbst keine richtige Antwort habe.


    Jetzt würde mich interessieren, ob noch jemand sich je diese Frage gestellt hat (oder sie sich nun stellt ;-) ) und wie ihr das seht? Und auch: gibt es schon solche Romane, und wenn ja, welche?

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    ASIN/ISBN: 371751766X
     
    ASIN/ISBN: 3423139544
    ASIN/ISBN: 3453071441
    ASIN/ISBN: 194094161X

    Unter den Büchern finden wir wieder, was uns in der Fremde entschwand, Frieden im Innern und Frieden mit unserer Umgebung.
    (Gustav Freytag, 1816 - 1895, aus "Die verlorene Handschrift")

  • In Annie Proulx' letztem Roman "Aus hartem Holz" gibt es auch keine Hauptfigur(en) im klassischen Sinn. Der Roman umspannt mehrere Jahrhunderte, und es stehen zwar zwei Familien drei, vier Zentimeter vom Mittelpunkt entfernt, aber die führenden Figuren wechseln häufig. Es gibt sicher noch viele weitere Beispiele, aber das kommt mir besonders anschaulich vor. Ich käme als Autor (vorläufig) nicht auf die Idee, ohne Hauptfigur(en) zu arbeiten, weil ich die Geschichten von Leuten erzähle, aber vielleicht ändert sich das ja mal.


    ASIN/ISBN: 3630872492

  • Mir fiel spontan "Der Schwarm" ein. Der hat zumindest in der ersten Hälfte (bis Schätzing sie reihenweise sterben lässt) relativ viele Hauptfiguren und springt von einem Schauplatz zum nächsten. Das ist ja in vielen Büchern mit Heldengruppen so, aber da fand ich es besonders sprunghaft.


    Ich fürchte, so ganz ohne Hauptfiguren würde es mir schwerfallen, den roten Faden im Buch zu finden. Dann gäbe es auch kein Identifikationspotential für den Leser. Die emotionale Ebene würde mir fehlen.


    Faszinierend fand ich das erste Shadowrunbuch "Der Weg in die Schatten". Das enthält lauter Kurzgeschichten, die in der finalen Kurzgeschichte miteinander verwoben werden.

    ASIN/ISBN: 3453053702

    “You can find magic wherever you look. Sit back and relax all you need is a book." ― Dr. Seuss

  • Über deine Frage musste ich erstmal etwas nachdenken, spontan hätte ich gesagt: gibts nicht, denn über wen steht denn sonst was im Buch. :lache


    Jetzt sind wir aber doch noch zwei Bücher eingefallen, die keine "Hauptperson" im klassischen Sinne haben, sondern vielmehr sehr viele, unterschiedliche Personen, die mal mehr, mal weniger auftauchen.


    Zum einen wäre das von Oliver Hilmes: Berlin 1936: Sechzehn Tage im August


    ASIN/ISBN: 3328101969


    Das ist jetzt zwar ein Sachbuch und kein Roman, aber vom Aufbau her könnte es genausogut ein Roman sein. Dann halt mit fiktiven statt mit echten Personen. In dem Buch sind Erlebnisse von Personen in einer bestimmten Zeit an einem ganz bestimmten Ort gesammelt. Manche kommen öfter vor, andere nicht, aber "Hauptpersonen" gibt es hier definitv nicht.


    Das andere habe ich schon vor längere Zeit gelesen, hier ist die Hauptperson eindeutig eine Stadt, nämlich Los Angeles: Strahlend schöner Morgen von James Frey


    ASIN/ISBN: 3548609996


    Hab ich schon vor Jahren gelesen, hängengeblieben sind bei mir aber viele Einzelgeschichten, die sich alle um L. A. drehen. Auch mit Personen, die mal mehr, mal weniger häufig vorkommen.



    Nachdem mir gerade erstes Buch richtig gut gefallen hat, wage ich zu behaupten: nein, ein Buch braucht nicht zwingend eine Hauptfigur. Es braucht einen roten Faden, aber das kann durchaus auch was anderes sein als ein Mensch. Eine Stadt, ein Ereignis, ein Volk ....


    Eine Hauptfigur muss es bei mir eh nicht sein, ich komme auch durchaus mit einer Gruppe gleichberechtigter Protagonisten gut klar.

    "Alles vergeht. Wer klug ist, weiß das von Anfang an, und er bereut nichts." Olga Tokarczuk (übersetzt von Doreen Daume), Gesang der Fledermäuse, Kampa 2021

  • Nachdem mir gerade erstes Buch richtig gut gefallen hat, wage ich zu behaupten: nein, ein Buch braucht nicht zwingend eine Hauptfigur. Es braucht einen roten Faden, aber das kann durchaus auch was anderes sein als ein Mensch. Eine Stadt, ein Ereignis, ein Volk ....

    Dem würde ich mich jetzt mal anschließen. Ich denke auch, dass ein Roman eine Figur oder irgendetwas anderes braucht, dass die Geschichte zusammenhält. Manchmal geht es ja auch um einen Gegenstand, an dieser Stelle fällt mir "Das grüne Akkordeon" ein, ebenfalls von Annie Proulx.

    ASIN/ISBN: 3442734231


    Ich glaube, wenne s diesen roten Faden nicht gäbe, wäre es auch kein Roman mehr, oder? :gruebel


    LG, Bella

  • Heute wird in jeder Schreibwerkstatt "gelehrt", dass ein Roman, wenn er am Buchmarkt reüssieren will, mindestens eine Heldenfigur benötigt beziehungsweise eine Figur, die für die Leserschaft ein Identifikationsangebot beinhaltete. (Eine häufiger Kritikpunkt in Rezensionen ist das Fehlen von Figuren, die einem sympathisch sind.)


    Wobei allerdings nicht übersehen werden kann, dass das Modell mit der Identifikationsfigur noch im 20. Jahrhundert in einigen Literaturtheorien als Indiz gesehen wurde, um bei einen gediegenen und gutgeschriebenen, dazu mitreißenden Roman zu entscheiden, ob dieser Roman bereits als Literatur gelten konnte oder doch nur als einen Unterhaltungsroman .


    Die Identifikationsfigur galt in dieser Zeit als ein wichtiges Charakteristikum des "minderen" Romans, also der (Trivial- und Unterhaltungsliteratur. Das bedeutete zwar keineswegs, dass ein Roman mit einer Identifikationsfigur im Zentrum, deren Geschichte erzählt wird, automatisch als "mindere" Literatur eingestuft wurde. Aber gerade in bestimmten Genres (historischer Roman, Kriminalroman, Stadt- oder Landesgeschichte, Roman über ein Gebäude / Brücke / Straße etc., Panorama usw.) wurde die Verwendung eines Erzählmodells mit Identifikationsfigur, an der die eigentliche Handlung "angehängt" ist oder deren Aufgabe es ist, die Leserschaft durch diese zu führen, als ein Schreibmodell gesehen, das die Gefahr einer "Trivialisierung" der Handlung bedeutet und das daher von einem seriösen Autor entweder nicht oder nur mit äußerster Vorsicht genutzt werden sollte.


    So gesehen überrascht es nicht, dass der Auslöser für die Fragestellung hier ("Shirley" von Charlotte Bronte), ein Roman ist, der vor ca. 150 Jahren geschrieben wurde, also für eine Leserschaft, die ganz andere Lesegewohnheiten hatte, als die heutige Durchschnittsleserin oder der aktuelle Durchschnittsleser.


    Was sich allerdings bis heute nicht verändert haben dürfte, ist der Umstand, dass auch damals eine Schriftstellerin oder ein Schriftsteller, die schon zu Lebzeiten Erfolg mit ihren Büchern hatte oder haben wollte, ihren "Markt" beziehungsweise ihre Leserschaft gekannt und das bei ihrem Schreiben berücksichtigt haben wird. (Die Dialoge mit französischen Sätzen in "Shirley" oder die Verwendung von Zitaten zeigen zum Beispiel, dass Bronte den Roman für eine Leserschaft schrieb, zu deren durchschnittlicher Allgemeinbildung gute Französischkenntnisse und eine gediegenen literarische Allgemeinbildung zählte. Ich bin zwar noch in einer Zeit aufgewachsen, wo eine solche Bildung etwas gegolten hat, im 21. Jahrhundert hat sich das jedoch gründlich geändert. Sicher kein Zufall, dass gerade die Verwendung von Zitaten oder französischen Dialogstellen von einer heutigen Leserschaft Großteils negativ wahrgenommen wird.)


    Es stellt sich also die Frage, ob eine solche Erzählform (die offen lässt, wer die Identifikationsfigur beziehungsweise die Hauptfigur ist) für Romane des 19. Jahrhunderts wirklich etwas so Ungewöhnliches war. (Hinzu kommt noch, dass sich die Gattung Roman, wie sie heute gesehen wird, erst mit Anfang des 19. Jahrhunderts ausbildete. (Bücher, die vor dem 19. Jahrhundert als Romane bezeichnet werden, weisen zum Teil formale Merkmale und Erzählstrukturen auf, die für den "Roman" ungewöhnlich oder sogar fragwürdig sind.


    Ein bekannter Roman, an dem solche Fragestellungen übrigens auch in der Literaturwissenschaft diskutiert wurde, ist "Vanity Fair" (deutscher Titel "Jahrmarkt der Eitelkeit") von William Makepeace Thackeray, der 1848. (Zum Vergleich: "Shirley" wurde 1849 publiziert.)


    Der Originaltitel lautet übrigens: "Vanity Fair: A Novel without a Hero". Der "Hero" ist hier übrigens mehrdeutig: ohne eine Heldenfigur oder ohne Hauptfigur.

    Obwohl Ich vermute einmal, dass es nicht der Roman ist, den jemand kennt, sondern die Verfilmung mit Reese Witherspoon aus dem Jahr 2004. Daneben gibt es noch eine englische Fernsehserie mit Natasha Little, und es ist zumindest auffallend, dass beide Verfilmungen trotz unterschiedlicher Schwerpunkte und Veränderungen gegenüber der Vorlage Becky Sharpe als die Hauptfigur inszeniert haben.


    In diesem Kontext lässt die Aussage, dass Charlotte Bronte es ihrer Leserschaft überlassen hat, ob nun Caroline oder Shirley die Hauptfigur ist, noch weitere Interpretationen zu.


    Daneben wäre noch zu überlegen, ob für Charlotte Bronte nicht eigentlich Robert die Hauptfigur war. Vielleicht hat Charlotte Bronte nur deshalb den Blickwinkel in Bezug auf die Hauptfigur auf ihre Frauenfiguren gelenkt, um sich als Autorin gegen damalige Vorurteile zu schützen, wie ob eine Schriftstellerin überhaupt kompetent genug ist, eine überzeugende männliche Hauptfigur zu schaffen, die ihre Handlung trägt.

    Indizien dazu ergeben sich aus der Rezeptionsgeschichte der Romane ihrer beiden Schwestern:

    - Auf die (für ihre Entstehungszeit und auch im 21. Jahrhundert noch brisante) "Herrin von Wildfell Hall" von Anne Bronte bin ich vor fast 30 Jahren durch Zufall gestoßen, damals wurde sie in den einschlägigen Literaturgeschichten und Literaturlexika, wenn sie dort überhaupt als Autorin erwähnt wurde (und nicht nur als jüngere Schwester von Charlotte und Emily, dies auch durchaus abwertend) nur als Autorin des Roman "Agnes Grey" angeführt. ("Agnes Grey" ist eindeutig von ihren beiden Romanen der uninteressantere und "konservativere" Roman)

    - Die Autorenschaft von Emily Bronte für "Sturmhöhe" wurde immer wieder in Frage gestellt. Zunächst wurde die Annahme als Fakt präsentiert, dass das Buch in Wirklichkeit ihr Bruder geschrieben hatte, später wurde ihm immerhin eine Mitautorenschaft unterstellt. Vor dreißig Jahren gab es noch die eine oder andere einschlägige/s Literaturgeschichte / Literaturlexikon, in dem diese behauptet oder wenigstens angedeutet wurde.


    Interessant ist jedenfalls, dass in Brontes ersten Roman "Der Professor" (der allerdings erst nach ihrem Tod publiziert wurde), ein Mann die Hauptfigur ist.


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    Romane mit unklarer Positionierung von der Hauptfiguren sind in der Gegenwart nicht mehr zu finden, ich vermute, aus den oben angeführten Beobachtungen. Der Markt wünscht es nicht und die "Schreibtheorien", die heute von Menschen, die selbst als Schriftstellerinnen und Schriftsteller reüssiert haben, sind ebenfalls auf die Notwendigkeit von Identifikationsfiguren als Hauptfiguren ausgerichtet.


    Im 20. Jahrhundert gab es immerhin die "Landes"-Romane von James Michener ("Colorado Saga", "Mazurka", "Hawaii", "Karibik" etc.), in denen dieser die Geschichte eines Landes oder einer Region über Jahrhunderte erzählten und dazu Einzelepisoden aufeinander folgen ließ. Mit einer Hauptfigur, die in allen diesen Episoden auftritt und sie verbindet, wäre das, was er erzählen wollte, nicht möglich gewesen. Immerhin aber fällt auf, dass gewöhnlich in den letzten Teilen seiner Romane, die in der Gegenwart enden, häufig mehrere Episoden dieselbe Hauptfigur haben und dass seine Erzählung über Jahrhunderte zwar in einzelne Episoden aufgelöst ist, diese aber miteinander geographisch, durch die symbolische oder tatsächliche familiäre Verbindungen oder Gegenstände miteinander verknüpft sind.


    Als Ganzes haben diese Romane keine Hauptfigur, allerdings haben die einzelnen Abschnitte, die auch als geschlossene Geschichte gesehen werden können, jeweils sehr wohl Hauptfiguren.

    Eine ähnliche Struktur findet sich in "Die Brücke über die Drina" (1945 erstmals publiziert), ein historischer Roman des "jugoslawischen" Schriftstellers Ivo Andrić.


    Ein anderer Autor, der unter dem Aspekt "Braucht eine Geschichte eine Hauptfigur" einiges bieten würde, ist James Clavell (1924-1994). Zwar gibt es in seinen historischen Romanen, um Beispiel "Shogun" (1975), "Noble House Hongkong" oder "Taipan" (eher bekannt: die Verfilmungen) stets die Hauptfiguren (auf denen die Verfilmungen ihren Fokus gelegt haben), doch gerade in einem Roman wie "Shogun" gibt es einfach so viele Handlungsstränge, dass sich schon die Frage stellt, ob John Blackthorne (historisches Vorbild: William Adams) wirklich der Held ist.


    Ein weiterer Roman bei dem die Frage nach der Hauptfigur diskutiert werden könnten, ist "Doktor Schiwago" (1957 erstmals publiziert) von Boris Pasternak. Zwar zentrierte sich der Roman auf den Titelhelden (und die Verfilmungen zentrieren sich auch um diesen und Lara), aber wie meine Schwierigkeiten, den Inhalt für eine Bekannte zusammenzufassen mir gezeigt haben, ist der Roman keineswegs nur die Geschichte des Titelhelden.







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    Die gefährlichsten Unwahrheiten sind Wahrheiten, mäßig entstellt. (Georg Christoph Lichtenberg)

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  • Danke für eure Antworten! :-)


    Tom  

    Annie Proulx' Roman "Aus hartem Holz" habe ich bestellt. Ich habe Deine Rezension dazu gelesen, die klingt, als ob das etwas für mich ist. Danke für den Hinweis!


    Ich fürchte, so ganz ohne Hauptfiguren würde es mir schwerfallen, den roten Faden im Buch zu finden. Dann gäbe es auch kein Identifikationspotential für den Leser. Die emotionale Ebene würde mir fehlen.

    Das ist genau die Frage, die ich mir stelle und nicht weiß, wie ich sie beantworten würde bzw. werde.



    Was sich allerdings bis heute nicht verändert haben dürfte, ist der Umstand, dass auch damals eine Schriftstellerin oder ein Schriftsteller, die schon zu Lebzeiten Erfolg mit ihren Büchern hatte oder haben wollte, ihren "Markt" beziehungsweise ihre Leserschaft gekannt und das bei ihrem Schreiben berücksichtigt haben wird. (Die Dialoge mit französischen Sätzen in "Shirley" oder die Verwendung von Zitaten zeigen zum Beispiel, dass Bronte den Roman für eine Leserschaft schrieb, zu deren durchschnittlicher Allgemeinbildung gute Französischkenntnisse und eine gediegenen literarische Allgemeinbildung zählte. Ich bin zwar noch in einer Zeit aufgewachsen, wo eine solche Bildung etwas gegolten hat, im 21. Jahrhundert hat sich das jedoch gründlich geändert. Sicher kein Zufall, dass gerade die Verwendung von Zitaten oder französischen Dialogstellen von einer heutigen Leserschaft Großteils negativ wahrgenommen wird.)

    Nach dem, was ich über den Roman gelesen habe, hat sie sich geweigert, nach den Interessen der Leser bzw. "des Marktes" zu schreiben. Ohne daß ich das jetzt mit Bestimmtheit sagen könnte, vermute ich, daß seinerzeit die Kenntnis des Französischen so vorausgesetzt wurde wie heute die des Englischen. Daß eine "gediegene Allgemeinbildung" allerdings früher (es könnte sein, daß wir zu einer ähnlichen Zeit aufgewachsen sind) etwas anderes und vor allem Umfassenderes war als heute, dem stimme ich zu. Ganz praktisch habe ich das während der Schulzeit meiner Tochter erlebt. Was die gelernt hat - und was nicht. Trotz Abitur.


    An den von Dir erwähnten Roman "Colorado Saga" (engl. "Centennial", die deutsche Übersetzung ist um etwa 15 - 20% gekürzt) habe ich auch gedacht. Allerdings gibt es da etwa ab 1800 durchaus Hauptfiguren, die die Handlung tragen, deshalb habe ich ihn nicht als Beispiel angeführt. Und ob man die Saurierdame (?) in der Frühzeit von Colorado nicht auch als eine Art Hauptfigur ansehen könnte, wäre zu diskutieren.


    Aber es stimmt: eine Hauptfigur durch den ganzen Roman hindurch gibt es nicht.



    Ich glaube, wenne s diesen roten Faden nicht gäbe, wäre es auch kein Roman mehr, oder?

    Je mehr ich darüber nachdenke, je verwirrter werde ich. Und desto mehr suche ich in meiner reichhaltigen Bibliothek nach einem Roman ohne Hauptfigur. Ich habe zwar so ohne Weiteres nicht den vollen Überblick, aber mir fällt kein solcher Roman ein. Vielleicht ist ein Roman ohne Hauptfigur auch schlicht nicht denkbar?



    Wow, vielen Dank für diese höchst interessanten Ausführungen, Teresa! :anbet


    LG, Bella

    :write

    Unter den Büchern finden wir wieder, was uns in der Fremde entschwand, Frieden im Innern und Frieden mit unserer Umgebung.
    (Gustav Freytag, 1816 - 1895, aus "Die verlorene Handschrift")

  • Da fällt mir auch noch ein Roman mit vier gleichberechtigten Hauptpersonen ein. Besonders faszinierend fand ich, dass der Schreibstil je nach erzählender Person wechselt und man immer deutlich merkt, wer gerade dran ist. Ich liebe das Buch!


    A Long Way Down von Nick Hornby:

    ASIN/ISBN: 3462040510


    Silvester, auf dem Dach eines Hochhauses: Pech, dass gleich vier Menschen auf die Idee gekommen sind, sich dort das Leben zu nehmen. Da man sich schlecht umbringen kann, wenn einem andere dabei zusehen, steigt die seltsame Gruppe erst mal vom Dach, um das Problem der jüngsten Kandidatin, die nicht weiß, warum ihr Freund sie verlassen hat, zu lösen. Nach und nach erzählen sie sich ihre Geschichten.Da ist die altjüngferliche Maureen, deren Sohn Matty schwerstbehindert ist und die diese Belastung allein tragen muss, da ist Martin, der berühmte Talkmaster, den nach einem Gefängnisaufenthalt niemand mehr auf dem Bildschirm sehen will, Jess, die aufmüpfige Tochter eines Politikers, ist so direkt, dass sie alle vor den Kopf stößt, und JJ, der von seinem besten Freund, dem Sänger seiner Band, im Stich gelassen wurde. Die vier verabreden, mit dem finalen Sprung bis zum Valentinstag zu warten – und so findet eine Gruppe von Menschen zueinander, die unterschiedlicher nicht sein könnten und die einander doch auf wundersame Weise zu helfen wissen.

    Hornby at his best – in diesem urkomischen, rasanten und mit schwarzem Humor gespickten Roman beweist Hornby wieder einmal seine ganze Meisterschaft.

    “You can find magic wherever you look. Sit back and relax all you need is a book." ― Dr. Seuss

  • Na ja, inzwischen "fürchte" ich, daß es einen Roman ohne Hauptfigur nicht gibt, wobei man in diesem Zusammenhang vielleicht noch den Begriff "Hauptfigur" definieren müßte.


    Irgendwo in den Tiefen meines Gedächtnisses schwirrt ein Buch herum, in dem aus Sicht einer Sache bzw. eines Dings (nicht daß ich noch wüßte, welche Sache bzw. Ding) erzählt wurde. Aber vermutlich von bzw. über Menschen - und damit wieder in gewisser Hinsicht mit Hauptfigur.


    Breumel

    In der Theaterfassung wurde "A Long Way Down" übrigens die letzten Wochen im Rahmen der Bad Hersfelder Festspiele im Schloß Eichhof aufgeführt.

    Unter den Büchern finden wir wieder, was uns in der Fremde entschwand, Frieden im Innern und Frieden mit unserer Umgebung.
    (Gustav Freytag, 1816 - 1895, aus "Die verlorene Handschrift")

  • Interessante Frage!

    Spontan fällt mir dazu der Roman "Goban oder der Gesang des Waldes" von Colin Mackay ein, der zwar eine Titelfigur hat, aber eigentlich hauptsächlich von dem Schicksal eines Dorfes im mittelalterlichen Schottland handelt. Es stehen mehr die Mythen und Geschichten der Schotten im Mittelpunkt als der geheimnisvoll konstruierte Held.

    ASIN/ISBN: 3925828087

    :bonkWarum klappt die Verlinkung nicht? Hab es doch wie beschrieben gemacht.:umschau

    . . . Die Verlinkung der Nummer klappt, nur erscheint das Cover nicht.:gruebel


    Ein Roman braucht nicht zwingend eine Hauptfigur - aber es erleichtert die Identifizierung beim Lesen auf jeden Fall, finde ich.

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    Von den vielen Welten, [...] ist die Welt der Bücher die größte. (Hermann Hesse)


    :lesend Siegfried Lenz: Der Verlust

    Dieser Beitrag wurde bereits 8 Mal editiert, zuletzt von Tante Li ()

  • Möglicherweise, weil es das Buch nur noch antiquarisch gibt?

    Aber Amazon hat es doch mit Cover im Angebot :beleidigt

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    Von den vielen Welten, [...] ist die Welt der Bücher die größte. (Hermann Hesse)


    :lesend Siegfried Lenz: Der Verlust

  • Ich möchte mich Lese-rina anschließen. Es braucht auf jeden Fall einen roten Faden, eine Verbindung zwischen einzelnen Erzählsträngen.

    Denn es gibt durchaus Bücher, die ein Ereignis konsequent aus der Sicht verschiedener Personen schildern. Oft ist das ein Mord, wie bei Iain Pears: Das Urteil am Kreuzweg.

    Bei historischen Romanen wie Robert Merles "Fortune de France" Reihe sind das die Generationen einer Familie.


    Ein Buch, durch das ich mich gerade kämpfe ist Magris: Donau, Biographie eines Flusses. Da ist der Fluss das Thema. Allerdings ist das auch kein Roman, sondern ein Buch, bei dem ich mich schwertue, ein Genre anzugeben.

  • Wenn's ein Gesellschaftsroman ist, stellt mitunter ein ganzer Familienclan die Hauptfiguren. Mal wird das Schicksal des einen näher beleuchtet, mal des anderen. So ist das z.B. bei Elizabeth Jane Howards Chronik der Familie Cazalet (fünfbändige Reihe). In Dörthe Binkerts Roman "Vergiss kein einziges Wort" wechseln sich die Bewohner einer Straße als Hauptfiguren ab und jeder Leser kann sich seine Lieblingsfigur aussuchen.


    Das ist ein bisschen so wie bei Fernsehserien. Die haben auch einen Hauptcast und Nebenfiguren und brauchen nicht den einen Helden.


    ASIN/ISBN: 3423146826
    ASIN/ISBN: 3423146834
    ASIN/ISBN: 3423147083

    ASIN/ISBN: 3423289643

    Und was die Autofahrer denken,
    das würd’ die Marder furchtbar kränken.
    Ingo Baumgartner