Einladung ins Schloss Bellevue

  • Einladung ins Schloss Bellevue


    Leserinnen und Leser unseres Adventskalenders mögen sich gefragt haben, ob folgende Sequenz meines Textes fiktiv oder real war:


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    Freitag, 18. Dezember


    Großer Umschlag in der Post. Vom Bundespräsidialamt.
    "Herr Bundespräsident würde sich freuen, Mrs. Churchill und Sie zum Neujahrsempfang in Schloss Bellevue begrüßen zu dürfen."


    Wir? Zum Bundespräsidenten? Als "Bürgerin und Bürger, die sich um das Gemeinwohl ..."


    Wo ist die versteckte Kamera?


    Als Begründung wird angeführt, wir hätten seit zwanzig Jahren neben drei eigenen auch sieben Pflegekinder betreut. Mrs. Churchill wendet ein, dass es entweder sechs Pflegekinder waren, wenn man die dauerhaft bei uns lebenden zählt oder aber mehr als zwanzig, wenn man alle Bereitschaftskinder einrechnet. Ich erwidere, dass ich die angegebene Zahl dennoch nicht in Zweifel ziehen möchte. Immerhin muss ja irgendein Vorschlagender diese Information weitergegeben haben. Heimlich zähle ich nach.


    Gleichzeitig schießen mir Gedanken durch den Kopf:
    Wer kümmert sich um unsere Bande, wenn Mrs. Churchill und ich zum ersten Mal seit 23 Jahren zu zweit ein paar Tage unterwegs sind?
    Wo bekomme ich den vorgeschriebenen dunklen Anzug her?
    Und vor allem: Was wird Voltaire von mir halten, wenn ich die Einladung annehme?


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    Nun, der Textabschnitt war ebenso real wie der übrige Text und Voltaire riet mir sogar, die Einladung anzunehmen. Na dann. Wolke hat einen Arbeitsauftrag hinzugefügt: Ich solle berichten, wenn ich wieder zurück sei. Hier also mein Bericht ...


    Mittwoch, 6. Januar, nachmittags


    Die Koffer sind gerade gepackt. Unter anderem befinden sich Kleidungsstücke darin, die bis vor wenigen Tagen noch nicht in unserem Besitz waren. Hinter dem Haus werden gerade zwei Bäume gefällt, drinnen klären wir organisatorische Fragen mit unserer Großen, die in den nächsten vier Tagen das Regiment in der Familie übernehmen wird. Das Telefon stört: Saarländische Staatskanzlei, Pressestelle. Es liege eine Anfrage der BILD Saarland vor, die sich gerne mit uns in Verbindung setzen möchte. Ob unsere Telefonnummer weitergegeben werden dürfe. Von mir aus. Hätte BILD Saarland im Telefonbuch nachgeschaut, wäre es einfacher gewesen ...


    BILD ruft an. Man würde gerne vorbeikommen und ein Foto machen. Keine Chance, wir haben noch viel zu tun und ich bin abends nicht da. Kein Problem, sagt BILD. Wir können das mit dem Foto auch morgen früh am Flughafen machen, eine Stunde vor Abflug. 5.30 Uhr. Ein paar Fragen noch, ich erwähne nebenbei, dass es eigentlich insgesamt über zwanzig Pflegekinder waren.


    Donnerstag, 7. Januar,


    5.30 Uhr, Flughafen Saarbrücken.


    Wir haben keinen besonderen Treffpunkt vereinbart. Ist ja schließlich Saarbrücken und nicht Frankfurt. In der Eingangshalle läuft der Fotograph an mir vorbei, ich erkenne ihn zuerst, ein Bekannter kennt ihn und hat mir gestern noch ein Foto gezeigt. Saarland halt. Die Fotos sind bald im Kasten und wir im Flieger. Abflug bei +6 Grad und Regen, Ankunft wenig später bei -6 Grad und Schnee. Ab ins Hotel. Danach Touristenleben, bei Madame Tussauds ein paar Fotos. Sicherheitshalber auch mit Gauck. Man weiß ja nie.


    17.15 Uhr, Schloss Bellevue


    Wir passieren die Sicherheitskontrolle im Bundespräsidialamt und gehen über die Freitreppe ins Schloss. Vor und hinter uns andere "Bürgerinnen und Bürger". Verdiente. Engagierte. Nette und Spannende, wie sich herausstellen wird. Wir sitzen im Großen Saal des Schlosses und werden freundlich begrüßt und instruiert. So wird es morgen ablaufen: Alphabetische Aufstellung, durch Salon A bewegen wir uns in Richtung des Langhans-Saales. Wenn der Protokollchef unsere Namen und den Grund unserer Einladung verliest, sollen wir den Saal betreten. Zu unserer Linken die Pressetribüne mit Kameraleuten und Fotographen, zur Rechten Herr Bundespräsident und Frau Schadt. Herr Bundespräsident wird uns begrüßen, ebenso Frau Schadt. Wir sollen uns zwischen die beiden stellen und mittig nach vorne schauen. Dort sitzen die Fotographen des Bundespresseamtes, die das offizielle Foto schießen. Bitte daran denken. Immer noch vorne. Nach den Fotos und eventuell einigen wenigen Sätzen verlassen Sie den Saal auf der anderen Seite und betreten Salon B. Dort werden Getränke und Häppchen gereicht ... Nach wirklich angenehmen zwei Stunden Information und Kennenlernen verlassen wir das Schloss. Morgen wird es ernst ...


    Freitag, 8. Januar, 9.00 Uhr


    Ein Bus bringt uns vom Hotel zum Schloss. Alle sehen anders aus als gestern. Bis auf den Herrn aus N. Der trug gestern schon einen teuren Anzug. Wir betreten das Schloss über einen roten Teppich. Total real und absolut unwirklich. Das Schloss, die Räume, die Mitarbeiter des Bundespräsidialamtes - alles seit gestern vertraut. Kaum im Schloss, geht es los: Die Aufstellung klappt problemlos, der Alphabetisierungsgrad der Eingeladenen scheint hoch zu sein. Nur noch wenige Meter bis Gauck. Die Handtasche wird Mrs. Churchill abgenommen, die Namensschilder abgelegt. Wegen des Fotos. Schon sind wir dran. "Ein gutes Neues Jahr" wünscht der Präsident meiner Frau, mich heißt er "herzlich willkommen". Ich erwidere irgendetwas, schon stehen wir zwischen dem Präsidenten und Frau Schadt. Mrs. Churchill neben ihm, ich neben ihr. Ich schaue mittig nach vorne. Frau Schadt spricht mich äußerst charmant von der Seite an. Ich antworte freundlich. Glaube ich. Schaue weiter mittig nach vorne. Versuche ein Lächeln fürs Foto. Sekunden später finden wir uns in Salon B wieder. Da ist auch schon die Handtasche. Namensschilder wieder anlegen. Es ist 10.30 Uhr. Gerne nehme ich den Sekt.


    12.30 Uhr


    Nach den Bürgern die Offiziellen. Herr Gauck und Frau Schadt schütteln fast drei Stunden lang Hände, lächeln freundlich, lassen sich fotographieren. Eine tolle Kondition, die der Mittsiebziger beweist. Die meisten Ehrenamtler stehen in Gruppen zusammen und unterhalten sich untereinander. Ich habe mir im hinteren Teil von Salon B einen Stehtisch mit gutem Überblick gesichert. Jetzt kommt Bewegung in die Meute. Die Kanzlerin und ein Teil des Kabinetts lassen sich im Langhans-Saal mit dem Präsidenten fotographieren. Als sie zusammen den Salon betreten, werden sie von ehrenamtlichen Handyfotographen belagert. Steinmeier unterhält sich freundlich mit einigen älteren und jüngeren Damen, Schwesig wirkt jung zwischen den Kollegen und achtet auf ihren Babybauch, Gröhe und Wanka bewegen sich weitgehend unbeachtet durch die Reihen. Die Kanzlerin verbringt die nächsten Minuten als bereitwilliges Model. Selfies mit der Kanzlerin sind die Regel. Mir kommen Bilder von Bahnhöfen in den Sinn. Sie ist hier freundlich und war es dort ...
    Ich bleibe an meinem Stehtisch und beobachte das Geschehen, während meine Frau sich mit vielen anderen Menschen unterhält. Altmeier wird von Hintze angesprochen, wendet sich an die Kanzlerin, deren Selfielächeln kurz gefriert. Es sind keine einfachen Zeiten. Die Kanzlerin hat in dieser Umgebung keine Chance auf eine Armlänge Abstand ...


    13.00 Uhr


    Die Promis sind wieder weg, der Präsident lädt die Bürgerinnen und Bürger zu Tisch. Zuerst die Rede. Er redet frei und gerne und gut. Wir fühlen uns willkommen und geehrt. Das Essen ist hervorragend, die Atmosphäre festlich und frei zugleich. Nach dem Essen noch der Stehkaffee. Viele Bürgerinnen und Bürger lassen sich vom Hausherrn ein Autogramm auf die Menükarte geben. Ich verkünde am Tisch, dass ich davon ausgehe, dass der Präsident fähig ist, seinen Namen zu schreiben und verzichte auf die diesbezügliche Überprüfung. Stattdessen ein bisschen Smalltalk mit der sehr angenehmen und charmanten Frau Schadt. Am Ausgang liegt das Foto bereit. Frau Schadt schaut mich freundlich an. Ich grinse mittig nach vorne.


    14.50 Uhr, 20.00 Uhr, Samstag, Sonntag


    Wir haben das Schloss verlassen und fahren zur Landesvertretung des Saarlands in Berlin. Anschließend beginnt der private Teil des Wochenendes. Das Musical "Hinterm Horizont" begeistert uns, am nächsten Abend als gelungener Kontrast das Kabarett "Distel". Der Besuch im Schloss entfernt sich zeitlich. Irgendwie bleibt er unwirklich. Ist es politisch erlaubt, das Erlebnis unkritisch genossen zu haben?
    Egal. Es war spannend und schillernd und schön.


    p.s. Die Saarbrücker Zeitung druckte das offizielle Foto in schlechter Auflösung und schrieb von sieben Pflegekindern. BILD Saarland brachte das Zivilfoto vom Flughafen und schrieb von zwanzig Pflegekindern. Was ist Wahrheit ...?

    „Streite niemals mit dummen Leuten. Sie werden dich auf ihr Level runterziehen und dich dort mit Erfahrung schlagen.“ (Mark Twain)

  • Ein klasse Bericht, danke churchill !


    Schön, dass Ihr Euren Berlin Aufenthalt so genießen konntet. Im Übrigen ziehe ich den Hut vor Euch..... mit ebenfalls 3 eigenen Kindern weiß ich, was für eine Arbeit Ihr über die Jahre geleistet habt. :anbet



    Zitat

    Original von Lumos


    Und ich hoffe, dass du deinen Kopf inzwischen auch wieder anders ausrichten kannst als "mittig" :grin.


    Das habe ich auch so gedacht. :lache

  • Das ist ja mal ein Ding!
    Danke für den Bericht und schließe mich an - eine wohlverdiente Ehrung!

    With love in your eyes and a flame in your heart you're gonna find yourself some resolution.


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  • Mensch, das war ja richtig aufregend. So nah kommt man dem Weltgeschehen nur selten, von daher darf man das auch unkritisch geniessen. Schön dass ihr eine tolle Zeit hattet, das habt ihr auf jeden Fall verdient!

  • Wer auf so lange Zeit soviel leistet hat sich solch eine Ehrung wahrhaftig verdient. Schön, dass ihr so einen tollen Tag hattet. Der Bericht entschädigt uns fürs nicht dabei sein. :grin

  • Eine gute Sache, vorbildliche Menschen, ein toller Bericht. Ihr habt die Anerkennung echt verdient. :anbet Das mit dem "mittig nach vorne ausrichten" dürftest du ab jetzt auf jedem Eulentreffen zu Hören bekommen :grin

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    "Es hat alles seine Stunde und ein jedes seine Zeit, denn wir gehören dem Jetzt und nicht der Ewigkeit."

  • Danke für den Bericht. Ihr habt euch diese Ehrung sowas von verdient. Sehen wir den Anzug beim nächsten Eulentreffen? Bittebittebitte!

    Ship me somewhere's east of Suez,
    where the best is like the worst,
    where there aren't no ten commandments
    an' a man can raise a thirst


    Kipling

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